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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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II. Versuch. Ueber das Gefühl,
für sie schicket. Dieß bringet ein Verhältniß der Kraft
gegen den Eindruck hervor, das vorhero nicht vorhan-
den war, und es entstehet ein Vergnügen an solchen Em-
pfindungen, oder in dem entgegengesetzten Fall ein Miß-
vergnügen, das anfangs in dem Vorurtheil, der Asso-
ciation und der Uebertragung, jetzo aber auch selbst in der
Empfindung gegründet ist. Die übertragene Lust oder
Unlust hatte die Kräfte der Seele vorbereitet, um die
Empfindung genießen zu können, und es trägt sich oft
zu, daß diese Empfänglichkeit des Gemüthes, die auf
solche Art durch ein vergesellschaftetes fremdes Empfind-
niß entstanden ist, sich auf einmal festsetze und in eine
fortdaurende Fertigkeit auf eine ähnliche Art von einer
ähnlichen Sache gerühret zu werden, übergehe. Die
Aufmerksamkeit des fähigen Knabens auf sein A. B. C.
kann zuerst durch den Kuchen gereizet worden seyn, den
der Lehrer als eine Belohnung auf das Erlernen gesetzet
hat. Aber die einmal so gereizte, gestimmte und auf
das Fassen der Buchstaben gerichtete Vorstellungskraft
findet nicht nur diese seine Beschäftigung selbst seinen
Kräften angemessen, sondern behält auch für die Zukunft
die eingedruckte Fertigkeit, sich mit gleicher Jntension
mit dieser Arbeit zu befassen. Alsdenn bestehet dieser
Geschmack auch in der Folge, und kann durch jeden neu-
en glücklichen Fortgang vergrößert werden. Jn allen
solchen Fällen ist es indessen eben so leicht zu unterschei-
den, ob wir etwas um sein selbst willen lieben, oder nur
um etwas andern willen, als es leicht ist, zu unterschei-
den, ob wir etwas aus eigener Einsicht glauben, oder
um eines fremden Zeugnisses willen, das uns anfangs
auf die Sache aufmerksam gemacht, und um deswillen
wir sie schon vorhero für richtig und wahr gehalten
hatten.

Es giebt noch mehrere Kennzeichen, die eine von
andern übertragene Rührung von der eigenthümlichen

und

II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
fuͤr ſie ſchicket. Dieß bringet ein Verhaͤltniß der Kraft
gegen den Eindruck hervor, das vorhero nicht vorhan-
den war, und es entſtehet ein Vergnuͤgen an ſolchen Em-
pfindungen, oder in dem entgegengeſetzten Fall ein Miß-
vergnuͤgen, das anfangs in dem Vorurtheil, der Aſſo-
ciation und der Uebertragung, jetzo aber auch ſelbſt in der
Empfindung gegruͤndet iſt. Die uͤbertragene Luſt oder
Unluſt hatte die Kraͤfte der Seele vorbereitet, um die
Empfindung genießen zu koͤnnen, und es traͤgt ſich oft
zu, daß dieſe Empfaͤnglichkeit des Gemuͤthes, die auf
ſolche Art durch ein vergeſellſchaftetes fremdes Empfind-
niß entſtanden iſt, ſich auf einmal feſtſetze und in eine
fortdaurende Fertigkeit auf eine aͤhnliche Art von einer
aͤhnlichen Sache geruͤhret zu werden, uͤbergehe. Die
Aufmerkſamkeit des faͤhigen Knabens auf ſein A. B. C.
kann zuerſt durch den Kuchen gereizet worden ſeyn, den
der Lehrer als eine Belohnung auf das Erlernen geſetzet
hat. Aber die einmal ſo gereizte, geſtimmte und auf
das Faſſen der Buchſtaben gerichtete Vorſtellungskraft
findet nicht nur dieſe ſeine Beſchaͤftigung ſelbſt ſeinen
Kraͤften angemeſſen, ſondern behaͤlt auch fuͤr die Zukunft
die eingedruckte Fertigkeit, ſich mit gleicher Jntenſion
mit dieſer Arbeit zu befaſſen. Alsdenn beſtehet dieſer
Geſchmack auch in der Folge, und kann durch jeden neu-
en gluͤcklichen Fortgang vergroͤßert werden. Jn allen
ſolchen Faͤllen iſt es indeſſen eben ſo leicht zu unterſchei-
den, ob wir etwas um ſein ſelbſt willen lieben, oder nur
um etwas andern willen, als es leicht iſt, zu unterſchei-
den, ob wir etwas aus eigener Einſicht glauben, oder
um eines fremden Zeugniſſes willen, das uns anfangs
auf die Sache aufmerkſam gemacht, und um deswillen
wir ſie ſchon vorhero fuͤr richtig und wahr gehalten
hatten.

Es giebt noch mehrere Kennzeichen, die eine von
andern uͤbertragene Ruͤhrung von der eigenthuͤmlichen

und
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[236/0296] II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl, fuͤr ſie ſchicket. Dieß bringet ein Verhaͤltniß der Kraft gegen den Eindruck hervor, das vorhero nicht vorhan- den war, und es entſtehet ein Vergnuͤgen an ſolchen Em- pfindungen, oder in dem entgegengeſetzten Fall ein Miß- vergnuͤgen, das anfangs in dem Vorurtheil, der Aſſo- ciation und der Uebertragung, jetzo aber auch ſelbſt in der Empfindung gegruͤndet iſt. Die uͤbertragene Luſt oder Unluſt hatte die Kraͤfte der Seele vorbereitet, um die Empfindung genießen zu koͤnnen, und es traͤgt ſich oft zu, daß dieſe Empfaͤnglichkeit des Gemuͤthes, die auf ſolche Art durch ein vergeſellſchaftetes fremdes Empfind- niß entſtanden iſt, ſich auf einmal feſtſetze und in eine fortdaurende Fertigkeit auf eine aͤhnliche Art von einer aͤhnlichen Sache geruͤhret zu werden, uͤbergehe. Die Aufmerkſamkeit des faͤhigen Knabens auf ſein A. B. C. kann zuerſt durch den Kuchen gereizet worden ſeyn, den der Lehrer als eine Belohnung auf das Erlernen geſetzet hat. Aber die einmal ſo gereizte, geſtimmte und auf das Faſſen der Buchſtaben gerichtete Vorſtellungskraft findet nicht nur dieſe ſeine Beſchaͤftigung ſelbſt ſeinen Kraͤften angemeſſen, ſondern behaͤlt auch fuͤr die Zukunft die eingedruckte Fertigkeit, ſich mit gleicher Jntenſion mit dieſer Arbeit zu befaſſen. Alsdenn beſtehet dieſer Geſchmack auch in der Folge, und kann durch jeden neu- en gluͤcklichen Fortgang vergroͤßert werden. Jn allen ſolchen Faͤllen iſt es indeſſen eben ſo leicht zu unterſchei- den, ob wir etwas um ſein ſelbſt willen lieben, oder nur um etwas andern willen, als es leicht iſt, zu unterſchei- den, ob wir etwas aus eigener Einſicht glauben, oder um eines fremden Zeugniſſes willen, das uns anfangs auf die Sache aufmerkſam gemacht, und um deswillen wir ſie ſchon vorhero fuͤr richtig und wahr gehalten hatten. Es giebt noch mehrere Kennzeichen, die eine von andern uͤbertragene Ruͤhrung von der eigenthuͤmlichen und

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/296>, abgerufen am 22.11.2024.