Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.II. Versuch. Ueber das Gefühl, Empfindung des afficirenden Objekts nur eigentlich dastatt findet, wo von Empfindungen die Rede ist, die für sich allein und unmittelbar jene Beschaffenheit, durch welche sie Empfindnisse sind, an sich haben. Die- selbigen Eindrücke bringen noch andere Veränderungen hervor oder veranlassen solche, die man zu ihren natürli- chen und unmittelbaren Wirkungen nicht rechnen kann. Solche Modificirungen, die nur mittelbar aus ihnen ent- stehen, und die sie veranlassen, die Reproduktiones der Phantasie, und die sich dadurch associirende wollüstige oder fürchterliche Jdeen; dieses Kolorit der Empfindun- gen; die Aufwallungen der Triebe und Leidenschaften, die Ungedult und dergleichen Zusätze und Ergießungen des Rührenden mehr, können entweder zurückgehalten, und die Empfindung in den Grenzen der Empfindung eingeschrenket, oder ihren freyen Lauf behalten und beför- dert werden. Der Koch, der die Speise kostet, um sie zu beurtheilen, empfindet sie auf dieselbige Art, wie der Wollüstling, und findet sie seinem Geschmack gemäß, wie dieser. Allein dadurch, daß er seinem Gefühl eine gewisse Spannung giebt, als ein Beobachter, um mehr das Eigene des Eindrucks gewahrzunehmen, als das Vergnügen aus derselben in sich zu ziehen, so ist auch das Empfindniß in ihm nicht so lebhaft, obgleich die Em- pfindung als Empfindung schärfer und feiner ist, als bey dem andern, der die Speise auf seiner Zunge länger er- hält, seine Fibern in die angemessenste Spannung gegen den Eindruck zu setzen suchet, sich dem Gefühl des Wohl- geschmacks in dieser Lage überläßt, und die ganze kitzeln- de Wollust, die darinn lieger, heraus zu saugen weiß. Bey dem ersten ist die Empfindung mehr Empfindung des Gegenstandes; bey dem letztern ist sie mehr ein Ge- fühl. Die Wunde schmerzet, wenn anders natürliche Empfindlichkeit vorhanden ist. Dieß ist nicht abzuän- dern; aber Gedult und Stärke der Seele kann den Schmerz
II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl, Empfindung des afficirenden Objekts nur eigentlich daſtatt findet, wo von Empfindungen die Rede iſt, die fuͤr ſich allein und unmittelbar jene Beſchaffenheit, durch welche ſie Empfindniſſe ſind, an ſich haben. Die- ſelbigen Eindruͤcke bringen noch andere Veraͤnderungen hervor oder veranlaſſen ſolche, die man zu ihren natuͤrli- chen und unmittelbaren Wirkungen nicht rechnen kann. Solche Modificirungen, die nur mittelbar aus ihnen ent- ſtehen, und die ſie veranlaſſen, die Reproduktiones der Phantaſie, und die ſich dadurch aſſociirende wolluͤſtige oder fuͤrchterliche Jdeen; dieſes Kolorit der Empfindun- gen; die Aufwallungen der Triebe und Leidenſchaften, die Ungedult und dergleichen Zuſaͤtze und Ergießungen des Ruͤhrenden mehr, koͤnnen entweder zuruͤckgehalten, und die Empfindung in den Grenzen der Empfindung eingeſchrenket, oder ihren freyen Lauf behalten und befoͤr- dert werden. Der Koch, der die Speiſe koſtet, um ſie zu beurtheilen, empfindet ſie auf dieſelbige Art, wie der Wolluͤſtling, und findet ſie ſeinem Geſchmack gemaͤß, wie dieſer. Allein dadurch, daß er ſeinem Gefuͤhl eine gewiſſe Spannung giebt, als ein Beobachter, um mehr das Eigene des Eindrucks gewahrzunehmen, als das Vergnuͤgen aus derſelben in ſich zu ziehen, ſo iſt auch das Empfindniß in ihm nicht ſo lebhaft, obgleich die Em- pfindung als Empfindung ſchaͤrfer und feiner iſt, als bey dem andern, der die Speiſe auf ſeiner Zunge laͤnger er- haͤlt, ſeine Fibern in die angemeſſenſte Spannung gegen den Eindruck zu ſetzen ſuchet, ſich dem Gefuͤhl des Wohl- geſchmacks in dieſer Lage uͤberlaͤßt, und die ganze kitzeln- de Wolluſt, die darinn lieger, heraus zu ſaugen weiß. Bey dem erſten iſt die Empfindung mehr Empfindung des Gegenſtandes; bey dem letztern iſt ſie mehr ein Ge- fuͤhl. Die Wunde ſchmerzet, wenn anders natuͤrliche Empfindlichkeit vorhanden iſt. Dieß iſt nicht abzuaͤn- dern; aber Gedult und Staͤrke der Seele kann den Schmerz
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II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
Empfindung des afficirenden Objekts nur eigentlich da
ſtatt findet, wo von Empfindungen die Rede iſt, die
fuͤr ſich allein und unmittelbar jene Beſchaffenheit,
durch welche ſie Empfindniſſe ſind, an ſich haben. Die-
ſelbigen Eindruͤcke bringen noch andere Veraͤnderungen
hervor oder veranlaſſen ſolche, die man zu ihren natuͤrli-
chen und unmittelbaren Wirkungen nicht rechnen kann.
Solche Modificirungen, die nur mittelbar aus ihnen ent-
ſtehen, und die ſie veranlaſſen, die Reproduktiones der
Phantaſie, und die ſich dadurch aſſociirende wolluͤſtige
oder fuͤrchterliche Jdeen; dieſes Kolorit der Empfindun-
gen; die Aufwallungen der Triebe und Leidenſchaften, die
Ungedult und dergleichen Zuſaͤtze und Ergießungen des
Ruͤhrenden mehr, koͤnnen entweder zuruͤckgehalten, und
die Empfindung in den Grenzen der Empfindung
eingeſchrenket, oder ihren freyen Lauf behalten und befoͤr-
dert werden. Der Koch, der die Speiſe koſtet, um ſie
zu beurtheilen, empfindet ſie auf dieſelbige Art, wie der
Wolluͤſtling, und findet ſie ſeinem Geſchmack gemaͤß,
wie dieſer. Allein dadurch, daß er ſeinem Gefuͤhl eine
gewiſſe Spannung giebt, als ein Beobachter, um mehr
das Eigene des Eindrucks gewahrzunehmen, als das
Vergnuͤgen aus derſelben in ſich zu ziehen, ſo iſt auch das
Empfindniß in ihm nicht ſo lebhaft, obgleich die Em-
pfindung als Empfindung ſchaͤrfer und feiner iſt, als bey
dem andern, der die Speiſe auf ſeiner Zunge laͤnger er-
haͤlt, ſeine Fibern in die angemeſſenſte Spannung gegen
den Eindruck zu ſetzen ſuchet, ſich dem Gefuͤhl des Wohl-
geſchmacks in dieſer Lage uͤberlaͤßt, und die ganze kitzeln-
de Wolluſt, die darinn lieger, heraus zu ſaugen weiß.
Bey dem erſten iſt die Empfindung mehr Empfindung
des Gegenſtandes; bey dem letztern iſt ſie mehr ein Ge-
fuͤhl. Die Wunde ſchmerzet, wenn anders natuͤrliche
Empfindlichkeit vorhanden iſt. Dieß iſt nicht abzuaͤn-
dern; aber Gedult und Staͤrke der Seele kann den
Schmerz
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