und Dichtungskraft fehlet, die Schöpfung des Wun- derbaren. Wenn er schon mehr, als die, für die er arbeitet, weiß; wenn er tiefer, als sie in die kör- perliche und geistliche Welt hineinschaut, so giebt ihm dieses Gelegenheit, seine Vorstellungen noch mehr zu erhöhen, und sie bis ins Wunderbare zu treiben. Hätte Klopstok so wenig von der un- ermeßlichen Größe des Weltgebäudes gewußt, als Homer, und hätte er von der Gottheit so einge- schränkte Begriffe gehabt, wie der griechische Barde, so würde ein großer Theil des Wunderbaren in sei- nem Meßias weggeblieben seyn. Der Dichter, des- sen Kenntnisse schon weiter reichen, als die allge- meinen Kenntnisse seiner Zeit, der eben dadurch Gelegenheit gehabt hat, die höhere Wollust des Gei- stes, die Bewundrung zu fühlen, wird dadurch an- gereizt, und auch in Stand gesezt, andre durch das Wunderbare zu rühren.
Wir finden deswegen das Wunderbare weit sel- tener in Oßians Gedichten, als in den andern uns bekannten Epopöen; denn der Barde lebte unter einem durchaus unwissenden Volke, und seine Kennt- nisse erstrekten sich eben nicht merklich weiter, als die allgemeinen Kenntnisse seiner Zeit giengen. Er fand in dem, was er mehr wissen mochte, als das Volk unter dem er lebte, wenig Veranlassung, seine Vorstellungen bis ins Wunderbare zu treiben. Aber Homer scheinet ungleich mehr Kenntnisse der körper- lichen und sittlichen Welt gehabt zu haben, als die, für die er seine Gesänge dichtete. Er scheinet viel fremde, in seinem Lande noch verborgene Kenntnisse gehabt zu haben. Eben deswegen fiel er darauf, sie durch eine Menge außerordentlicher Dinge, de- ren Erfindung ihm seine Kenntnis erleichterte, seine Zuhörer in Bewundrung zu sezen. Es erhellet hier- aus, daß die blos körperliche Natur eben sowol, als die unsichtbare Geisterwelt, auf Erfindung des Wun- derbaren führet. Denn jede unerwartete und sehr erhöhte Kenntnis, des Möglichen oder Würklichen aus beyden Welten, sezt uns in Bewundrung.
Das Wunderbare ist eine der vorzüglichsten ästhe- tischen Eigenschaften. Es hat einen großen Reiz für die Gemüther der Menschen, die es mit ungemeiner [Spaltenumbruch]
Wun
Begierde vernehmen. Kommt denn irgend ein merk- licher Grad der Wahrscheinlichkeit dazu, so sind sie sehr geneigt, das Erdichtete für Wahr zu halten. Darum ist es ein sehr kräftiges Mittel sowol auf die Vorstellungskraft, als auf die Empfindung zu würken. Der Hang zum Außerordentlichen ist so stark bey dem Menschen, daß er es nicht nur mit dem größten Wolgefallen anhöret, sondern in der Trunkenheit der Bewundrung sich auch willig dahin leiten läßt, wohin man ihn führen will.
Wenn aber das Wunderbare seine Würkung thun soll, so muß es, wie wir schon angemerkt haben, glaubwürdig und auch begreiflich seyn, damit man es nicht so gleich verwerfe. Deswegen muß der Dichter dabey genaue Rüksicht auf die Kenntnisse der Personen, für die er dichtet nehmen. Kindern, und einem Volke, dessen Zustand in Absicht auf Kenntnisse mit der Kindheit übereinkommt, kann die äsopische Fabel gar wol durch das Wunderbare der vernünftig denkenden und redenden Thiere ge- fallen: uns sind diese Thiere nichts Wunderbares; wir wissen es, daß es der Dichter in diesem Stück nicht im Ernste meinet. So ist beym Homer man- ches, daß zu seiner Zeit ein ächtes Wunderbares war, für uns nichts, wenn wir uns nicht in seine Zeit versetzen. Man kann gegenwärtig das Wun- derbare das aus der alten Götterlehre geschöpft wird, so wenig mehr brauchen, als das, was sich auf das System der Gnomen und Sylphen gründet. Aber es war eine Zeit, und bey vielen unwissenden Völkern ist sie noch, da wahres und ächtes Wun- derbares daraus konnte genommen werden.
Hingegen würde manches Wunderbare, in dem Messias, das uns in angenehmes Erstaunen sezt, bey einem ganz unwissenden Volke seiner völligen Unbegreiflichkeit halber nicht die geringste Würkung thun. Unsre Begriffe und Kenntnisse von dem herr- lichen Bau der Welt, die wir den Entdekungen der Astronomen zu danken haben, und die schon an sich Wunderbar sind, erleichtern das Begreifen der er- staunlichen Vorstellungen des Dichters, die bey keinem ganz unwissenden Volk Eindruk machen könnten.
[Spaltenumbruch]
Wun
und Dichtungskraft fehlet, die Schoͤpfung des Wun- derbaren. Wenn er ſchon mehr, als die, fuͤr die er arbeitet, weiß; wenn er tiefer, als ſie in die koͤr- perliche und geiſtliche Welt hineinſchaut, ſo giebt ihm dieſes Gelegenheit, ſeine Vorſtellungen noch mehr zu erhoͤhen, und ſie bis ins Wunderbare zu treiben. Haͤtte Klopſtok ſo wenig von der un- ermeßlichen Groͤße des Weltgebaͤudes gewußt, als Homer, und haͤtte er von der Gottheit ſo einge- ſchraͤnkte Begriffe gehabt, wie der griechiſche Barde, ſo wuͤrde ein großer Theil des Wunderbaren in ſei- nem Meßias weggeblieben ſeyn. Der Dichter, deſ- ſen Kenntniſſe ſchon weiter reichen, als die allge- meinen Kenntniſſe ſeiner Zeit, der eben dadurch Gelegenheit gehabt hat, die hoͤhere Wolluſt des Gei- ſtes, die Bewundrung zu fuͤhlen, wird dadurch an- gereizt, und auch in Stand geſezt, andre durch das Wunderbare zu ruͤhren.
Wir finden deswegen das Wunderbare weit ſel- tener in Oßians Gedichten, als in den andern uns bekannten Epopoͤen; denn der Barde lebte unter einem durchaus unwiſſenden Volke, und ſeine Kennt- niſſe erſtrekten ſich eben nicht merklich weiter, als die allgemeinen Kenntniſſe ſeiner Zeit giengen. Er fand in dem, was er mehr wiſſen mochte, als das Volk unter dem er lebte, wenig Veranlaſſung, ſeine Vorſtellungen bis ins Wunderbare zu treiben. Aber Homer ſcheinet ungleich mehr Kenntniſſe der koͤrper- lichen und ſittlichen Welt gehabt zu haben, als die, fuͤr die er ſeine Geſaͤnge dichtete. Er ſcheinet viel fremde, in ſeinem Lande noch verborgene Kenntniſſe gehabt zu haben. Eben deswegen fiel er darauf, ſie durch eine Menge außerordentlicher Dinge, de- ren Erfindung ihm ſeine Kenntnis erleichterte, ſeine Zuhoͤrer in Bewundrung zu ſezen. Es erhellet hier- aus, daß die blos koͤrperliche Natur eben ſowol, als die unſichtbare Geiſterwelt, auf Erfindung des Wun- derbaren fuͤhret. Denn jede unerwartete und ſehr erhoͤhte Kenntnis, des Moͤglichen oder Wuͤrklichen aus beyden Welten, ſezt uns in Bewundrung.
Das Wunderbare iſt eine der vorzuͤglichſten aͤſthe- tiſchen Eigenſchaften. Es hat einen großen Reiz fuͤr die Gemuͤther der Menſchen, die es mit ungemeiner [Spaltenumbruch]
Wun
Begierde vernehmen. Kommt denn irgend ein merk- licher Grad der Wahrſcheinlichkeit dazu, ſo ſind ſie ſehr geneigt, das Erdichtete fuͤr Wahr zu halten. Darum iſt es ein ſehr kraͤftiges Mittel ſowol auf die Vorſtellungskraft, als auf die Empfindung zu wuͤrken. Der Hang zum Außerordentlichen iſt ſo ſtark bey dem Menſchen, daß er es nicht nur mit dem groͤßten Wolgefallen anhoͤret, ſondern in der Trunkenheit der Bewundrung ſich auch willig dahin leiten laͤßt, wohin man ihn fuͤhren will.
Wenn aber das Wunderbare ſeine Wuͤrkung thun ſoll, ſo muß es, wie wir ſchon angemerkt haben, glaubwuͤrdig und auch begreiflich ſeyn, damit man es nicht ſo gleich verwerfe. Deswegen muß der Dichter dabey genaue Ruͤkſicht auf die Kenntniſſe der Perſonen, fuͤr die er dichtet nehmen. Kindern, und einem Volke, deſſen Zuſtand in Abſicht auf Kenntniſſe mit der Kindheit uͤbereinkommt, kann die aͤſopiſche Fabel gar wol durch das Wunderbare der vernuͤnftig denkenden und redenden Thiere ge- fallen: uns ſind dieſe Thiere nichts Wunderbares; wir wiſſen es, daß es der Dichter in dieſem Stuͤck nicht im Ernſte meinet. So iſt beym Homer man- ches, daß zu ſeiner Zeit ein aͤchtes Wunderbares war, fuͤr uns nichts, wenn wir uns nicht in ſeine Zeit verſetzen. Man kann gegenwaͤrtig das Wun- derbare das aus der alten Goͤtterlehre geſchoͤpft wird, ſo wenig mehr brauchen, als das, was ſich auf das Syſtem der Gnomen und Sylphen gruͤndet. Aber es war eine Zeit, und bey vielen unwiſſenden Voͤlkern iſt ſie noch, da wahres und aͤchtes Wun- derbares daraus konnte genommen werden.
Hingegen wuͤrde manches Wunderbare, in dem Meſſias, das uns in angenehmes Erſtaunen ſezt, bey einem ganz unwiſſenden Volke ſeiner voͤlligen Unbegreiflichkeit halber nicht die geringſte Wuͤrkung thun. Unſre Begriffe und Kenntniſſe von dem herr- lichen Bau der Welt, die wir den Entdekungen der Aſtronomen zu danken haben, und die ſchon an ſich Wunderbar ſind, erleichtern das Begreifen der er- ſtaunlichen Vorſtellungen des Dichters, die bey keinem ganz unwiſſenden Volk Eindruk machen koͤnnten.
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[1280[1264]/0727]
Wun
Wun
und Dichtungskraft fehlet, die Schoͤpfung des Wun-
derbaren. Wenn er ſchon mehr, als die, fuͤr die
er arbeitet, weiß; wenn er tiefer, als ſie in die koͤr-
perliche und geiſtliche Welt hineinſchaut, ſo giebt
ihm dieſes Gelegenheit, ſeine Vorſtellungen noch
mehr zu erhoͤhen, und ſie bis ins Wunderbare zu
treiben. Haͤtte Klopſtok ſo wenig von der un-
ermeßlichen Groͤße des Weltgebaͤudes gewußt, als
Homer, und haͤtte er von der Gottheit ſo einge-
ſchraͤnkte Begriffe gehabt, wie der griechiſche Barde,
ſo wuͤrde ein großer Theil des Wunderbaren in ſei-
nem Meßias weggeblieben ſeyn. Der Dichter, deſ-
ſen Kenntniſſe ſchon weiter reichen, als die allge-
meinen Kenntniſſe ſeiner Zeit, der eben dadurch
Gelegenheit gehabt hat, die hoͤhere Wolluſt des Gei-
ſtes, die Bewundrung zu fuͤhlen, wird dadurch an-
gereizt, und auch in Stand geſezt, andre durch das
Wunderbare zu ruͤhren.
Wir finden deswegen das Wunderbare weit ſel-
tener in Oßians Gedichten, als in den andern uns
bekannten Epopoͤen; denn der Barde lebte unter
einem durchaus unwiſſenden Volke, und ſeine Kennt-
niſſe erſtrekten ſich eben nicht merklich weiter, als
die allgemeinen Kenntniſſe ſeiner Zeit giengen. Er
fand in dem, was er mehr wiſſen mochte, als das
Volk unter dem er lebte, wenig Veranlaſſung, ſeine
Vorſtellungen bis ins Wunderbare zu treiben. Aber
Homer ſcheinet ungleich mehr Kenntniſſe der koͤrper-
lichen und ſittlichen Welt gehabt zu haben, als die,
fuͤr die er ſeine Geſaͤnge dichtete. Er ſcheinet viel
fremde, in ſeinem Lande noch verborgene Kenntniſſe
gehabt zu haben. Eben deswegen fiel er darauf,
ſie durch eine Menge außerordentlicher Dinge, de-
ren Erfindung ihm ſeine Kenntnis erleichterte, ſeine
Zuhoͤrer in Bewundrung zu ſezen. Es erhellet hier-
aus, daß die blos koͤrperliche Natur eben ſowol, als
die unſichtbare Geiſterwelt, auf Erfindung des Wun-
derbaren fuͤhret. Denn jede unerwartete und ſehr
erhoͤhte Kenntnis, des Moͤglichen oder Wuͤrklichen
aus beyden Welten, ſezt uns in Bewundrung.
Das Wunderbare iſt eine der vorzuͤglichſten aͤſthe-
tiſchen Eigenſchaften. Es hat einen großen Reiz fuͤr
die Gemuͤther der Menſchen, die es mit ungemeiner
Begierde vernehmen. Kommt denn irgend ein merk-
licher Grad der Wahrſcheinlichkeit dazu, ſo ſind ſie
ſehr geneigt, das Erdichtete fuͤr Wahr zu halten.
Darum iſt es ein ſehr kraͤftiges Mittel ſowol auf
die Vorſtellungskraft, als auf die Empfindung zu
wuͤrken. Der Hang zum Außerordentlichen iſt ſo
ſtark bey dem Menſchen, daß er es nicht nur mit
dem groͤßten Wolgefallen anhoͤret, ſondern in der
Trunkenheit der Bewundrung ſich auch willig dahin
leiten laͤßt, wohin man ihn fuͤhren will.
Wenn aber das Wunderbare ſeine Wuͤrkung thun
ſoll, ſo muß es, wie wir ſchon angemerkt haben,
glaubwuͤrdig und auch begreiflich ſeyn, damit man
es nicht ſo gleich verwerfe. Deswegen muß der
Dichter dabey genaue Ruͤkſicht auf die Kenntniſſe
der Perſonen, fuͤr die er dichtet nehmen. Kindern,
und einem Volke, deſſen Zuſtand in Abſicht auf
Kenntniſſe mit der Kindheit uͤbereinkommt, kann
die aͤſopiſche Fabel gar wol durch das Wunderbare
der vernuͤnftig denkenden und redenden Thiere ge-
fallen: uns ſind dieſe Thiere nichts Wunderbares;
wir wiſſen es, daß es der Dichter in dieſem Stuͤck
nicht im Ernſte meinet. So iſt beym Homer man-
ches, daß zu ſeiner Zeit ein aͤchtes Wunderbares
war, fuͤr uns nichts, wenn wir uns nicht in ſeine
Zeit verſetzen. Man kann gegenwaͤrtig das Wun-
derbare das aus der alten Goͤtterlehre geſchoͤpft
wird, ſo wenig mehr brauchen, als das, was ſich
auf das Syſtem der Gnomen und Sylphen gruͤndet.
Aber es war eine Zeit, und bey vielen unwiſſenden
Voͤlkern iſt ſie noch, da wahres und aͤchtes Wun-
derbares daraus konnte genommen werden.
Hingegen wuͤrde manches Wunderbare, in dem
Meſſias, das uns in angenehmes Erſtaunen ſezt,
bey einem ganz unwiſſenden Volke ſeiner voͤlligen
Unbegreiflichkeit halber nicht die geringſte Wuͤrkung
thun. Unſre Begriffe und Kenntniſſe von dem herr-
lichen Bau der Welt, die wir den Entdekungen der
Aſtronomen zu danken haben, und die ſchon an ſich
Wunderbar ſind, erleichtern das Begreifen der er-
ſtaunlichen Vorſtellungen des Dichters, die bey
keinem ganz unwiſſenden Volk Eindruk machen
koͤnnten.
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1280[1264]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/727>, abgerufen am 27.11.2024.
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