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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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I. Versuch. Ueber die Natur
Selbstmacht der Seele die Empfindungsvorstellungen
vermischen und aus dieser Vermischung neue sinnliche
Bilder hervorbringen, wie ein Maler aus der Vermi-
schung der Farben neue Farben machet? Wie weit
kann sie der Natur und den Chemisten in der Auflösung
nachkommen? wie weit also neue verwirrte Scheine her-
vorbringen, die für uns einfach sind, wie einfache Em-
pfindungsvorstellungen, und doch nicht in der Gewalt,
so wie sie da sind, aus den Empfindungen geholet wor-
den sind?

2.

Die Psychologen erklären gemeiniglich das Dichten
durch ein bloßes Zertheilen und Wiederzusammen-
setzen
der Vorstellungen, die in den Empfindungen
aufgenommen, und wieder hervorgezogen sind. Aber
sollte dieß das Eigene der Fictionen ganz ausmachen?
Wenn es so ist, so ist auch das Dichten nichts anders
als ein bloßes Stellversetzen der Phantasmen; so wer-
den dadurch keine neue für unser Bewußtseyn einfache
Vorstellungen entstehen können. Nach dieser Voraus-
setzung muß jeder selbstgebildeter sinnlicher Schein, wenn
man ihn in die einzelnen Theile zerleget, die durch
Reflexion unterschieden werden können, aus lauter Stü-
cken bestehen, die so einzeln genommen, reine Einbil-
dungen, oder erneuerte Empfindungsvorstellungen sind.
Die Vorstellung von dem Pegasus ist ein Bild von einem
geflügelten Pferde. Wir haben das Bild von einem
Pferde aus der Empfindung, und das Bild von den
Flügeln auch. Beyde sind reine Phantasmen, die von
andern Vorstellungen abgesondert, und hier in dem Bil-
de des Pegasus mit einander verbunden sind. Jn so
weit ist dieses nichts, als eine Wirkung der Phantasie,
die nur ihre empfangnen einzelen Empfindungsvorstel-
lungen, welche sie hie und da her aus andern Verbin-

dungen

I. Verſuch. Ueber die Natur
Selbſtmacht der Seele die Empfindungsvorſtellungen
vermiſchen und aus dieſer Vermiſchung neue ſinnliche
Bilder hervorbringen, wie ein Maler aus der Vermi-
ſchung der Farben neue Farben machet? Wie weit
kann ſie der Natur und den Chemiſten in der Aufloͤſung
nachkommen? wie weit alſo neue verwirrte Scheine her-
vorbringen, die fuͤr uns einfach ſind, wie einfache Em-
pfindungsvorſtellungen, und doch nicht in der Gewalt,
ſo wie ſie da ſind, aus den Empfindungen geholet wor-
den ſind?

2.

Die Pſychologen erklaͤren gemeiniglich das Dichten
durch ein bloßes Zertheilen und Wiederzuſammen-
ſetzen
der Vorſtellungen, die in den Empfindungen
aufgenommen, und wieder hervorgezogen ſind. Aber
ſollte dieß das Eigene der Fictionen ganz ausmachen?
Wenn es ſo iſt, ſo iſt auch das Dichten nichts anders
als ein bloßes Stellverſetzen der Phantasmen; ſo wer-
den dadurch keine neue fuͤr unſer Bewußtſeyn einfache
Vorſtellungen entſtehen koͤnnen. Nach dieſer Voraus-
ſetzung muß jeder ſelbſtgebildeter ſinnlicher Schein, wenn
man ihn in die einzelnen Theile zerleget, die durch
Reflexion unterſchieden werden koͤnnen, aus lauter Stuͤ-
cken beſtehen, die ſo einzeln genommen, reine Einbil-
dungen, oder erneuerte Empfindungsvorſtellungen ſind.
Die Vorſtellung von dem Pegaſus iſt ein Bild von einem
gefluͤgelten Pferde. Wir haben das Bild von einem
Pferde aus der Empfindung, und das Bild von den
Fluͤgeln auch. Beyde ſind reine Phantasmen, die von
andern Vorſtellungen abgeſondert, und hier in dem Bil-
de des Pegaſus mit einander verbunden ſind. Jn ſo
weit iſt dieſes nichts, als eine Wirkung der Phantaſie,
die nur ihre empfangnen einzelen Empfindungsvorſtel-
lungen, welche ſie hie und da her aus andern Verbin-

dungen
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[116/0176] I. Verſuch. Ueber die Natur Selbſtmacht der Seele die Empfindungsvorſtellungen vermiſchen und aus dieſer Vermiſchung neue ſinnliche Bilder hervorbringen, wie ein Maler aus der Vermi- ſchung der Farben neue Farben machet? Wie weit kann ſie der Natur und den Chemiſten in der Aufloͤſung nachkommen? wie weit alſo neue verwirrte Scheine her- vorbringen, die fuͤr uns einfach ſind, wie einfache Em- pfindungsvorſtellungen, und doch nicht in der Gewalt, ſo wie ſie da ſind, aus den Empfindungen geholet wor- den ſind? 2. Die Pſychologen erklaͤren gemeiniglich das Dichten durch ein bloßes Zertheilen und Wiederzuſammen- ſetzen der Vorſtellungen, die in den Empfindungen aufgenommen, und wieder hervorgezogen ſind. Aber ſollte dieß das Eigene der Fictionen ganz ausmachen? Wenn es ſo iſt, ſo iſt auch das Dichten nichts anders als ein bloßes Stellverſetzen der Phantasmen; ſo wer- den dadurch keine neue fuͤr unſer Bewußtſeyn einfache Vorſtellungen entſtehen koͤnnen. Nach dieſer Voraus- ſetzung muß jeder ſelbſtgebildeter ſinnlicher Schein, wenn man ihn in die einzelnen Theile zerleget, die durch Reflexion unterſchieden werden koͤnnen, aus lauter Stuͤ- cken beſtehen, die ſo einzeln genommen, reine Einbil- dungen, oder erneuerte Empfindungsvorſtellungen ſind. Die Vorſtellung von dem Pegaſus iſt ein Bild von einem gefluͤgelten Pferde. Wir haben das Bild von einem Pferde aus der Empfindung, und das Bild von den Fluͤgeln auch. Beyde ſind reine Phantasmen, die von andern Vorſtellungen abgeſondert, und hier in dem Bil- de des Pegaſus mit einander verbunden ſind. Jn ſo weit iſt dieſes nichts, als eine Wirkung der Phantaſie, die nur ihre empfangnen einzelen Empfindungsvorſtel- lungen, welche ſie hie und da her aus andern Verbin- dungen

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/176>, abgerufen am 18.12.2024.