Natur, wie der Marmor, aus dem eine Statue ge- macht ist, und der menschliche Körper, den die Statue vorstellet; so verschiedenartig als das mit Farben bestri- chene Leinwand und der abgemahlte lebende Kopf, und, wenn hier anders von Graden der Verschiedenartigkeit geredet werden kann, noch verschiedenartiger. Was hat das Bild von dem Mond in uns für eine Gleichar- tigkeit mit dem Körper am Himmel?
Beziehen wir aber unsere ursprünglichen Vorstel- lungen, auf die vorhergegangenen Nachempfindun- gen, aus denen sie zurückgeblieben sind, so findet wie- derum eine gewisse Einartigkeit zwischen ihnen Statt. Da sind die Empfindungen, eben sowohl als ihre nach- gebliebenen Spuren, Modifikationen der Seele, welche nur an Völligkeit und Stärke von einander unterschieden sind. Oder, wenn man will, daß die im Gedächtniß ruhende eingewickelte Vorstellung zu der wieder entwickel- ten Einbildung und zu der Nachempfindung sich wie die Disposition einer Kraft zu ihrer wirklichen Thätigkeit verhalte, so ist doch auch diese Beziehung schon mehr Homogenität, als die Beziehung des ideellen Mon- des auf den objektivischen außer uns. Die reprodu- cirte gegenwärtige Vorstellung ist der vorhergegangenen Empfindung oder Nachempfindung näher und ähnlicher, als es die bloße Disposition oder die ruhende Vorstel- lung ist. Denn sie ist schon mehr entwickelt, als ein bloßer Keim oder Anlage zu der ehemaligen Empfindung.
Zu der allgemeinen Analogie zwischen Vorstellun- gen und ihren Objekten kommt auch alsdenn noch eine nähere Aehnlichkeit hinzu, wenn die Vorstellungen, Dinge und Beschaffenheiten derselben, die mit uns selbst und unsern eigenen Beschaffenheiten, aus denen der Stoff der Vorstellungen genommen ist, gleichartiger Natur sind. Dieses findet insbesondere Statt bey denen aus dem Jnnern Sinn. Die Vorstellungen von Denkungs-
thätig-
I. Verſuch. Ueber die Natur
Natur, wie der Marmor, aus dem eine Statue ge- macht iſt, und der menſchliche Koͤrper, den die Statue vorſtellet; ſo verſchiedenartig als das mit Farben beſtri- chene Leinwand und der abgemahlte lebende Kopf, und, wenn hier anders von Graden der Verſchiedenartigkeit geredet werden kann, noch verſchiedenartiger. Was hat das Bild von dem Mond in uns fuͤr eine Gleichar- tigkeit mit dem Koͤrper am Himmel?
Beziehen wir aber unſere urſpruͤnglichen Vorſtel- lungen, auf die vorhergegangenen Nachempfindun- gen, aus denen ſie zuruͤckgeblieben ſind, ſo findet wie- derum eine gewiſſe Einartigkeit zwiſchen ihnen Statt. Da ſind die Empfindungen, eben ſowohl als ihre nach- gebliebenen Spuren, Modifikationen der Seele, welche nur an Voͤlligkeit und Staͤrke von einander unterſchieden ſind. Oder, wenn man will, daß die im Gedaͤchtniß ruhende eingewickelte Vorſtellung zu der wieder entwickel- ten Einbildung und zu der Nachempfindung ſich wie die Dispoſition einer Kraft zu ihrer wirklichen Thaͤtigkeit verhalte, ſo iſt doch auch dieſe Beziehung ſchon mehr Homogenitaͤt, als die Beziehung des ideellen Mon- des auf den objektiviſchen außer uns. Die reprodu- cirte gegenwaͤrtige Vorſtellung iſt der vorhergegangenen Empfindung oder Nachempfindung naͤher und aͤhnlicher, als es die bloße Dispoſition oder die ruhende Vorſtel- lung iſt. Denn ſie iſt ſchon mehr entwickelt, als ein bloßer Keim oder Anlage zu der ehemaligen Empfindung.
Zu der allgemeinen Analogie zwiſchen Vorſtellun- gen und ihren Objekten kommt auch alsdenn noch eine naͤhere Aehnlichkeit hinzu, wenn die Vorſtellungen, Dinge und Beſchaffenheiten derſelben, die mit uns ſelbſt und unſern eigenen Beſchaffenheiten, aus denen der Stoff der Vorſtellungen genommen iſt, gleichartiger Natur ſind. Dieſes findet insbeſondere Statt bey denen aus dem Jnnern Sinn. Die Vorſtellungen von Denkungs-
thaͤtig-
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I. Verſuch. Ueber die Natur
Natur, wie der Marmor, aus dem eine Statue ge-
macht iſt, und der menſchliche Koͤrper, den die Statue
vorſtellet; ſo verſchiedenartig als das mit Farben beſtri-
chene Leinwand und der abgemahlte lebende Kopf, und,
wenn hier anders von Graden der Verſchiedenartigkeit
geredet werden kann, noch verſchiedenartiger. Was
hat das Bild von dem Mond in uns fuͤr eine Gleichar-
tigkeit mit dem Koͤrper am Himmel?
Beziehen wir aber unſere urſpruͤnglichen Vorſtel-
lungen, auf die vorhergegangenen Nachempfindun-
gen, aus denen ſie zuruͤckgeblieben ſind, ſo findet wie-
derum eine gewiſſe Einartigkeit zwiſchen ihnen Statt.
Da ſind die Empfindungen, eben ſowohl als ihre nach-
gebliebenen Spuren, Modifikationen der Seele, welche
nur an Voͤlligkeit und Staͤrke von einander unterſchieden
ſind. Oder, wenn man will, daß die im Gedaͤchtniß
ruhende eingewickelte Vorſtellung zu der wieder entwickel-
ten Einbildung und zu der Nachempfindung ſich wie die
Dispoſition einer Kraft zu ihrer wirklichen Thaͤtigkeit
verhalte, ſo iſt doch auch dieſe Beziehung ſchon mehr
Homogenitaͤt, als die Beziehung des ideellen Mon-
des auf den objektiviſchen außer uns. Die reprodu-
cirte gegenwaͤrtige Vorſtellung iſt der vorhergegangenen
Empfindung oder Nachempfindung naͤher und aͤhnlicher,
als es die bloße Dispoſition oder die ruhende Vorſtel-
lung iſt. Denn ſie iſt ſchon mehr entwickelt, als ein bloßer
Keim oder Anlage zu der ehemaligen Empfindung.
Zu der allgemeinen Analogie zwiſchen Vorſtellun-
gen und ihren Objekten kommt auch alsdenn noch eine
naͤhere Aehnlichkeit hinzu, wenn die Vorſtellungen,
Dinge und Beſchaffenheiten derſelben, die mit uns ſelbſt
und unſern eigenen Beſchaffenheiten, aus denen der Stoff
der Vorſtellungen genommen iſt, gleichartiger Natur
ſind. Dieſes findet insbeſondere Statt bey denen aus
dem Jnnern Sinn. Die Vorſtellungen von Denkungs-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/148>, abgerufen am 28.11.2024.
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