Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.II. Versuch. Ueber das Gefühl, weniger auf dieß Gefühl, als auf das nachfolgende Ur-theil acht gehabt. Dieses mag denen, welche mit einem schärferen Selbstgefühl begabet sind, als ich, vielleicht so bald und so klar auffallen, daß sie bey dem ersten Rück- blick in sich darüber zur Gewißheit gelangen. Für mich aber gestehe ich, daß ich nicht eher von aller Sorge, durch Einbildungen hier geblendet zu werden, befreyet worden bin, als bis ich einige mit Fleiß angestellte Beobachtungen sorgfältig geprüfet, und eine Art von psychologischen Versuchen darüber gemacht habe. Zu dem Ende suchte ich zwey Empfindungsvorstellungen aus, die so wenig als möglich mit meinen sonstigen Jdeen in Verbindung waren. Jch nahm z. B. zwey arabische Buchstaben, die in einer Reihe von einander entfernet stunden, und verglich sie mit einander. Es fand sich allemal, daß ich nicht nur von jedem dieser Charaktere einen besondern Eindruck erhielte, sondern daß ich auch etwas besonders in mir fühlte, wenn die Augen von dem Einen zum andern übergingen. Dieß letztere Gefühl des Uebergangs nahm ich nur alsdenn erst gewahr, wenn ich schon vorher die sinnlichen Eindrücke selbst einigemal in mir mit einander hatte abwechseln lassen. Zwischen den beiden Eindrücken, die ich, ohne mich bey den dar- zwischenstehenden Buchstaben außuhalten, auf einander folgen ließ, fühlte ich jedesmal eine Veränderung in der Richtung des Gefühls; und diese Veränderung fühlte ich auf eben die Art, wie ich einen andern innern Ein- druck fühle, der durch die Sinne entstehet. Je mehr die nachfolgende Vorstellung von der vorhergehenden ver- schieden war, desto stärker und völliger war das Gefühl von dieser Modifikation. Wenn man solche gleichgül- tige Empfindungen zum Versuche nimmt, wie ich hier gethan hatte, so hat man den Vortheil, daß die Phan- tasie nicht leicht fremde Bilder dazwischen bringet, und die Beobachtung störet. Aber auf der andern Seite ist auch
II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl, weniger auf dieß Gefuͤhl, als auf das nachfolgende Ur-theil acht gehabt. Dieſes mag denen, welche mit einem ſchaͤrferen Selbſtgefuͤhl begabet ſind, als ich, vielleicht ſo bald und ſo klar auffallen, daß ſie bey dem erſten Ruͤck- blick in ſich daruͤber zur Gewißheit gelangen. Fuͤr mich aber geſtehe ich, daß ich nicht eher von aller Sorge, durch Einbildungen hier geblendet zu werden, befreyet worden bin, als bis ich einige mit Fleiß angeſtellte Beobachtungen ſorgfaͤltig gepruͤfet, und eine Art von pſychologiſchen Verſuchen daruͤber gemacht habe. Zu dem Ende ſuchte ich zwey Empfindungsvorſtellungen aus, die ſo wenig als moͤglich mit meinen ſonſtigen Jdeen in Verbindung waren. Jch nahm z. B. zwey arabiſche Buchſtaben, die in einer Reihe von einander entfernet ſtunden, und verglich ſie mit einander. Es fand ſich allemal, daß ich nicht nur von jedem dieſer Charaktere einen beſondern Eindruck erhielte, ſondern daß ich auch etwas beſonders in mir fuͤhlte, wenn die Augen von dem Einen zum andern uͤbergingen. Dieß letztere Gefuͤhl des Uebergangs nahm ich nur alsdenn erſt gewahr, wenn ich ſchon vorher die ſinnlichen Eindruͤcke ſelbſt einigemal in mir mit einander hatte abwechſeln laſſen. Zwiſchen den beiden Eindruͤcken, die ich, ohne mich bey den dar- zwiſchenſtehenden Buchſtaben auſzuhalten, auf einander folgen ließ, fuͤhlte ich jedesmal eine Veraͤnderung in der Richtung des Gefuͤhls; und dieſe Veraͤnderung fuͤhlte ich auf eben die Art, wie ich einen andern innern Ein- druck fuͤhle, der durch die Sinne entſtehet. Je mehr die nachfolgende Vorſtellung von der vorhergehenden ver- ſchieden war, deſto ſtaͤrker und voͤlliger war das Gefuͤhl von dieſer Modifikation. Wenn man ſolche gleichguͤl- tige Empfindungen zum Verſuche nimmt, wie ich hier gethan hatte, ſo hat man den Vortheil, daß die Phan- taſie nicht leicht fremde Bilder dazwiſchen bringet, und die Beobachtung ſtoͤret. Aber auf der andern Seite iſt auch
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II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
weniger auf dieß Gefuͤhl, als auf das nachfolgende Ur-
theil acht gehabt. Dieſes mag denen, welche mit einem
ſchaͤrferen Selbſtgefuͤhl begabet ſind, als ich, vielleicht
ſo bald und ſo klar auffallen, daß ſie bey dem erſten Ruͤck-
blick in ſich daruͤber zur Gewißheit gelangen. Fuͤr mich
aber geſtehe ich, daß ich nicht eher von aller Sorge,
durch Einbildungen hier geblendet zu werden, befreyet
worden bin, als bis ich einige mit Fleiß angeſtellte
Beobachtungen ſorgfaͤltig gepruͤfet, und eine Art von
pſychologiſchen Verſuchen daruͤber gemacht habe. Zu
dem Ende ſuchte ich zwey Empfindungsvorſtellungen aus,
die ſo wenig als moͤglich mit meinen ſonſtigen Jdeen in
Verbindung waren. Jch nahm z. B. zwey arabiſche
Buchſtaben, die in einer Reihe von einander entfernet
ſtunden, und verglich ſie mit einander. Es fand ſich
allemal, daß ich nicht nur von jedem dieſer Charaktere
einen beſondern Eindruck erhielte, ſondern daß ich auch
etwas beſonders in mir fuͤhlte, wenn die Augen von dem
Einen zum andern uͤbergingen. Dieß letztere Gefuͤhl
des Uebergangs nahm ich nur alsdenn erſt gewahr, wenn
ich ſchon vorher die ſinnlichen Eindruͤcke ſelbſt einigemal
in mir mit einander hatte abwechſeln laſſen. Zwiſchen
den beiden Eindruͤcken, die ich, ohne mich bey den dar-
zwiſchenſtehenden Buchſtaben auſzuhalten, auf einander
folgen ließ, fuͤhlte ich jedesmal eine Veraͤnderung in der
Richtung des Gefuͤhls; und dieſe Veraͤnderung fuͤhlte
ich auf eben die Art, wie ich einen andern innern Ein-
druck fuͤhle, der durch die Sinne entſtehet. Je mehr
die nachfolgende Vorſtellung von der vorhergehenden ver-
ſchieden war, deſto ſtaͤrker und voͤlliger war das Gefuͤhl
von dieſer Modifikation. Wenn man ſolche gleichguͤl-
tige Empfindungen zum Verſuche nimmt, wie ich hier
gethan hatte, ſo hat man den Vortheil, daß die Phan-
taſie nicht leicht fremde Bilder dazwiſchen bringet, und
die Beobachtung ſtoͤret. Aber auf der andern Seite iſt
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