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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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I. Versuch. Ueber die Natur
rung gegen Descartes sey mehr eine Spitzfindigkeit, als
eine scharfsinnige Kritik. Jch kann auch in der gegen-
wärtigen Zeit sagen: ich denke; denn dieß soll nur den
Aktus des gegenwärtigen Denkens ausdrücken; nicht
aber so viel heißen, als: ich denke, daß ich denke,
oder: ich weiß, daß ich denke.

2) Jede Aktion der Denkkraft hat sogleich
ihre unmittelbare Wirkung in der Vorstellung
der Sache,
mit der sie verbunden worden ist, und
präget sich sogleich in ihr ab. Die Vorstellung, die ge-
wahrgenommen worden ist, stehet abgesondert, heraus-
gehoben, mit mehrerer und mit vorzüglicher Helligkeit
vor uns. Haben wir eine Ueberlegung, ein Nachden-
ken, eine Demonstration geendiget; so giebt es Wirkun-
gen von diesen Arbeiten in den Jdeen. Hier sind sie
tiefer eingedruckt, lebhafter, schärfer abgesondert, mehr
entwickelt, dort sind neue Jdeen bemerkbar geworden;
die Ordnung, ihre Lage und Verbindung hat sich geän-
dert. So etwas, als man nach einem anhaltenden
Nachdenken in sich gewahr wird, lässet sich, obgleich in
einer geringern Maße, nach jedweder einzelnen einfachen
Denkungsthätigkeit gewahrnehmen. Das anhaltende
Betrachten ist nichts, als eine, und in der That eine un-
terbrochene, Reihe einzelner kleinerer Denkthätigkeiten,
deren jede ihre eigene bleibende, und nachbestehende Fol-
gen in uns hat.

Jn dem Augenblick, da wir gewahrnehmen, wer-
den wir es nicht gewahr, daß wir gewahrnehmen; aber
in dem unmittelbar darauf folgenden Augenblick kann
dieß geschehen. Die Folge der ersten Thätigkeit bestehet
in uns von selbst, wenigstens ohne eine in eins fortge-
hende Anwendung unserer Denkkraft. Da ist also der
Zeitpunkt für die Empfindung und für die Reflexion
über die vorhergegangene Arbeit. Diese nächsten Wir-
kungen der Aktion sind mit der Aktion selbst in einer so

unmit-

I. Verſuch. Ueber die Natur
rung gegen Descartes ſey mehr eine Spitzfindigkeit, als
eine ſcharfſinnige Kritik. Jch kann auch in der gegen-
waͤrtigen Zeit ſagen: ich denke; denn dieß ſoll nur den
Aktus des gegenwaͤrtigen Denkens ausdruͤcken; nicht
aber ſo viel heißen, als: ich denke, daß ich denke,
oder: ich weiß, daß ich denke.

2) Jede Aktion der Denkkraft hat ſogleich
ihre unmittelbare Wirkung in der Vorſtellung
der Sache,
mit der ſie verbunden worden iſt, und
praͤget ſich ſogleich in ihr ab. Die Vorſtellung, die ge-
wahrgenommen worden iſt, ſtehet abgeſondert, heraus-
gehoben, mit mehrerer und mit vorzuͤglicher Helligkeit
vor uns. Haben wir eine Ueberlegung, ein Nachden-
ken, eine Demonſtration geendiget; ſo giebt es Wirkun-
gen von dieſen Arbeiten in den Jdeen. Hier ſind ſie
tiefer eingedruckt, lebhafter, ſchaͤrfer abgeſondert, mehr
entwickelt, dort ſind neue Jdeen bemerkbar geworden;
die Ordnung, ihre Lage und Verbindung hat ſich geaͤn-
dert. So etwas, als man nach einem anhaltenden
Nachdenken in ſich gewahr wird, laͤſſet ſich, obgleich in
einer geringern Maße, nach jedweder einzelnen einfachen
Denkungsthaͤtigkeit gewahrnehmen. Das anhaltende
Betrachten iſt nichts, als eine, und in der That eine un-
terbrochene, Reihe einzelner kleinerer Denkthaͤtigkeiten,
deren jede ihre eigene bleibende, und nachbeſtehende Fol-
gen in uns hat.

Jn dem Augenblick, da wir gewahrnehmen, wer-
den wir es nicht gewahr, daß wir gewahrnehmen; aber
in dem unmittelbar darauf folgenden Augenblick kann
dieß geſchehen. Die Folge der erſten Thaͤtigkeit beſtehet
in uns von ſelbſt, wenigſtens ohne eine in eins fortge-
hende Anwendung unſerer Denkkraft. Da iſt alſo der
Zeitpunkt fuͤr die Empfindung und fuͤr die Reflexion
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[48/0108] I. Verſuch. Ueber die Natur rung gegen Descartes ſey mehr eine Spitzfindigkeit, als eine ſcharfſinnige Kritik. Jch kann auch in der gegen- waͤrtigen Zeit ſagen: ich denke; denn dieß ſoll nur den Aktus des gegenwaͤrtigen Denkens ausdruͤcken; nicht aber ſo viel heißen, als: ich denke, daß ich denke, oder: ich weiß, daß ich denke. 2) Jede Aktion der Denkkraft hat ſogleich ihre unmittelbare Wirkung in der Vorſtellung der Sache, mit der ſie verbunden worden iſt, und praͤget ſich ſogleich in ihr ab. Die Vorſtellung, die ge- wahrgenommen worden iſt, ſtehet abgeſondert, heraus- gehoben, mit mehrerer und mit vorzuͤglicher Helligkeit vor uns. Haben wir eine Ueberlegung, ein Nachden- ken, eine Demonſtration geendiget; ſo giebt es Wirkun- gen von dieſen Arbeiten in den Jdeen. Hier ſind ſie tiefer eingedruckt, lebhafter, ſchaͤrfer abgeſondert, mehr entwickelt, dort ſind neue Jdeen bemerkbar geworden; die Ordnung, ihre Lage und Verbindung hat ſich geaͤn- dert. So etwas, als man nach einem anhaltenden Nachdenken in ſich gewahr wird, laͤſſet ſich, obgleich in einer geringern Maße, nach jedweder einzelnen einfachen Denkungsthaͤtigkeit gewahrnehmen. Das anhaltende Betrachten iſt nichts, als eine, und in der That eine un- terbrochene, Reihe einzelner kleinerer Denkthaͤtigkeiten, deren jede ihre eigene bleibende, und nachbeſtehende Fol- gen in uns hat. Jn dem Augenblick, da wir gewahrnehmen, wer- den wir es nicht gewahr, daß wir gewahrnehmen; aber in dem unmittelbar darauf folgenden Augenblick kann dieß geſchehen. Die Folge der erſten Thaͤtigkeit beſtehet in uns von ſelbſt, wenigſtens ohne eine in eins fortge- hende Anwendung unſerer Denkkraft. Da iſt alſo der Zeitpunkt fuͤr die Empfindung und fuͤr die Reflexion uͤber die vorhergegangene Arbeit. Dieſe naͤchſten Wir- kungen der Aktion ſind mit der Aktion ſelbſt in einer ſo unmit-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/108>, abgerufen am 25.11.2024.