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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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der Vorstellungen.
nem Koch die Jngredienzen einer Speise vor, die er
selbst niemals gekostet hat. Er urtheilet aus den Vor-
stellungen von jenen sogleich, wie das Gemische aus ih-
rer Zusammensetzung etwan schmecken müsse, und ma-
chet sich zum voraus eine einzelne Vorstellung vor der
Empfindung, die der nachher hinzukommenden Empfin-
dung und ihrer Einbildung nicht ganz unähnlich ist.
Ein Komponist höret gewissermaßen schon zum voraus
den Ton, den die Verbindung einiger ihm bekannten
Jnstrumente hervorbringen wird. Die vorlaufende Fik-
tion ist eine Vermischung der ihm bekannten Phantas-
men in eine neue verwirrte Vorstellung, die von seinen
einzelnen Empfindungsvorstellungen unterschieden ist.

Jch habe die lambertsche Farbenpyramide vor
mir genommen, um ähnliche psychologische Versuche zu
machen. Jch nahm die Bilder zweyer Farbenflächen z. E.
roth und blau, und blau und grün, und versuchte beide
diese Flächen in der Vorstellung auf einander zu legen,
und so innig als möglich war, zu vermischen, dabey
ich die mittlere Farbe auf der Tafel vor dem Auge be-
decket hielt. Jch gestehe, es kam niemals in meinem
Kopf ein solches Bild heraus, als die mittlere Farbe auf
der Pyramide war, wenn ich diese nachher ansahe und
sie mit jener Einbildung verglich. Die Vorstellung von
dem Gelben und von dem Blauen konnte ich nicht so zu-
sammenbringen, daß sie in Eine Fiktion von Grünen,
als der Zwischenfarbe übergegangen wären. Dieß ge-
schahe nicht; aber so viel war es auch nicht, was ich er-
wartete. Denn dazu, daß aus der Vermischung der
Farben außer uns eine neue Mittelfarbe entstehet, ist
es nicht genug, daß einfache Farben vermischet werden,
sondern es kommt außerdieß auf das Verhältniß an, in
welchem man sie nimmt. Und da konnte ich von meiner
Phantasie es nicht fodern, daß sie die gelbe und die blaue
Fläche, oder die rothe und die blaue, jede in dem Grade

der

der Vorſtellungen.
nem Koch die Jngredienzen einer Speiſe vor, die er
ſelbſt niemals gekoſtet hat. Er urtheilet aus den Vor-
ſtellungen von jenen ſogleich, wie das Gemiſche aus ih-
rer Zuſammenſetzung etwan ſchmecken muͤſſe, und ma-
chet ſich zum voraus eine einzelne Vorſtellung vor der
Empfindung, die der nachher hinzukommenden Empfin-
dung und ihrer Einbildung nicht ganz unaͤhnlich iſt.
Ein Komponiſt hoͤret gewiſſermaßen ſchon zum voraus
den Ton, den die Verbindung einiger ihm bekannten
Jnſtrumente hervorbringen wird. Die vorlaufende Fik-
tion iſt eine Vermiſchung der ihm bekannten Phantas-
men in eine neue verwirrte Vorſtellung, die von ſeinen
einzelnen Empfindungsvorſtellungen unterſchieden iſt.

Jch habe die lambertſche Farbenpyramide vor
mir genommen, um aͤhnliche pſychologiſche Verſuche zu
machen. Jch nahm die Bilder zweyer Farbenflaͤchen z. E.
roth und blau, und blau und gruͤn, und verſuchte beide
dieſe Flaͤchen in der Vorſtellung auf einander zu legen,
und ſo innig als moͤglich war, zu vermiſchen, dabey
ich die mittlere Farbe auf der Tafel vor dem Auge be-
decket hielt. Jch geſtehe, es kam niemals in meinem
Kopf ein ſolches Bild heraus, als die mittlere Farbe auf
der Pyramide war, wenn ich dieſe nachher anſahe und
ſie mit jener Einbildung verglich. Die Vorſtellung von
dem Gelben und von dem Blauen konnte ich nicht ſo zu-
ſammenbringen, daß ſie in Eine Fiktion von Gruͤnen,
als der Zwiſchenfarbe uͤbergegangen waͤren. Dieß ge-
ſchahe nicht; aber ſo viel war es auch nicht, was ich er-
wartete. Denn dazu, daß aus der Vermiſchung der
Farben außer uns eine neue Mittelfarbe entſtehet, iſt
es nicht genug, daß einfache Farben vermiſchet werden,
ſondern es kommt außerdieß auf das Verhaͤltniß an, in
welchem man ſie nimmt. Und da konnte ich von meiner
Phantaſie es nicht fodern, daß ſie die gelbe und die blaue
Flaͤche, oder die rothe und die blaue, jede in dem Grade

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[123/0183] der Vorſtellungen. nem Koch die Jngredienzen einer Speiſe vor, die er ſelbſt niemals gekoſtet hat. Er urtheilet aus den Vor- ſtellungen von jenen ſogleich, wie das Gemiſche aus ih- rer Zuſammenſetzung etwan ſchmecken muͤſſe, und ma- chet ſich zum voraus eine einzelne Vorſtellung vor der Empfindung, die der nachher hinzukommenden Empfin- dung und ihrer Einbildung nicht ganz unaͤhnlich iſt. Ein Komponiſt hoͤret gewiſſermaßen ſchon zum voraus den Ton, den die Verbindung einiger ihm bekannten Jnſtrumente hervorbringen wird. Die vorlaufende Fik- tion iſt eine Vermiſchung der ihm bekannten Phantas- men in eine neue verwirrte Vorſtellung, die von ſeinen einzelnen Empfindungsvorſtellungen unterſchieden iſt. Jch habe die lambertſche Farbenpyramide vor mir genommen, um aͤhnliche pſychologiſche Verſuche zu machen. Jch nahm die Bilder zweyer Farbenflaͤchen z. E. roth und blau, und blau und gruͤn, und verſuchte beide dieſe Flaͤchen in der Vorſtellung auf einander zu legen, und ſo innig als moͤglich war, zu vermiſchen, dabey ich die mittlere Farbe auf der Tafel vor dem Auge be- decket hielt. Jch geſtehe, es kam niemals in meinem Kopf ein ſolches Bild heraus, als die mittlere Farbe auf der Pyramide war, wenn ich dieſe nachher anſahe und ſie mit jener Einbildung verglich. Die Vorſtellung von dem Gelben und von dem Blauen konnte ich nicht ſo zu- ſammenbringen, daß ſie in Eine Fiktion von Gruͤnen, als der Zwiſchenfarbe uͤbergegangen waͤren. Dieß ge- ſchahe nicht; aber ſo viel war es auch nicht, was ich er- wartete. Denn dazu, daß aus der Vermiſchung der Farben außer uns eine neue Mittelfarbe entſtehet, iſt es nicht genug, daß einfache Farben vermiſchet werden, ſondern es kommt außerdieß auf das Verhaͤltniß an, in welchem man ſie nimmt. Und da konnte ich von meiner Phantaſie es nicht fodern, daß ſie die gelbe und die blaue Flaͤche, oder die rothe und die blaue, jede in dem Grade der

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/183>, abgerufen am 27.11.2024.