Wenn man die Beobachtungen über die sogenann- ten zufälligen oder Scheinfarben erwäget, so hat man offenbare Beweise, daß in uns gewisse neue Schei- ne oder Bilder von Objekten entstehen. Hier entstehen sie zwar während der Nachempfindung, und haben ihren Grund in gewissen Veränderungen der Sinnglieder; aber sie hangen von der Beschaffenheit der gefärbten Kör- per und von der Beschaffenheit des auffallenden Lichts auf die Augen nicht so ab, wie die sonstigen Empfindun- gen, und sind auch bey dem gewöhnlichen Anschauen der Objekte nicht vorhanden. Sie entspringen aus einer Auflösung und Verwirrung der sinnlichen Eindrücke, die in dem Auge selbst vor sich gehet. Nur Eins zum Bey- spiel anzuführen. Wenn das Auge bis zum Ermüden ununterbrochen auf ein rothgefärbtes Quadrat, das auf einem weißen Grunde lieget, gerichtet gewesen ist, so er- scheinet um die Figur des Quadrats herum die Gestalt eines schwachen grün gefärbten Umzuges; und wendet man alsdenn das Auge von der rothen Fläche auf den weißen Grund hin, so erscheinet ein Viereck von einer schwachen grünen Farbe vor uns, das desto länger beste- het, je lebhafter der Eindruck von dem rothen Viereck vorher gewesen ist. Wird diese Beobachtung mit an-
dern
Uebereinstimmungen und Entgegensetzungen, Beyeinan- derseyn und Getrennetseyn, Zugleichseyn, Vorange- hen, Nachfolgen, Verursachung und Abhängigkeit, überhaupt, wo sie Jdentitäten, Koexistenzen und De- pendenzen in den Vorstellungen bemerket, da müssen es denn auch dieselbigen Verhältnisse seyn, nach welchen die Phantasie die Vorstellungen wieder erwecket. Hier ist die Dichtkraft nicht anders als die Phantasie nach einer gewissen Richtung hingestimmet. Die neuen Jdeenverknüpfungen kommen also so zu Stande, wie die von der Denkkraft gedachte Verhältnisse der Jdeen es mit sich bringen. Aber dieß ist noch das Eigene des schaffenden Vermögens nicht, wovon hier die Frage ist.
I. Verſuch. Ueber die Natur
Wenn man die Beobachtungen uͤber die ſogenann- ten zufaͤlligen oder Scheinfarben erwaͤget, ſo hat man offenbare Beweiſe, daß in uns gewiſſe neue Schei- ne oder Bilder von Objekten entſtehen. Hier entſtehen ſie zwar waͤhrend der Nachempfindung, und haben ihren Grund in gewiſſen Veraͤnderungen der Sinnglieder; aber ſie hangen von der Beſchaffenheit der gefaͤrbten Koͤr- per und von der Beſchaffenheit des auffallenden Lichts auf die Augen nicht ſo ab, wie die ſonſtigen Empfindun- gen, und ſind auch bey dem gewoͤhnlichen Anſchauen der Objekte nicht vorhanden. Sie entſpringen aus einer Aufloͤſung und Verwirrung der ſinnlichen Eindruͤcke, die in dem Auge ſelbſt vor ſich gehet. Nur Eins zum Bey- ſpiel anzufuͤhren. Wenn das Auge bis zum Ermuͤden ununterbrochen auf ein rothgefaͤrbtes Quadrat, das auf einem weißen Grunde lieget, gerichtet geweſen iſt, ſo er- ſcheinet um die Figur des Quadrats herum die Geſtalt eines ſchwachen gruͤn gefaͤrbten Umzuges; und wendet man alsdenn das Auge von der rothen Flaͤche auf den weißen Grund hin, ſo erſcheinet ein Viereck von einer ſchwachen gruͤnen Farbe vor uns, das deſto laͤnger beſte- het, je lebhafter der Eindruck von dem rothen Viereck vorher geweſen iſt. Wird dieſe Beobachtung mit an-
dern
Uebereinſtimmungen und Entgegenſetzungen, Beyeinan- derſeyn und Getrennetſeyn, Zugleichſeyn, Vorange- hen, Nachfolgen, Verurſachung und Abhaͤngigkeit, uͤberhaupt, wo ſie Jdentitaͤten, Koexiſtenzen und De- pendenzen in den Vorſtellungen bemerket, da muͤſſen es denn auch dieſelbigen Verhaͤltniſſe ſeyn, nach welchen die Phantaſie die Vorſtellungen wieder erwecket. Hier iſt die Dichtkraft nicht anders als die Phantaſie nach einer gewiſſen Richtung hingeſtimmet. Die neuen Jdeenverknuͤpfungen kommen alſo ſo zu Stande, wie die von der Denkkraft gedachte Verhaͤltniſſe der Jdeen es mit ſich bringen. Aber dieß iſt noch das Eigene des ſchaffenden Vermoͤgens nicht, wovon hier die Frage iſt.
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I. Verſuch. Ueber die Natur
Wenn man die Beobachtungen uͤber die ſogenann-
ten zufaͤlligen oder Scheinfarben erwaͤget, ſo hat
man offenbare Beweiſe, daß in uns gewiſſe neue Schei-
ne oder Bilder von Objekten entſtehen. Hier entſtehen
ſie zwar waͤhrend der Nachempfindung, und haben ihren
Grund in gewiſſen Veraͤnderungen der Sinnglieder;
aber ſie hangen von der Beſchaffenheit der gefaͤrbten Koͤr-
per und von der Beſchaffenheit des auffallenden Lichts
auf die Augen nicht ſo ab, wie die ſonſtigen Empfindun-
gen, und ſind auch bey dem gewoͤhnlichen Anſchauen der
Objekte nicht vorhanden. Sie entſpringen aus einer
Aufloͤſung und Verwirrung der ſinnlichen Eindruͤcke, die
in dem Auge ſelbſt vor ſich gehet. Nur Eins zum Bey-
ſpiel anzufuͤhren. Wenn das Auge bis zum Ermuͤden
ununterbrochen auf ein rothgefaͤrbtes Quadrat, das auf
einem weißen Grunde lieget, gerichtet geweſen iſt, ſo er-
ſcheinet um die Figur des Quadrats herum die Geſtalt
eines ſchwachen gruͤn gefaͤrbten Umzuges; und wendet
man alsdenn das Auge von der rothen Flaͤche auf den
weißen Grund hin, ſo erſcheinet ein Viereck von einer
ſchwachen gruͤnen Farbe vor uns, das deſto laͤnger beſte-
het, je lebhafter der Eindruck von dem rothen Viereck
vorher geweſen iſt. Wird dieſe Beobachtung mit an-
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*) Uebereinſtimmungen und Entgegenſetzungen, Beyeinan-
derſeyn und Getrennetſeyn, Zugleichſeyn, Vorange-
hen, Nachfolgen, Verurſachung und Abhaͤngigkeit,
uͤberhaupt, wo ſie Jdentitaͤten, Koexiſtenzen und De-
pendenzen in den Vorſtellungen bemerket, da muͤſſen es
denn auch dieſelbigen Verhaͤltniſſe ſeyn, nach welchen
die Phantaſie die Vorſtellungen wieder erwecket. Hier
iſt die Dichtkraft nicht anders als die Phantaſie nach
einer gewiſſen Richtung hingeſtimmet. Die neuen
Jdeenverknuͤpfungen kommen alſo ſo zu Stande, wie
die von der Denkkraft gedachte Verhaͤltniſſe der Jdeen
es mit ſich bringen. Aber dieß iſt noch das Eigene des
ſchaffenden Vermoͤgens nicht, wovon hier die Frage iſt.
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/180>, abgerufen am 24.11.2024.
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