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Temme, Jodocus Donatus Hubertus: Die Volkssagen von Pommern und Rügen. Berlin, 1840.

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mit dem Strange hingerichtet, und seine Söhne mußten in alle Welt flüchten, und ihre Güter im Stich lassen. Einer von ihnen, Graf Otto von Eberstein, floh zu seiner Mutter Bruder, einem Grafen von Gleichen, der damals Bischof von Cammin in Pommern war. Er wurde von diesem aufgenommen, und der Bischof belehnte ihn im Jahre 1263 mit der Stadt und Grafschaft Naugard. Zu dieser Grafschaft gehörte auch das Dorf Retztow, eine Meile südwestlich von Naugard, bei welchem die Grafen späterhin eine Burg erbauten, welche sie die Wolfsburg nannten. Die Trümmer dieser Burg sieht man noch jetzt in der Nähe von Retztow. Die Ebersteiner fingen aber mit der Zeit ein wüstes, gottloses Leben an, und besonders hatten sie ihre Freude daran, von der Wolfsburg aus, wo sie oft zum Jagen mit ihren wilden Gesellen zusammentrafen, den Bauern die Saaten zu verderben. Deshalb stehen sie noch jetzt unter den Bauern in einem schlechten Rufe, und man sagt, sie hätten keine Ruhe unter der Erde, und müßten noch immer um die Wolfsburg herum wandern. Doch sind sie jetzt nicht immer mehr böse, sondern beschenken sogar manchmal die Leute, mit denen sie zusammentreffen.

So war vor vielen Jahren einmal ein Schäfer in Retztow, der hütete am Johannistage mit seiner Heerde auf dem sogenannten Hühnenberge, nicht weit von der Wolfsburg. Auf einmal versank er mit allen seinen Schaafen in die Erde hinein, daß sie sich über ihm zusammenthat. Unten kam ihm ein großer Hund entgegen, der ihn an eine Thür führte. Diese öffnete der Schäfer, worauf er an eine zweite Thür kam. Als er auch diese geöffnet hatte, befand er sich in einem großen Saale; in demselben saßen viele vornehme Herren am Speisen. Sie sahen dem Schäfer so stattlich aus, daß er sie für Fürsten hielt, obgleich die Leute meinen, daß es die Grafen von Eberstein

mit dem Strange hingerichtet, und seine Söhne mußten in alle Welt flüchten, und ihre Güter im Stich lassen. Einer von ihnen, Graf Otto von Eberstein, floh zu seiner Mutter Bruder, einem Grafen von Gleichen, der damals Bischof von Cammin in Pommern war. Er wurde von diesem aufgenommen, und der Bischof belehnte ihn im Jahre 1263 mit der Stadt und Grafschaft Naugard. Zu dieser Grafschaft gehörte auch das Dorf Retztow, eine Meile südwestlich von Naugard, bei welchem die Grafen späterhin eine Burg erbauten, welche sie die Wolfsburg nannten. Die Trümmer dieser Burg sieht man noch jetzt in der Nähe von Retztow. Die Ebersteiner fingen aber mit der Zeit ein wüstes, gottloses Leben an, und besonders hatten sie ihre Freude daran, von der Wolfsburg aus, wo sie oft zum Jagen mit ihren wilden Gesellen zusammentrafen, den Bauern die Saaten zu verderben. Deshalb stehen sie noch jetzt unter den Bauern in einem schlechten Rufe, und man sagt, sie hätten keine Ruhe unter der Erde, und müßten noch immer um die Wolfsburg herum wandern. Doch sind sie jetzt nicht immer mehr böse, sondern beschenken sogar manchmal die Leute, mit denen sie zusammentreffen.

So war vor vielen Jahren einmal ein Schäfer in Retztow, der hütete am Johannistage mit seiner Heerde auf dem sogenannten Hühnenberge, nicht weit von der Wolfsburg. Auf einmal versank er mit allen seinen Schaafen in die Erde hinein, daß sie sich über ihm zusammenthat. Unten kam ihm ein großer Hund entgegen, der ihn an eine Thür führte. Diese öffnete der Schäfer, worauf er an eine zweite Thür kam. Als er auch diese geöffnet hatte, befand er sich in einem großen Saale; in demselben saßen viele vornehme Herren am Speisen. Sie sahen dem Schäfer so stattlich aus, daß er sie für Fürsten hielt, obgleich die Leute meinen, daß es die Grafen von Eberstein

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mit dem Strange hingerichtet, und seine Söhne mußten in alle Welt flüchten, und ihre Güter im Stich lassen. Einer von ihnen, Graf Otto von Eberstein, floh zu seiner Mutter Bruder, einem Grafen von Gleichen, der damals Bischof von Cammin in Pommern war. Er wurde von diesem aufgenommen, und der Bischof belehnte ihn im Jahre 1263 mit der Stadt und Grafschaft Naugard. Zu dieser Grafschaft gehörte auch das Dorf Retztow, eine Meile südwestlich von Naugard, bei welchem die Grafen späterhin eine Burg erbauten, welche sie die Wolfsburg nannten. Die Trümmer dieser Burg sieht man noch jetzt in der Nähe von Retztow. Die Ebersteiner fingen aber mit der Zeit ein wüstes, gottloses Leben an, und besonders hatten sie ihre Freude daran, von der Wolfsburg aus, wo sie oft zum Jagen mit ihren wilden Gesellen zusammentrafen, den Bauern die Saaten zu verderben. Deshalb stehen sie noch jetzt unter den Bauern in einem schlechten Rufe, und man sagt, sie hätten keine Ruhe unter der Erde, und müßten noch immer um die Wolfsburg herum wandern. Doch sind sie jetzt nicht immer mehr böse, sondern beschenken sogar manchmal die Leute, mit denen sie zusammentreffen.</p>
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[188/0220] mit dem Strange hingerichtet, und seine Söhne mußten in alle Welt flüchten, und ihre Güter im Stich lassen. Einer von ihnen, Graf Otto von Eberstein, floh zu seiner Mutter Bruder, einem Grafen von Gleichen, der damals Bischof von Cammin in Pommern war. Er wurde von diesem aufgenommen, und der Bischof belehnte ihn im Jahre 1263 mit der Stadt und Grafschaft Naugard. Zu dieser Grafschaft gehörte auch das Dorf Retztow, eine Meile südwestlich von Naugard, bei welchem die Grafen späterhin eine Burg erbauten, welche sie die Wolfsburg nannten. Die Trümmer dieser Burg sieht man noch jetzt in der Nähe von Retztow. Die Ebersteiner fingen aber mit der Zeit ein wüstes, gottloses Leben an, und besonders hatten sie ihre Freude daran, von der Wolfsburg aus, wo sie oft zum Jagen mit ihren wilden Gesellen zusammentrafen, den Bauern die Saaten zu verderben. Deshalb stehen sie noch jetzt unter den Bauern in einem schlechten Rufe, und man sagt, sie hätten keine Ruhe unter der Erde, und müßten noch immer um die Wolfsburg herum wandern. Doch sind sie jetzt nicht immer mehr böse, sondern beschenken sogar manchmal die Leute, mit denen sie zusammentreffen. So war vor vielen Jahren einmal ein Schäfer in Retztow, der hütete am Johannistage mit seiner Heerde auf dem sogenannten Hühnenberge, nicht weit von der Wolfsburg. Auf einmal versank er mit allen seinen Schaafen in die Erde hinein, daß sie sich über ihm zusammenthat. Unten kam ihm ein großer Hund entgegen, der ihn an eine Thür führte. Diese öffnete der Schäfer, worauf er an eine zweite Thür kam. Als er auch diese geöffnet hatte, befand er sich in einem großen Saale; in demselben saßen viele vornehme Herren am Speisen. Sie sahen dem Schäfer so stattlich aus, daß er sie für Fürsten hielt, obgleich die Leute meinen, daß es die Grafen von Eberstein

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Zitationshilfe: Temme, Jodocus Donatus Hubertus: Die Volkssagen von Pommern und Rügen. Berlin, 1840, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/temme_volkssagen_1840/220>, abgerufen am 29.11.2024.