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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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I. Versuch. Ueber die Natur
an einem Orte oder in dem Umgang einer Person ge-
nossen haben, ohne von neuem eine Anwandelung von
Vergnügen in uns zu empfinden. Wir erinnern uns
niemals eines vergangenen Verdrusses, ohne ihn von
neuem in uns aufkeimen zu sehen. Und je lebhafter, je
stärker, je anschauender die Wiedervorstellung eines ehe-
maligen Zustandes jetzo ist, desto mehr nähert sich das
Gegenwärtige dem Vergangenen, und der gegenwärti-
ge wiederhervorgezogene Abdruck seinem ersten Origi-
nal. *)

So wie jeder Gemüthszustand seine Ursachen in Em-
pfindungen und Vorstellungen der Seele hat, die vor
ihm vorhergehen, so hat auch jedweder Zustand seine
Wirkungen und Folgen in und außer uns; er hat ih-
rer in den Vorstellungen und Gedanken, in den Trieben
und Handlungen, und in dem Körper; unmerkbare
und bemerkbare, mittelbare und unmittelbare. Und
ein großer Theil von diesen Folgen wird als besondere von
neuem hinzukommende Veränderungen der Seele em-

pfunden
*) Die Einwürfe, die Hr. Beattie gegen diesen wahren
Satz in dem humischen Skepticismus vorbringet, dör-
fen uns nicht irre machen. Sie beruhen, wie so vieles
andere bey diesem Verfasser, auf Mißverstand. Die
Vorstellung des Essens macht den Hungrigen nicht satt,
und die Einbildung von der Hize erwärmet den nicht,
der vor Kälte erstarret. Nein, diese Jdeen können das
Bedörfniß noch empfindlicher machen und die Begier-
den zur Abhelfung desselben vergrößern. Und dennoch
wird der Hungrige sich schwerlich recht lebhaft vorstel-
len, wie ihm zu Muthe sey, wenn er sich sättiget, oh-
ne daß ihm der Speichel in den Mund treten, und der
Erkältete wird schwerlich recht lebhaft sich die Erwär-
mung einbilden können, ohne daß in seinen gespann-
ten Fibern ein Ansatz zu der sanften Erschlaffung entstehe,
welche die Wärme bey der Empfindung in ihnen be-
wirket.

I. Verſuch. Ueber die Natur
an einem Orte oder in dem Umgang einer Perſon ge-
noſſen haben, ohne von neuem eine Anwandelung von
Vergnuͤgen in uns zu empfinden. Wir erinnern uns
niemals eines vergangenen Verdruſſes, ohne ihn von
neuem in uns aufkeimen zu ſehen. Und je lebhafter, je
ſtaͤrker, je anſchauender die Wiedervorſtellung eines ehe-
maligen Zuſtandes jetzo iſt, deſto mehr naͤhert ſich das
Gegenwaͤrtige dem Vergangenen, und der gegenwaͤrti-
ge wiederhervorgezogene Abdruck ſeinem erſten Origi-
nal. *)

So wie jeder Gemuͤthszuſtand ſeine Urſachen in Em-
pfindungen und Vorſtellungen der Seele hat, die vor
ihm vorhergehen, ſo hat auch jedweder Zuſtand ſeine
Wirkungen und Folgen in und außer uns; er hat ih-
rer in den Vorſtellungen und Gedanken, in den Trieben
und Handlungen, und in dem Koͤrper; unmerkbare
und bemerkbare, mittelbare und unmittelbare. Und
ein großer Theil von dieſen Folgen wird als beſondere von
neuem hinzukommende Veraͤnderungen der Seele em-

pfunden
*) Die Einwuͤrfe, die Hr. Beattie gegen dieſen wahren
Satz in dem humiſchen Skepticismus vorbringet, doͤr-
fen uns nicht irre machen. Sie beruhen, wie ſo vieles
andere bey dieſem Verfaſſer, auf Mißverſtand. Die
Vorſtellung des Eſſens macht den Hungrigen nicht ſatt,
und die Einbildung von der Hize erwaͤrmet den nicht,
der vor Kaͤlte erſtarret. Nein, dieſe Jdeen koͤnnen das
Bedoͤrfniß noch empfindlicher machen und die Begier-
den zur Abhelfung deſſelben vergroͤßern. Und dennoch
wird der Hungrige ſich ſchwerlich recht lebhaft vorſtel-
len, wie ihm zu Muthe ſey, wenn er ſich ſaͤttiget, oh-
ne daß ihm der Speichel in den Mund treten, und der
Erkaͤltete wird ſchwerlich recht lebhaft ſich die Erwaͤr-
mung einbilden koͤnnen, ohne daß in ſeinen geſpann-
ten Fibern ein Anſatz zu der ſanften Erſchlaffung entſtehe,
welche die Waͤrme bey der Empfindung in ihnen be-
wirket.
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[56/0116] I. Verſuch. Ueber die Natur an einem Orte oder in dem Umgang einer Perſon ge- noſſen haben, ohne von neuem eine Anwandelung von Vergnuͤgen in uns zu empfinden. Wir erinnern uns niemals eines vergangenen Verdruſſes, ohne ihn von neuem in uns aufkeimen zu ſehen. Und je lebhafter, je ſtaͤrker, je anſchauender die Wiedervorſtellung eines ehe- maligen Zuſtandes jetzo iſt, deſto mehr naͤhert ſich das Gegenwaͤrtige dem Vergangenen, und der gegenwaͤrti- ge wiederhervorgezogene Abdruck ſeinem erſten Origi- nal. *) So wie jeder Gemuͤthszuſtand ſeine Urſachen in Em- pfindungen und Vorſtellungen der Seele hat, die vor ihm vorhergehen, ſo hat auch jedweder Zuſtand ſeine Wirkungen und Folgen in und außer uns; er hat ih- rer in den Vorſtellungen und Gedanken, in den Trieben und Handlungen, und in dem Koͤrper; unmerkbare und bemerkbare, mittelbare und unmittelbare. Und ein großer Theil von dieſen Folgen wird als beſondere von neuem hinzukommende Veraͤnderungen der Seele em- pfunden *) Die Einwuͤrfe, die Hr. Beattie gegen dieſen wahren Satz in dem humiſchen Skepticismus vorbringet, doͤr- fen uns nicht irre machen. Sie beruhen, wie ſo vieles andere bey dieſem Verfaſſer, auf Mißverſtand. Die Vorſtellung des Eſſens macht den Hungrigen nicht ſatt, und die Einbildung von der Hize erwaͤrmet den nicht, der vor Kaͤlte erſtarret. Nein, dieſe Jdeen koͤnnen das Bedoͤrfniß noch empfindlicher machen und die Begier- den zur Abhelfung deſſelben vergroͤßern. Und dennoch wird der Hungrige ſich ſchwerlich recht lebhaft vorſtel- len, wie ihm zu Muthe ſey, wenn er ſich ſaͤttiget, oh- ne daß ihm der Speichel in den Mund treten, und der Erkaͤltete wird ſchwerlich recht lebhaft ſich die Erwaͤr- mung einbilden koͤnnen, ohne daß in ſeinen geſpann- ten Fibern ein Anſatz zu der ſanften Erſchlaffung entſtehe, welche die Waͤrme bey der Empfindung in ihnen be- wirket.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/116>, abgerufen am 21.11.2024.