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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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II. Versuch. Ueber das Gefühl,
handen sind, und doch bleibet Beyfall und Ueberzeu-
gung zurück, blos weil es an einem Grad von Lebhaftig-
keit in dem Gefühl der Beziehungen fehlet, der zur Er-
regung des Verstandes erfodert wird. Es giebt einen
Eigensinn des Verstandes, wie des Willens. Wie die-
ser letztere den vernünftigen und starken Bewegungs-
gründen den Gedanken entgegen zu stellen weiß, daß es
doch besser sey, zu beweisen, daß man einen eigenen Wil-
len habe, und unabhängig sey; so kann auch der skepti-
sche Verstand gegen alle Ueberzeugungsgründe sich durch
die Vorstellung halten, es sey doch sicherer, nicht zu glau-
ben, weil vielleicht die scheinbare große Evidenz nur ein
Blendwerk seyn möchte. Dadurch unterdrücket er das
Gefühl, was sonsten den Beyfall hervorbringet, oder
hält seine Wirkung zurück. Jo so ferne hänget es auch
oft von unserm eigenen Bemühen ab, ob wir durch
Gründe überzeuget werden wollen; so wie es von uns ab-
hänget, ob wir durch gültige Objektivische Bewegungs-
gründe zur Handlung uns bestimmen oder bestimmen las-
sen wollen? Oft ist es eine Erschlaffung des Verstandes,
die, wenn wir auch gerne wollen, uns dennoch die Stär-
ke der Gründe nicht fühlen, und Glaubensfestigkeit er-
langen lässet. Ein Fehler, in den diejenigen verfallen,
die anfangs aus übertriebener Sorgfalt bey der Untersu-
chung es gewohnt geworden sind, auch gegen auffallende
Gründe für die Wahrheit ihren Beyfall zurück zu halten.
Jn den Fibern des Verstandes ist es, wie in den Fibern
des Körpers. Eine zu starke Erschlaffung ist die Folge
von einem vorhergegangenen zu starken krampfhaften Zu-
sammenziehen.

Soviel habe ich hier von dem Gefühl des Wahren
erweisen wollen. Es giebt in uns eine absolute Modi-
fikation in der Denkkraft, die alsdenn gefühlet werden
kann, und gefühlet wird, wenn wir sagen: wir fühlen,
daß etwas wahr oder daß etwas falsch sey. Diese Em-

pfindung

II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
handen ſind, und doch bleibet Beyfall und Ueberzeu-
gung zuruͤck, blos weil es an einem Grad von Lebhaftig-
keit in dem Gefuͤhl der Beziehungen fehlet, der zur Er-
regung des Verſtandes erfodert wird. Es giebt einen
Eigenſinn des Verſtandes, wie des Willens. Wie die-
ſer letztere den vernuͤnftigen und ſtarken Bewegungs-
gruͤnden den Gedanken entgegen zu ſtellen weiß, daß es
doch beſſer ſey, zu beweiſen, daß man einen eigenen Wil-
len habe, und unabhaͤngig ſey; ſo kann auch der ſkepti-
ſche Verſtand gegen alle Ueberzeugungsgruͤnde ſich durch
die Vorſtellung halten, es ſey doch ſicherer, nicht zu glau-
ben, weil vielleicht die ſcheinbare große Evidenz nur ein
Blendwerk ſeyn moͤchte. Dadurch unterdruͤcket er das
Gefuͤhl, was ſonſten den Beyfall hervorbringet, oder
haͤlt ſeine Wirkung zuruͤck. Jo ſo ferne haͤnget es auch
oft von unſerm eigenen Bemuͤhen ab, ob wir durch
Gruͤnde uͤberzeuget werden wollen; ſo wie es von uns ab-
haͤnget, ob wir durch guͤltige Objektiviſche Bewegungs-
gruͤnde zur Handlung uns beſtimmen oder beſtimmen laſ-
ſen wollen? Oft iſt es eine Erſchlaffung des Verſtandes,
die, wenn wir auch gerne wollen, uns dennoch die Staͤr-
ke der Gruͤnde nicht fuͤhlen, und Glaubensfeſtigkeit er-
langen laͤſſet. Ein Fehler, in den diejenigen verfallen,
die anfangs aus uͤbertriebener Sorgfalt bey der Unterſu-
chung es gewohnt geworden ſind, auch gegen auffallende
Gruͤnde fuͤr die Wahrheit ihren Beyfall zuruͤck zu halten.
Jn den Fibern des Verſtandes iſt es, wie in den Fibern
des Koͤrpers. Eine zu ſtarke Erſchlaffung iſt die Folge
von einem vorhergegangenen zu ſtarken krampfhaften Zu-
ſammenziehen.

Soviel habe ich hier von dem Gefuͤhl des Wahren
erweiſen wollen. Es giebt in uns eine abſolute Modi-
fikation in der Denkkraft, die alsdenn gefuͤhlet werden
kann, und gefuͤhlet wird, wenn wir ſagen: wir fuͤhlen,
daß etwas wahr oder daß etwas falſch ſey. Dieſe Em-

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[204/0264] II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl, handen ſind, und doch bleibet Beyfall und Ueberzeu- gung zuruͤck, blos weil es an einem Grad von Lebhaftig- keit in dem Gefuͤhl der Beziehungen fehlet, der zur Er- regung des Verſtandes erfodert wird. Es giebt einen Eigenſinn des Verſtandes, wie des Willens. Wie die- ſer letztere den vernuͤnftigen und ſtarken Bewegungs- gruͤnden den Gedanken entgegen zu ſtellen weiß, daß es doch beſſer ſey, zu beweiſen, daß man einen eigenen Wil- len habe, und unabhaͤngig ſey; ſo kann auch der ſkepti- ſche Verſtand gegen alle Ueberzeugungsgruͤnde ſich durch die Vorſtellung halten, es ſey doch ſicherer, nicht zu glau- ben, weil vielleicht die ſcheinbare große Evidenz nur ein Blendwerk ſeyn moͤchte. Dadurch unterdruͤcket er das Gefuͤhl, was ſonſten den Beyfall hervorbringet, oder haͤlt ſeine Wirkung zuruͤck. Jo ſo ferne haͤnget es auch oft von unſerm eigenen Bemuͤhen ab, ob wir durch Gruͤnde uͤberzeuget werden wollen; ſo wie es von uns ab- haͤnget, ob wir durch guͤltige Objektiviſche Bewegungs- gruͤnde zur Handlung uns beſtimmen oder beſtimmen laſ- ſen wollen? Oft iſt es eine Erſchlaffung des Verſtandes, die, wenn wir auch gerne wollen, uns dennoch die Staͤr- ke der Gruͤnde nicht fuͤhlen, und Glaubensfeſtigkeit er- langen laͤſſet. Ein Fehler, in den diejenigen verfallen, die anfangs aus uͤbertriebener Sorgfalt bey der Unterſu- chung es gewohnt geworden ſind, auch gegen auffallende Gruͤnde fuͤr die Wahrheit ihren Beyfall zuruͤck zu halten. Jn den Fibern des Verſtandes iſt es, wie in den Fibern des Koͤrpers. Eine zu ſtarke Erſchlaffung iſt die Folge von einem vorhergegangenen zu ſtarken krampfhaften Zu- ſammenziehen. Soviel habe ich hier von dem Gefuͤhl des Wahren erweiſen wollen. Es giebt in uns eine abſolute Modi- fikation in der Denkkraft, die alsdenn gefuͤhlet werden kann, und gefuͤhlet wird, wenn wir ſagen: wir fuͤhlen, daß etwas wahr oder daß etwas falſch ſey. Dieſe Em- pfindung

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/264>, abgerufen am 24.11.2024.