auch in vielen Fällen ein Vorrath von Vorstellungen und Jdeen, der in der Seele vorhanden sey muß, ehe die er- foderliche Empfänglichkeit und Empfindsamkeit vorhan- den ist. So sehen wir an den zarten Kindern, daß sie in Hinsicht vieler Eindrücke von außen unempfindlich und gefühllos sind, in Vergleichung mit dem Grade von Em- pfindlichkeit, den sie nachhero erlangen. Sie hören die eindringendeste Musik; man sieht sie davon gerühret, aber bey weitem nicht so, wie in dem folgenden Alter, wenn ihre Empfindsamkeit sich mehr entwickelt hat.
Jn dem Fall, wovon hier die Rede, wird es vorausge- setzet, daß die erfoderliche Empfänglichkeit in der Seele vorhanden sey. Wenn alsdenn harmonische Töne gefal- len, so ist es das Objektivische, in der Empfindung, so viel nemlich von der Einwirkung des Objekts abhänget, was die Gemüthsbewegung hervorbringet, indem es auf die Empfindungskraft und den sonstigen Zustand der Seele auf eine angemessene Art zuwirket. Da ist also keine fremde Sache, kein fremder Eindruck, etwann eine Empfindung des Geschmacks, der mit jener Ge- hörsempfindung verbunden seyn, und ihr eine afficiren- de Kraft mittheilen dörfe. Wenn einem Liebenden der Weg angenehm ist, der zu der Wohnung seiner Gelieb- ten hinführet, so sieht man bald, daß dieß Gefallen an ei- ner Art gleichgültiger Sachen anders woher entstehet; aber man kommt doch, wenn man weiter fortgehet, end- lich auf Empfindungen, die für sich selbst allein gefallen, und Grundempfindnisse, oder Grundrührungen sind.
Aber nun in dem ganzen Jnbegrif der menschlichen Empfindungen -- und ich erinnere es hier von neuen, daß ich alle Arten von Modifikationen der Seele, die in uns gefühlt werden, nur Vorstellungen ausgenommen, darunter begreife -- welche Empfindnisse sind denn ur- sprüngliche Grundempfindnisse? dieß ist die vielbedeu-
tende
II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
auch in vielen Faͤllen ein Vorrath von Vorſtellungen und Jdeen, der in der Seele vorhanden ſey muß, ehe die er- foderliche Empfaͤnglichkeit und Empfindſamkeit vorhan- den iſt. So ſehen wir an den zarten Kindern, daß ſie in Hinſicht vieler Eindruͤcke von außen unempfindlich und gefuͤhllos ſind, in Vergleichung mit dem Grade von Em- pfindlichkeit, den ſie nachhero erlangen. Sie hoͤren die eindringendeſte Muſik; man ſieht ſie davon geruͤhret, aber bey weitem nicht ſo, wie in dem folgenden Alter, wenn ihre Empfindſamkeit ſich mehr entwickelt hat.
Jn dem Fall, wovon hier die Rede, wird es vorausge- ſetzet, daß die erfoderliche Empfaͤnglichkeit in der Seele vorhanden ſey. Wenn alsdenn harmoniſche Toͤne gefal- len, ſo iſt es das Objektiviſche, in der Empfindung, ſo viel nemlich von der Einwirkung des Objekts abhaͤnget, was die Gemuͤthsbewegung hervorbringet, indem es auf die Empfindungskraft und den ſonſtigen Zuſtand der Seele auf eine angemeſſene Art zuwirket. Da iſt alſo keine fremde Sache, kein fremder Eindruck, etwann eine Empfindung des Geſchmacks, der mit jener Ge- hoͤrsempfindung verbunden ſeyn, und ihr eine afficiren- de Kraft mittheilen doͤrfe. Wenn einem Liebenden der Weg angenehm iſt, der zu der Wohnung ſeiner Gelieb- ten hinfuͤhret, ſo ſieht man bald, daß dieß Gefallen an ei- ner Art gleichguͤltiger Sachen anders woher entſtehet; aber man kommt doch, wenn man weiter fortgehet, end- lich auf Empfindungen, die fuͤr ſich ſelbſt allein gefallen, und Grundempfindniſſe, oder Grundruͤhrungen ſind.
Aber nun in dem ganzen Jnbegrif der menſchlichen Empfindungen — und ich erinnere es hier von neuen, daß ich alle Arten von Modifikationen der Seele, die in uns gefuͤhlt werden, nur Vorſtellungen ausgenommen, darunter begreife — welche Empfindniſſe ſind denn ur- ſpruͤngliche Grundempfindniſſe? dieß iſt die vielbedeu-
tende
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II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
auch in vielen Faͤllen ein Vorrath von Vorſtellungen und
Jdeen, der in der Seele vorhanden ſey muß, ehe die er-
foderliche Empfaͤnglichkeit und Empfindſamkeit vorhan-
den iſt. So ſehen wir an den zarten Kindern, daß ſie
in Hinſicht vieler Eindruͤcke von außen unempfindlich und
gefuͤhllos ſind, in Vergleichung mit dem Grade von Em-
pfindlichkeit, den ſie nachhero erlangen. Sie hoͤren die
eindringendeſte Muſik; man ſieht ſie davon geruͤhret,
aber bey weitem nicht ſo, wie in dem folgenden Alter,
wenn ihre Empfindſamkeit ſich mehr entwickelt hat.
Jn dem Fall, wovon hier die Rede, wird es vorausge-
ſetzet, daß die erfoderliche Empfaͤnglichkeit in der Seele
vorhanden ſey. Wenn alsdenn harmoniſche Toͤne gefal-
len, ſo iſt es das Objektiviſche, in der Empfindung, ſo
viel nemlich von der Einwirkung des Objekts abhaͤnget,
was die Gemuͤthsbewegung hervorbringet, indem es
auf die Empfindungskraft und den ſonſtigen Zuſtand
der Seele auf eine angemeſſene Art zuwirket. Da iſt
alſo keine fremde Sache, kein fremder Eindruck, etwann
eine Empfindung des Geſchmacks, der mit jener Ge-
hoͤrsempfindung verbunden ſeyn, und ihr eine afficiren-
de Kraft mittheilen doͤrfe. Wenn einem Liebenden der
Weg angenehm iſt, der zu der Wohnung ſeiner Gelieb-
ten hinfuͤhret, ſo ſieht man bald, daß dieß Gefallen an ei-
ner Art gleichguͤltiger Sachen anders woher entſtehet;
aber man kommt doch, wenn man weiter fortgehet, end-
lich auf Empfindungen, die fuͤr ſich ſelbſt allein gefallen,
und Grundempfindniſſe, oder Grundruͤhrungen
ſind.
Aber nun in dem ganzen Jnbegrif der menſchlichen
Empfindungen — und ich erinnere es hier von neuen,
daß ich alle Arten von Modifikationen der Seele, die in
uns gefuͤhlt werden, nur Vorſtellungen ausgenommen,
darunter begreife — welche Empfindniſſe ſind denn ur-
ſpruͤngliche Grundempfindniſſe? dieß iſt die vielbedeu-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/284>, abgerufen am 22.12.2024.
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