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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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der Vorstellungen.
thätigkeiten, von Gemüthsbewegungen und Handlun-
gen sind für uns Bilder von gleichartigen Modifikatio-
nen anderer Menschen und anderer denkenden und em-
pfindsamen Wesen. Ein Vater stellet sich vermittelst sei-
nes eigenen Gefühls es vor, was Vaterfreude über Kin-
der Wohl bey einem andern sey u. s. w.

Dennoch ist bey aller Verschiedenartigkeit der Vor-
stellungen von äußern Gegenständen, und der Gegen-
stände selbst, diese Beziehung zwischen ihnen, daß jene
aus der Empfindung der Gegenstände entspringen.
Die Vorstellung von der Sonne ist eine Vorstellung
aus dem Anschauen. Sie sind also Modifikationen sol-
cher Wesen, wie wir sind, welche entstehen, wenn die
Objekte ihnen gegenwärtig sind, und, vermittelst solcher
sinnlichen Werkzeuge als die unsrigen, Eindrücke auf
sie machen. Diese Vorstellungen sind daher auch keine
willkührlich gemachte Zeichen, sondern natürlich ent-
standene Abdrücke von den Objekten. So wird der
Mond empfunden, und so ein Bild bringet er in uns
hervor, wenn er gesehen wird, als die Gesichtsvorstel-
lung ist, unter der wir uns ihn einbilden.

Der blinde Saunderson hatte Vorstellungen von
den Lichtstrahlen und von ihrem Zerspalten in Farben,
folglich von Dingen und Beschaffenheiten, die durch
keinen andern Sinn empfindbar sind, als durch den, der
ihm fehlte, und die es also für ihn nicht seyn konnten.
Denn obgleich einige Blinde durch ein außerordentlich fei-
nes und geschärftes Gefühl die gröbern Farben auf Tü-
chern und auf andern Flächen einigermaaßen unterschie-
den haben, so hat man doch kein Beyspiel, und ist auch
wohl keines jemals zu erwarten, daß ein Blinder auch
die Farbenstrahlen, die aus der Zertheilung des weisen
Sonnenlichts auf eine ebene Fläche fallen, durch das
Gefühl zu unterscheiden im Stande seyn werde. Saun-
derson mag nicht einmal die gröbern Farben auf den Tü-

chern
F 5

der Vorſtellungen.
thaͤtigkeiten, von Gemuͤthsbewegungen und Handlun-
gen ſind fuͤr uns Bilder von gleichartigen Modifikatio-
nen anderer Menſchen und anderer denkenden und em-
pfindſamen Weſen. Ein Vater ſtellet ſich vermittelſt ſei-
nes eigenen Gefuͤhls es vor, was Vaterfreude uͤber Kin-
der Wohl bey einem andern ſey u. ſ. w.

Dennoch iſt bey aller Verſchiedenartigkeit der Vor-
ſtellungen von aͤußern Gegenſtaͤnden, und der Gegen-
ſtaͤnde ſelbſt, dieſe Beziehung zwiſchen ihnen, daß jene
aus der Empfindung der Gegenſtaͤnde entſpringen.
Die Vorſtellung von der Sonne iſt eine Vorſtellung
aus dem Anſchauen. Sie ſind alſo Modifikationen ſol-
cher Weſen, wie wir ſind, welche entſtehen, wenn die
Objekte ihnen gegenwaͤrtig ſind, und, vermittelſt ſolcher
ſinnlichen Werkzeuge als die unſrigen, Eindruͤcke auf
ſie machen. Dieſe Vorſtellungen ſind daher auch keine
willkuͤhrlich gemachte Zeichen, ſondern natuͤrlich ent-
ſtandene Abdruͤcke von den Objekten. So wird der
Mond empfunden, und ſo ein Bild bringet er in uns
hervor, wenn er geſehen wird, als die Geſichtsvorſtel-
lung iſt, unter der wir uns ihn einbilden.

Der blinde Saunderſon hatte Vorſtellungen von
den Lichtſtrahlen und von ihrem Zerſpalten in Farben,
folglich von Dingen und Beſchaffenheiten, die durch
keinen andern Sinn empfindbar ſind, als durch den, der
ihm fehlte, und die es alſo fuͤr ihn nicht ſeyn konnten.
Denn obgleich einige Blinde durch ein außerordentlich fei-
nes und geſchaͤrftes Gefuͤhl die groͤbern Farben auf Tuͤ-
chern und auf andern Flaͤchen einigermaaßen unterſchie-
den haben, ſo hat man doch kein Beyſpiel, und iſt auch
wohl keines jemals zu erwarten, daß ein Blinder auch
die Farbenſtrahlen, die aus der Zertheilung des weiſen
Sonnenlichts auf eine ebene Flaͤche fallen, durch das
Gefuͤhl zu unterſcheiden im Stande ſeyn werde. Saun-
derſon mag nicht einmal die groͤbern Farben auf den Tuͤ-

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[89/0149] der Vorſtellungen. thaͤtigkeiten, von Gemuͤthsbewegungen und Handlun- gen ſind fuͤr uns Bilder von gleichartigen Modifikatio- nen anderer Menſchen und anderer denkenden und em- pfindſamen Weſen. Ein Vater ſtellet ſich vermittelſt ſei- nes eigenen Gefuͤhls es vor, was Vaterfreude uͤber Kin- der Wohl bey einem andern ſey u. ſ. w. Dennoch iſt bey aller Verſchiedenartigkeit der Vor- ſtellungen von aͤußern Gegenſtaͤnden, und der Gegen- ſtaͤnde ſelbſt, dieſe Beziehung zwiſchen ihnen, daß jene aus der Empfindung der Gegenſtaͤnde entſpringen. Die Vorſtellung von der Sonne iſt eine Vorſtellung aus dem Anſchauen. Sie ſind alſo Modifikationen ſol- cher Weſen, wie wir ſind, welche entſtehen, wenn die Objekte ihnen gegenwaͤrtig ſind, und, vermittelſt ſolcher ſinnlichen Werkzeuge als die unſrigen, Eindruͤcke auf ſie machen. Dieſe Vorſtellungen ſind daher auch keine willkuͤhrlich gemachte Zeichen, ſondern natuͤrlich ent- ſtandene Abdruͤcke von den Objekten. So wird der Mond empfunden, und ſo ein Bild bringet er in uns hervor, wenn er geſehen wird, als die Geſichtsvorſtel- lung iſt, unter der wir uns ihn einbilden. Der blinde Saunderſon hatte Vorſtellungen von den Lichtſtrahlen und von ihrem Zerſpalten in Farben, folglich von Dingen und Beſchaffenheiten, die durch keinen andern Sinn empfindbar ſind, als durch den, der ihm fehlte, und die es alſo fuͤr ihn nicht ſeyn konnten. Denn obgleich einige Blinde durch ein außerordentlich fei- nes und geſchaͤrftes Gefuͤhl die groͤbern Farben auf Tuͤ- chern und auf andern Flaͤchen einigermaaßen unterſchie- den haben, ſo hat man doch kein Beyſpiel, und iſt auch wohl keines jemals zu erwarten, daß ein Blinder auch die Farbenſtrahlen, die aus der Zertheilung des weiſen Sonnenlichts auf eine ebene Flaͤche fallen, durch das Gefuͤhl zu unterſcheiden im Stande ſeyn werde. Saun- derſon mag nicht einmal die groͤbern Farben auf den Tuͤ- chern F 5

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/149>, abgerufen am 28.11.2024.