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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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I. Versuch. Ueber die Natur
letztern neuen Vorstellungen eine Vorstellung von einem
blau und von einem gelbgefärbten Körper seyn müssen,
so wie der erste verwirrte Schein eine Vorstellung von
einem grünen Körper war.

So lange ein solcher herausgezogener Schein noch
nicht auf eine eigene Art wieder vollständig gemacht wor-
den ist, so lange ist er auch kein für sich bestehender ab-
gesonderter Schein. So lange ist es also auch nach dem
Gesetz der Association nothwendig, daß die Phantasie,
wenn sie ihn wieder hervorziehet, zugleich eine als die
andere von den ganzen Empfindungsvorstellungen wieder
darstelle, aus denen er gezogen ist. Diese Nothwen-
digkeit fällt aber weg, wenn der neue Schein seine eige-
ne Konsistenz erhalten hat.

Und diese erlangen die geometrischen Scheine am
leichtsten. Jch denke jetzo an einen Triangel und halte
diese Vorstellung in mir gegenwärtig, so lange ich will,
ohne daß ich genöthiget wäre, an eine dieser Figuren,
die ich auf der Tafel, oder auf Papier, oder sonsten wo
gesehen habe, zurück zu denken, ob mir gleich diese bey
der Fortsetzung jener Vorstellung einfallen. Jch habe
mir nemlich statt ihrer eine nie gesehene Gestalt des Tri-
angels in meinem Kopf selbst gemacht; ich stelle ihn mir
in meinem Zimmer vor, und setze seine drey Spitzen an
die drey Wände meines Zimmers.

Außer der Geometrie leisten uns die Wörter, aber
auf eine weniger vollkommene Art, dieselbigen Dienste.
Diese Zeichen unserer allgemeinen Jdeen sind selbst voll-
ständige Empfindungsvorstellungen; und mit diesen ver-
binden wir die ausgemerkten Vorstellungen von Kraft,
Bewegung, Figur, Stärke, Glück u. s. w. Aber so
bald wir diese Zeichen verlassen, so fehlen uns andere
substanzielle Grundlagen, um der Vorstellung die Ge-
stalt der bestehenden Empfindungsscheine zu ertheilen.
Daher fallen uns, wenn wir die allgemeinen Begriffe

anschau-

I. Verſuch. Ueber die Natur
letztern neuen Vorſtellungen eine Vorſtellung von einem
blau und von einem gelbgefaͤrbten Koͤrper ſeyn muͤſſen,
ſo wie der erſte verwirrte Schein eine Vorſtellung von
einem gruͤnen Koͤrper war.

So lange ein ſolcher herausgezogener Schein noch
nicht auf eine eigene Art wieder vollſtaͤndig gemacht wor-
den iſt, ſo lange iſt er auch kein fuͤr ſich beſtehender ab-
geſonderter Schein. So lange iſt es alſo auch nach dem
Geſetz der Aſſociation nothwendig, daß die Phantaſie,
wenn ſie ihn wieder hervorziehet, zugleich eine als die
andere von den ganzen Empfindungsvorſtellungen wieder
darſtelle, aus denen er gezogen iſt. Dieſe Nothwen-
digkeit faͤllt aber weg, wenn der neue Schein ſeine eige-
ne Konſiſtenz erhalten hat.

Und dieſe erlangen die geometriſchen Scheine am
leichtſten. Jch denke jetzo an einen Triangel und halte
dieſe Vorſtellung in mir gegenwaͤrtig, ſo lange ich will,
ohne daß ich genoͤthiget waͤre, an eine dieſer Figuren,
die ich auf der Tafel, oder auf Papier, oder ſonſten wo
geſehen habe, zuruͤck zu denken, ob mir gleich dieſe bey
der Fortſetzung jener Vorſtellung einfallen. Jch habe
mir nemlich ſtatt ihrer eine nie geſehene Geſtalt des Tri-
angels in meinem Kopf ſelbſt gemacht; ich ſtelle ihn mir
in meinem Zimmer vor, und ſetze ſeine drey Spitzen an
die drey Waͤnde meines Zimmers.

Außer der Geometrie leiſten uns die Woͤrter, aber
auf eine weniger vollkommene Art, dieſelbigen Dienſte.
Dieſe Zeichen unſerer allgemeinen Jdeen ſind ſelbſt voll-
ſtaͤndige Empfindungsvorſtellungen; und mit dieſen ver-
binden wir die ausgemerkten Vorſtellungen von Kraft,
Bewegung, Figur, Staͤrke, Gluͤck u. ſ. w. Aber ſo
bald wir dieſe Zeichen verlaſſen, ſo fehlen uns andere
ſubſtanzielle Grundlagen, um der Vorſtellung die Ge-
ſtalt der beſtehenden Empfindungsſcheine zu ertheilen.
Daher fallen uns, wenn wir die allgemeinen Begriffe

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[134/0194] I. Verſuch. Ueber die Natur letztern neuen Vorſtellungen eine Vorſtellung von einem blau und von einem gelbgefaͤrbten Koͤrper ſeyn muͤſſen, ſo wie der erſte verwirrte Schein eine Vorſtellung von einem gruͤnen Koͤrper war. So lange ein ſolcher herausgezogener Schein noch nicht auf eine eigene Art wieder vollſtaͤndig gemacht wor- den iſt, ſo lange iſt er auch kein fuͤr ſich beſtehender ab- geſonderter Schein. So lange iſt es alſo auch nach dem Geſetz der Aſſociation nothwendig, daß die Phantaſie, wenn ſie ihn wieder hervorziehet, zugleich eine als die andere von den ganzen Empfindungsvorſtellungen wieder darſtelle, aus denen er gezogen iſt. Dieſe Nothwen- digkeit faͤllt aber weg, wenn der neue Schein ſeine eige- ne Konſiſtenz erhalten hat. Und dieſe erlangen die geometriſchen Scheine am leichtſten. Jch denke jetzo an einen Triangel und halte dieſe Vorſtellung in mir gegenwaͤrtig, ſo lange ich will, ohne daß ich genoͤthiget waͤre, an eine dieſer Figuren, die ich auf der Tafel, oder auf Papier, oder ſonſten wo geſehen habe, zuruͤck zu denken, ob mir gleich dieſe bey der Fortſetzung jener Vorſtellung einfallen. Jch habe mir nemlich ſtatt ihrer eine nie geſehene Geſtalt des Tri- angels in meinem Kopf ſelbſt gemacht; ich ſtelle ihn mir in meinem Zimmer vor, und ſetze ſeine drey Spitzen an die drey Waͤnde meines Zimmers. Außer der Geometrie leiſten uns die Woͤrter, aber auf eine weniger vollkommene Art, dieſelbigen Dienſte. Dieſe Zeichen unſerer allgemeinen Jdeen ſind ſelbſt voll- ſtaͤndige Empfindungsvorſtellungen; und mit dieſen ver- binden wir die ausgemerkten Vorſtellungen von Kraft, Bewegung, Figur, Staͤrke, Gluͤck u. ſ. w. Aber ſo bald wir dieſe Zeichen verlaſſen, ſo fehlen uns andere ſubſtanzielle Grundlagen, um der Vorſtellung die Ge- ſtalt der beſtehenden Empfindungsſcheine zu ertheilen. Daher fallen uns, wenn wir die allgemeinen Begriffe anſchau-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/194>, abgerufen am 27.11.2024.