Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der Vorstellungen.
kommen, andere von einander abgerissen werden, die
es vorher nicht gewesen sind. Sollen etwan alle diese
neuen selbstthätigen Associationen mit zu den Empfin-
dungen, die dazwischen kommen, etwan zu den Empfin-
dungen des innern Sinnes gerechnet werden, von denen
man voraus angenommen hat, daß auf sie keine Rück-
sicht genommen werde? Wenn dieß ist, so heißet jene
Regel der Jdeenfolge so viel: die Jdeen werden wie-
derum erwecket, nach ihrer Aehnlichkeit oder nach ihrer
Koexistenz, wenn nichts dazwischen kommt. Aber die-
ses Wenn ist ein Wenn, das Ausnahmen zuläßt,
die vielleicht zur Regel gemacht, und das was Regel ist,
so gut als Ausnahme angesehen werden muß.

Die durch die verschiedenen Vermögen der Seele,
durch ihr Gefühl, ihre bildende Dichtkraft, die Refle-
xion und andere, alle Augenblicke hervorgebrachte Ver-
bindungen, erfolgen jede nach ihren eigenen Gesetzen.
Denn jedes Seelenvermögen beobachtet ein gewisses Ge-
setz, so oft es wirksam ist, und auch die schaffende Dicht-
kraft beobachtet die ihrigen, wenn sie neue Jdeen her-
vorbringet. Diese Gesetze können einzeln aus den Be-
obachtungen erkannt werden, wie es von den Psycholo-
gen zum Theil schon geschehen ist. Aber da nun alle
Vermögen, jedes nach seiner Regel in Verbindung sind,
und in dieser Verbindung wirken, wessen Verstand ist
groß genug, diese besondern Regeln in Eine allgemeine
zusammen zu fassen, durch welche die wahre Folge der
Vorstellungen bey einem gegebenen Jdeenvorrath und
bey den gegebenen damaligen Empfindungen bestimmet
werden könnte? Die einzelnen Ursachen, welche Wind
und Wetter abändern, und ihre Arten zu wirken sind
bekannt. Aber die Naturkündiger sind noch weit von
dem allgemeinen Gesetz entfernt, wonach sich die Be-
schaffenheit der veränderlichen Witterung in unsern Ge-
genden berechnen ließe. Die Gesetze der Attraktion

kennet
I. Band. H

der Vorſtellungen.
kommen, andere von einander abgeriſſen werden, die
es vorher nicht geweſen ſind. Sollen etwan alle dieſe
neuen ſelbſtthaͤtigen Aſſociationen mit zu den Empfin-
dungen, die dazwiſchen kommen, etwan zu den Empfin-
dungen des innern Sinnes gerechnet werden, von denen
man voraus angenommen hat, daß auf ſie keine Ruͤck-
ſicht genommen werde? Wenn dieß iſt, ſo heißet jene
Regel der Jdeenfolge ſo viel: die Jdeen werden wie-
derum erwecket, nach ihrer Aehnlichkeit oder nach ihrer
Koexiſtenz, wenn nichts dazwiſchen kommt. Aber die-
ſes Wenn iſt ein Wenn, das Ausnahmen zulaͤßt,
die vielleicht zur Regel gemacht, und das was Regel iſt,
ſo gut als Ausnahme angeſehen werden muß.

Die durch die verſchiedenen Vermoͤgen der Seele,
durch ihr Gefuͤhl, ihre bildende Dichtkraft, die Refle-
xion und andere, alle Augenblicke hervorgebrachte Ver-
bindungen, erfolgen jede nach ihren eigenen Geſetzen.
Denn jedes Seelenvermoͤgen beobachtet ein gewiſſes Ge-
ſetz, ſo oft es wirkſam iſt, und auch die ſchaffende Dicht-
kraft beobachtet die ihrigen, wenn ſie neue Jdeen her-
vorbringet. Dieſe Geſetze koͤnnen einzeln aus den Be-
obachtungen erkannt werden, wie es von den Pſycholo-
gen zum Theil ſchon geſchehen iſt. Aber da nun alle
Vermoͤgen, jedes nach ſeiner Regel in Verbindung ſind,
und in dieſer Verbindung wirken, weſſen Verſtand iſt
groß genug, dieſe beſondern Regeln in Eine allgemeine
zuſammen zu faſſen, durch welche die wahre Folge der
Vorſtellungen bey einem gegebenen Jdeenvorrath und
bey den gegebenen damaligen Empfindungen beſtimmet
werden koͤnnte? Die einzelnen Urſachen, welche Wind
und Wetter abaͤndern, und ihre Arten zu wirken ſind
bekannt. Aber die Naturkuͤndiger ſind noch weit von
dem allgemeinen Geſetz entfernt, wonach ſich die Be-
ſchaffenheit der veraͤnderlichen Witterung in unſern Ge-
genden berechnen ließe. Die Geſetze der Attraktion

kennet
I. Band. H
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0173" n="113"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der Vor&#x017F;tellungen.</hi></fw><lb/>
kommen, andere von einander abgeri&#x017F;&#x017F;en werden, die<lb/>
es vorher nicht gewe&#x017F;en &#x017F;ind. Sollen etwan alle die&#x017F;e<lb/>
neuen &#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tigen A&#x017F;&#x017F;ociationen mit zu den Empfin-<lb/>
dungen, die dazwi&#x017F;chen kommen, etwan zu den Empfin-<lb/>
dungen des innern Sinnes gerechnet werden, von denen<lb/>
man voraus angenommen hat, daß auf &#x017F;ie keine Ru&#x0364;ck-<lb/>
&#x017F;icht genommen werde? Wenn dieß i&#x017F;t, &#x017F;o heißet jene<lb/>
Regel der Jdeenfolge &#x017F;o viel: die Jdeen werden wie-<lb/>
derum erwecket, nach ihrer Aehnlichkeit oder nach ihrer<lb/>
Koexi&#x017F;tenz, wenn nichts dazwi&#x017F;chen kommt. Aber die-<lb/>
&#x017F;es <hi rendition="#fr">Wenn</hi> i&#x017F;t ein <hi rendition="#fr">Wenn,</hi> das Ausnahmen zula&#x0364;ßt,<lb/>
die vielleicht zur Regel gemacht, und das was Regel i&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;o gut als Ausnahme ange&#x017F;ehen werden muß.</p><lb/>
          <p>Die durch die ver&#x017F;chiedenen Vermo&#x0364;gen der Seele,<lb/>
durch ihr Gefu&#x0364;hl, ihre bildende Dichtkraft, die Refle-<lb/>
xion und andere, alle Augenblicke hervorgebrachte Ver-<lb/>
bindungen, erfolgen jede nach ihren eigenen Ge&#x017F;etzen.<lb/>
Denn jedes Seelenvermo&#x0364;gen beobachtet ein gewi&#x017F;&#x017F;es Ge-<lb/>
&#x017F;etz, &#x017F;o oft es wirk&#x017F;am i&#x017F;t, und auch die &#x017F;chaffende Dicht-<lb/>
kraft beobachtet die ihrigen, wenn &#x017F;ie neue Jdeen her-<lb/>
vorbringet. Die&#x017F;e Ge&#x017F;etze ko&#x0364;nnen einzeln aus den Be-<lb/>
obachtungen erkannt werden, wie es von den P&#x017F;ycholo-<lb/>
gen zum Theil &#x017F;chon ge&#x017F;chehen i&#x017F;t. Aber da nun alle<lb/>
Vermo&#x0364;gen, jedes nach &#x017F;einer Regel in Verbindung &#x017F;ind,<lb/>
und in die&#x017F;er Verbindung wirken, we&#x017F;&#x017F;en Ver&#x017F;tand i&#x017F;t<lb/>
groß genug, die&#x017F;e be&#x017F;ondern Regeln in Eine allgemeine<lb/>
zu&#x017F;ammen zu fa&#x017F;&#x017F;en, durch welche die wahre Folge der<lb/>
Vor&#x017F;tellungen bey einem gegebenen Jdeenvorrath und<lb/>
bey den gegebenen damaligen Empfindungen be&#x017F;timmet<lb/>
werden ko&#x0364;nnte? Die einzelnen Ur&#x017F;achen, welche Wind<lb/>
und Wetter aba&#x0364;ndern, und ihre Arten zu wirken &#x017F;ind<lb/>
bekannt. Aber die Naturku&#x0364;ndiger &#x017F;ind noch weit von<lb/>
dem allgemeinen Ge&#x017F;etz entfernt, wonach &#x017F;ich die Be-<lb/>
&#x017F;chaffenheit der vera&#x0364;nderlichen Witterung in un&#x017F;ern Ge-<lb/>
genden berechnen ließe. Die Ge&#x017F;etze der Attraktion<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">I.</hi><hi rendition="#fr">Band.</hi> H</fw><fw place="bottom" type="catch">kennet</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[113/0173] der Vorſtellungen. kommen, andere von einander abgeriſſen werden, die es vorher nicht geweſen ſind. Sollen etwan alle dieſe neuen ſelbſtthaͤtigen Aſſociationen mit zu den Empfin- dungen, die dazwiſchen kommen, etwan zu den Empfin- dungen des innern Sinnes gerechnet werden, von denen man voraus angenommen hat, daß auf ſie keine Ruͤck- ſicht genommen werde? Wenn dieß iſt, ſo heißet jene Regel der Jdeenfolge ſo viel: die Jdeen werden wie- derum erwecket, nach ihrer Aehnlichkeit oder nach ihrer Koexiſtenz, wenn nichts dazwiſchen kommt. Aber die- ſes Wenn iſt ein Wenn, das Ausnahmen zulaͤßt, die vielleicht zur Regel gemacht, und das was Regel iſt, ſo gut als Ausnahme angeſehen werden muß. Die durch die verſchiedenen Vermoͤgen der Seele, durch ihr Gefuͤhl, ihre bildende Dichtkraft, die Refle- xion und andere, alle Augenblicke hervorgebrachte Ver- bindungen, erfolgen jede nach ihren eigenen Geſetzen. Denn jedes Seelenvermoͤgen beobachtet ein gewiſſes Ge- ſetz, ſo oft es wirkſam iſt, und auch die ſchaffende Dicht- kraft beobachtet die ihrigen, wenn ſie neue Jdeen her- vorbringet. Dieſe Geſetze koͤnnen einzeln aus den Be- obachtungen erkannt werden, wie es von den Pſycholo- gen zum Theil ſchon geſchehen iſt. Aber da nun alle Vermoͤgen, jedes nach ſeiner Regel in Verbindung ſind, und in dieſer Verbindung wirken, weſſen Verſtand iſt groß genug, dieſe beſondern Regeln in Eine allgemeine zuſammen zu faſſen, durch welche die wahre Folge der Vorſtellungen bey einem gegebenen Jdeenvorrath und bey den gegebenen damaligen Empfindungen beſtimmet werden koͤnnte? Die einzelnen Urſachen, welche Wind und Wetter abaͤndern, und ihre Arten zu wirken ſind bekannt. Aber die Naturkuͤndiger ſind noch weit von dem allgemeinen Geſetz entfernt, wonach ſich die Be- ſchaffenheit der veraͤnderlichen Witterung in unſern Ge- genden berechnen ließe. Die Geſetze der Attraktion kennet I. Band. H

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/173
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/173>, abgerufen am 22.11.2024.