Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Wun
und Dichtungskraft fehlet, die Schöpfung des Wun-
derbaren. Wenn er schon mehr, als die, für die
er arbeitet, weiß; wenn er tiefer, als sie in die kör-
perliche und geistliche Welt hineinschaut, so giebt
ihm dieses Gelegenheit, seine Vorstellungen noch
mehr zu erhöhen, und sie bis ins Wunderbare zu
treiben. Hätte Klopstok so wenig von der un-
ermeßlichen Größe des Weltgebäudes gewußt, als
Homer, und hätte er von der Gottheit so einge-
schränkte Begriffe gehabt, wie der griechische Barde,
so würde ein großer Theil des Wunderbaren in sei-
nem Meßias weggeblieben seyn. Der Dichter, des-
sen Kenntnisse schon weiter reichen, als die allge-
meinen Kenntnisse seiner Zeit, der eben dadurch
Gelegenheit gehabt hat, die höhere Wollust des Gei-
stes, die Bewundrung zu fühlen, wird dadurch an-
gereizt, und auch in Stand gesezt, andre durch das
Wunderbare zu rühren.

Wir finden deswegen das Wunderbare weit sel-
tener in Oßians Gedichten, als in den andern uns
bekannten Epopöen; denn der Barde lebte unter
einem durchaus unwissenden Volke, und seine Kennt-
nisse erstrekten sich eben nicht merklich weiter, als
die allgemeinen Kenntnisse seiner Zeit giengen. Er
fand in dem, was er mehr wissen mochte, als das
Volk unter dem er lebte, wenig Veranlassung, seine
Vorstellungen bis ins Wunderbare zu treiben. Aber
Homer scheinet ungleich mehr Kenntnisse der körper-
lichen und sittlichen Welt gehabt zu haben, als die,
für die er seine Gesänge dichtete. Er scheinet viel
fremde, in seinem Lande noch verborgene Kenntnisse
gehabt zu haben. Eben deswegen fiel er darauf,
sie durch eine Menge außerordentlicher Dinge, de-
ren Erfindung ihm seine Kenntnis erleichterte, seine
Zuhörer in Bewundrung zu sezen. Es erhellet hier-
aus, daß die blos körperliche Natur eben sowol, als
die unsichtbare Geisterwelt, auf Erfindung des Wun-
derbaren führet. Denn jede unerwartete und sehr
erhöhte Kenntnis, des Möglichen oder Würklichen
aus beyden Welten, sezt uns in Bewundrung.

Das Wunderbare ist eine der vorzüglichsten ästhe-
tischen Eigenschaften. Es hat einen großen Reiz für
die Gemüther der Menschen, die es mit ungemeiner
[Spaltenumbruch]

Wun
Begierde vernehmen. Kommt denn irgend ein merk-
licher Grad der Wahrscheinlichkeit dazu, so sind sie
sehr geneigt, das Erdichtete für Wahr zu halten.
Darum ist es ein sehr kräftiges Mittel sowol auf
die Vorstellungskraft, als auf die Empfindung zu
würken. Der Hang zum Außerordentlichen ist so
stark bey dem Menschen, daß er es nicht nur mit
dem größten Wolgefallen anhöret, sondern in der
Trunkenheit der Bewundrung sich auch willig dahin
leiten läßt, wohin man ihn führen will.

Wenn aber das Wunderbare seine Würkung thun
soll, so muß es, wie wir schon angemerkt haben,
glaubwürdig und auch begreiflich seyn, damit man
es nicht so gleich verwerfe. Deswegen muß der
Dichter dabey genaue Rüksicht auf die Kenntnisse
der Personen, für die er dichtet nehmen. Kindern,
und einem Volke, dessen Zustand in Absicht auf
Kenntnisse mit der Kindheit übereinkommt, kann
die äsopische Fabel gar wol durch das Wunderbare
der vernünftig denkenden und redenden Thiere ge-
fallen: uns sind diese Thiere nichts Wunderbares;
wir wissen es, daß es der Dichter in diesem Stück
nicht im Ernste meinet. So ist beym Homer man-
ches, daß zu seiner Zeit ein ächtes Wunderbares
war, für uns nichts, wenn wir uns nicht in seine
Zeit versetzen. Man kann gegenwärtig das Wun-
derbare das aus der alten Götterlehre geschöpft
wird, so wenig mehr brauchen, als das, was sich
auf das System der Gnomen und Sylphen gründet.
Aber es war eine Zeit, und bey vielen unwissenden
Völkern ist sie noch, da wahres und ächtes Wun-
derbares daraus konnte genommen werden.

Hingegen würde manches Wunderbare, in dem
Messias, das uns in angenehmes Erstaunen sezt,
bey einem ganz unwissenden Volke seiner völligen
Unbegreiflichkeit halber nicht die geringste Würkung
thun. Unsre Begriffe und Kenntnisse von dem herr-
lichen Bau der Welt, die wir den Entdekungen der
Astronomen zu danken haben, und die schon an sich
Wunderbar sind, erleichtern das Begreifen der er-
staunlichen Vorstellungen des Dichters, die bey
keinem ganz unwissenden Volk Eindruk machen
könnten.



[Spaltenumbruch]

Wun
und Dichtungskraft fehlet, die Schoͤpfung des Wun-
derbaren. Wenn er ſchon mehr, als die, fuͤr die
er arbeitet, weiß; wenn er tiefer, als ſie in die koͤr-
perliche und geiſtliche Welt hineinſchaut, ſo giebt
ihm dieſes Gelegenheit, ſeine Vorſtellungen noch
mehr zu erhoͤhen, und ſie bis ins Wunderbare zu
treiben. Haͤtte Klopſtok ſo wenig von der un-
ermeßlichen Groͤße des Weltgebaͤudes gewußt, als
Homer, und haͤtte er von der Gottheit ſo einge-
ſchraͤnkte Begriffe gehabt, wie der griechiſche Barde,
ſo wuͤrde ein großer Theil des Wunderbaren in ſei-
nem Meßias weggeblieben ſeyn. Der Dichter, deſ-
ſen Kenntniſſe ſchon weiter reichen, als die allge-
meinen Kenntniſſe ſeiner Zeit, der eben dadurch
Gelegenheit gehabt hat, die hoͤhere Wolluſt des Gei-
ſtes, die Bewundrung zu fuͤhlen, wird dadurch an-
gereizt, und auch in Stand geſezt, andre durch das
Wunderbare zu ruͤhren.

Wir finden deswegen das Wunderbare weit ſel-
tener in Oßians Gedichten, als in den andern uns
bekannten Epopoͤen; denn der Barde lebte unter
einem durchaus unwiſſenden Volke, und ſeine Kennt-
niſſe erſtrekten ſich eben nicht merklich weiter, als
die allgemeinen Kenntniſſe ſeiner Zeit giengen. Er
fand in dem, was er mehr wiſſen mochte, als das
Volk unter dem er lebte, wenig Veranlaſſung, ſeine
Vorſtellungen bis ins Wunderbare zu treiben. Aber
Homer ſcheinet ungleich mehr Kenntniſſe der koͤrper-
lichen und ſittlichen Welt gehabt zu haben, als die,
fuͤr die er ſeine Geſaͤnge dichtete. Er ſcheinet viel
fremde, in ſeinem Lande noch verborgene Kenntniſſe
gehabt zu haben. Eben deswegen fiel er darauf,
ſie durch eine Menge außerordentlicher Dinge, de-
ren Erfindung ihm ſeine Kenntnis erleichterte, ſeine
Zuhoͤrer in Bewundrung zu ſezen. Es erhellet hier-
aus, daß die blos koͤrperliche Natur eben ſowol, als
die unſichtbare Geiſterwelt, auf Erfindung des Wun-
derbaren fuͤhret. Denn jede unerwartete und ſehr
erhoͤhte Kenntnis, des Moͤglichen oder Wuͤrklichen
aus beyden Welten, ſezt uns in Bewundrung.

Das Wunderbare iſt eine der vorzuͤglichſten aͤſthe-
tiſchen Eigenſchaften. Es hat einen großen Reiz fuͤr
die Gemuͤther der Menſchen, die es mit ungemeiner
[Spaltenumbruch]

Wun
Begierde vernehmen. Kommt denn irgend ein merk-
licher Grad der Wahrſcheinlichkeit dazu, ſo ſind ſie
ſehr geneigt, das Erdichtete fuͤr Wahr zu halten.
Darum iſt es ein ſehr kraͤftiges Mittel ſowol auf
die Vorſtellungskraft, als auf die Empfindung zu
wuͤrken. Der Hang zum Außerordentlichen iſt ſo
ſtark bey dem Menſchen, daß er es nicht nur mit
dem groͤßten Wolgefallen anhoͤret, ſondern in der
Trunkenheit der Bewundrung ſich auch willig dahin
leiten laͤßt, wohin man ihn fuͤhren will.

Wenn aber das Wunderbare ſeine Wuͤrkung thun
ſoll, ſo muß es, wie wir ſchon angemerkt haben,
glaubwuͤrdig und auch begreiflich ſeyn, damit man
es nicht ſo gleich verwerfe. Deswegen muß der
Dichter dabey genaue Ruͤkſicht auf die Kenntniſſe
der Perſonen, fuͤr die er dichtet nehmen. Kindern,
und einem Volke, deſſen Zuſtand in Abſicht auf
Kenntniſſe mit der Kindheit uͤbereinkommt, kann
die aͤſopiſche Fabel gar wol durch das Wunderbare
der vernuͤnftig denkenden und redenden Thiere ge-
fallen: uns ſind dieſe Thiere nichts Wunderbares;
wir wiſſen es, daß es der Dichter in dieſem Stuͤck
nicht im Ernſte meinet. So iſt beym Homer man-
ches, daß zu ſeiner Zeit ein aͤchtes Wunderbares
war, fuͤr uns nichts, wenn wir uns nicht in ſeine
Zeit verſetzen. Man kann gegenwaͤrtig das Wun-
derbare das aus der alten Goͤtterlehre geſchoͤpft
wird, ſo wenig mehr brauchen, als das, was ſich
auf das Syſtem der Gnomen und Sylphen gruͤndet.
Aber es war eine Zeit, und bey vielen unwiſſenden
Voͤlkern iſt ſie noch, da wahres und aͤchtes Wun-
derbares daraus konnte genommen werden.

Hingegen wuͤrde manches Wunderbare, in dem
Meſſias, das uns in angenehmes Erſtaunen ſezt,
bey einem ganz unwiſſenden Volke ſeiner voͤlligen
Unbegreiflichkeit halber nicht die geringſte Wuͤrkung
thun. Unſre Begriffe und Kenntniſſe von dem herr-
lichen Bau der Welt, die wir den Entdekungen der
Aſtronomen zu danken haben, und die ſchon an ſich
Wunderbar ſind, erleichtern das Begreifen der er-
ſtaunlichen Vorſtellungen des Dichters, die bey
keinem ganz unwiſſenden Volk Eindruk machen
koͤnnten.



<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0727" n="1280[1264]"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Wun</hi></fw><lb/>
und Dichtungskraft fehlet, die Scho&#x0364;pfung des Wun-<lb/>
derbaren. Wenn er &#x017F;chon mehr, als die, fu&#x0364;r die<lb/>
er arbeitet, weiß; wenn er tiefer, als &#x017F;ie in die ko&#x0364;r-<lb/>
perliche und gei&#x017F;tliche Welt hinein&#x017F;chaut, &#x017F;o giebt<lb/>
ihm die&#x017F;es Gelegenheit, &#x017F;eine Vor&#x017F;tellungen noch<lb/>
mehr zu erho&#x0364;hen, und &#x017F;ie bis ins Wunderbare zu<lb/>
treiben. Ha&#x0364;tte Klop&#x017F;tok &#x017F;o wenig von der un-<lb/>
ermeßlichen Gro&#x0364;ße des Weltgeba&#x0364;udes gewußt, als<lb/>
Homer, und ha&#x0364;tte er von der Gottheit &#x017F;o einge-<lb/>
&#x017F;chra&#x0364;nkte Begriffe gehabt, wie der griechi&#x017F;che Barde,<lb/>
&#x017F;o wu&#x0364;rde ein großer Theil des Wunderbaren in &#x017F;ei-<lb/>
nem Meßias weggeblieben &#x017F;eyn. Der Dichter, de&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en Kenntni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;chon weiter reichen, als die allge-<lb/>
meinen Kenntni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;einer Zeit, der eben dadurch<lb/>
Gelegenheit gehabt hat, die ho&#x0364;here Wollu&#x017F;t des Gei-<lb/>
&#x017F;tes, die Bewundrung zu fu&#x0364;hlen, wird dadurch an-<lb/>
gereizt, und auch in Stand ge&#x017F;ezt, andre durch das<lb/>
Wunderbare zu ru&#x0364;hren.</p><lb/>
          <p>Wir finden deswegen das Wunderbare weit &#x017F;el-<lb/>
tener in Oßians Gedichten, als in den andern uns<lb/>
bekannten Epopo&#x0364;en; denn der Barde lebte unter<lb/>
einem durchaus unwi&#x017F;&#x017F;enden Volke, und &#x017F;eine Kennt-<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e er&#x017F;trekten &#x017F;ich eben nicht merklich weiter, als<lb/>
die allgemeinen Kenntni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;einer Zeit giengen. Er<lb/>
fand in dem, was er mehr wi&#x017F;&#x017F;en mochte, als das<lb/>
Volk unter dem er lebte, wenig Veranla&#x017F;&#x017F;ung, &#x017F;eine<lb/>
Vor&#x017F;tellungen bis ins Wunderbare zu treiben. Aber<lb/>
Homer &#x017F;cheinet ungleich mehr Kenntni&#x017F;&#x017F;e der ko&#x0364;rper-<lb/>
lichen und &#x017F;ittlichen Welt gehabt zu haben, als die,<lb/>
fu&#x0364;r die er &#x017F;eine Ge&#x017F;a&#x0364;nge dichtete. Er &#x017F;cheinet viel<lb/>
fremde, in &#x017F;einem Lande noch verborgene Kenntni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
gehabt zu haben. Eben deswegen fiel er darauf,<lb/>
&#x017F;ie durch eine Menge außerordentlicher Dinge, de-<lb/>
ren Erfindung ihm &#x017F;eine Kenntnis erleichterte, &#x017F;eine<lb/>
Zuho&#x0364;rer in Bewundrung zu &#x017F;ezen. Es erhellet hier-<lb/>
aus, daß die blos ko&#x0364;rperliche Natur eben &#x017F;owol, als<lb/>
die un&#x017F;ichtbare Gei&#x017F;terwelt, auf Erfindung des Wun-<lb/>
derbaren fu&#x0364;hret. Denn jede unerwartete und &#x017F;ehr<lb/>
erho&#x0364;hte Kenntnis, des Mo&#x0364;glichen oder Wu&#x0364;rklichen<lb/>
aus beyden Welten, &#x017F;ezt uns in Bewundrung.</p><lb/>
          <p>Das Wunderbare i&#x017F;t eine der vorzu&#x0364;glich&#x017F;ten a&#x0364;&#x017F;the-<lb/>
ti&#x017F;chen Eigen&#x017F;chaften. Es hat einen großen Reiz fu&#x0364;r<lb/>
die Gemu&#x0364;ther der Men&#x017F;chen, die es mit ungemeiner<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Wun</hi></fw><lb/>
Begierde vernehmen. Kommt denn irgend ein merk-<lb/>
licher Grad der Wahr&#x017F;cheinlichkeit dazu, &#x017F;o &#x017F;ind &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ehr geneigt, das Erdichtete fu&#x0364;r Wahr zu halten.<lb/>
Darum i&#x017F;t es ein &#x017F;ehr kra&#x0364;ftiges Mittel &#x017F;owol auf<lb/>
die Vor&#x017F;tellungskraft, als auf die Empfindung zu<lb/>
wu&#x0364;rken. Der Hang zum Außerordentlichen i&#x017F;t &#x017F;o<lb/>
&#x017F;tark bey dem Men&#x017F;chen, daß er es nicht nur mit<lb/>
dem gro&#x0364;ßten Wolgefallen anho&#x0364;ret, &#x017F;ondern in der<lb/>
Trunkenheit der Bewundrung &#x017F;ich auch willig dahin<lb/>
leiten la&#x0364;ßt, wohin man ihn fu&#x0364;hren will.</p><lb/>
          <p>Wenn aber das Wunderbare &#x017F;eine Wu&#x0364;rkung thun<lb/>
&#x017F;oll, &#x017F;o muß es, wie wir &#x017F;chon angemerkt haben,<lb/>
glaubwu&#x0364;rdig und auch begreiflich &#x017F;eyn, damit man<lb/>
es nicht &#x017F;o gleich verwerfe. Deswegen muß der<lb/>
Dichter dabey genaue Ru&#x0364;k&#x017F;icht auf die Kenntni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
der Per&#x017F;onen, fu&#x0364;r die er dichtet nehmen. Kindern,<lb/>
und einem Volke, de&#x017F;&#x017F;en Zu&#x017F;tand in Ab&#x017F;icht auf<lb/>
Kenntni&#x017F;&#x017F;e mit der Kindheit u&#x0364;bereinkommt, kann<lb/>
die a&#x0364;&#x017F;opi&#x017F;che Fabel gar wol durch das Wunderbare<lb/>
der vernu&#x0364;nftig denkenden und redenden Thiere ge-<lb/>
fallen: uns &#x017F;ind die&#x017F;e Thiere nichts Wunderbares;<lb/>
wir wi&#x017F;&#x017F;en es, daß es der Dichter in die&#x017F;em Stu&#x0364;ck<lb/>
nicht im Ern&#x017F;te meinet. So i&#x017F;t beym Homer man-<lb/>
ches, daß zu &#x017F;einer Zeit ein a&#x0364;chtes Wunderbares<lb/>
war, fu&#x0364;r uns nichts, wenn wir uns nicht in &#x017F;eine<lb/>
Zeit ver&#x017F;etzen. Man kann gegenwa&#x0364;rtig das Wun-<lb/>
derbare das aus der alten Go&#x0364;tterlehre ge&#x017F;cho&#x0364;pft<lb/>
wird, &#x017F;o wenig mehr brauchen, als das, was &#x017F;ich<lb/>
auf das Sy&#x017F;tem der Gnomen und Sylphen gru&#x0364;ndet.<lb/>
Aber es war eine Zeit, und bey vielen unwi&#x017F;&#x017F;enden<lb/>
Vo&#x0364;lkern i&#x017F;t &#x017F;ie noch, da wahres und a&#x0364;chtes Wun-<lb/>
derbares daraus konnte genommen werden.</p><lb/>
          <p>Hingegen wu&#x0364;rde manches Wunderbare, in dem<lb/>
Me&#x017F;&#x017F;ias, das uns in angenehmes Er&#x017F;taunen &#x017F;ezt,<lb/>
bey einem ganz unwi&#x017F;&#x017F;enden Volke &#x017F;einer vo&#x0364;lligen<lb/>
Unbegreiflichkeit halber nicht die gering&#x017F;te Wu&#x0364;rkung<lb/>
thun. Un&#x017F;re Begriffe und Kenntni&#x017F;&#x017F;e von dem herr-<lb/>
lichen Bau der Welt, die wir den Entdekungen der<lb/>
A&#x017F;tronomen zu danken haben, und die &#x017F;chon an &#x017F;ich<lb/>
Wunderbar &#x017F;ind, erleichtern das Begreifen der er-<lb/>
&#x017F;taunlichen Vor&#x017F;tellungen des Dichters, die bey<lb/>
keinem ganz unwi&#x017F;&#x017F;enden Volk Eindruk machen<lb/>
ko&#x0364;nnten.</p>
        </div>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1280[1264]/0727] Wun Wun und Dichtungskraft fehlet, die Schoͤpfung des Wun- derbaren. Wenn er ſchon mehr, als die, fuͤr die er arbeitet, weiß; wenn er tiefer, als ſie in die koͤr- perliche und geiſtliche Welt hineinſchaut, ſo giebt ihm dieſes Gelegenheit, ſeine Vorſtellungen noch mehr zu erhoͤhen, und ſie bis ins Wunderbare zu treiben. Haͤtte Klopſtok ſo wenig von der un- ermeßlichen Groͤße des Weltgebaͤudes gewußt, als Homer, und haͤtte er von der Gottheit ſo einge- ſchraͤnkte Begriffe gehabt, wie der griechiſche Barde, ſo wuͤrde ein großer Theil des Wunderbaren in ſei- nem Meßias weggeblieben ſeyn. Der Dichter, deſ- ſen Kenntniſſe ſchon weiter reichen, als die allge- meinen Kenntniſſe ſeiner Zeit, der eben dadurch Gelegenheit gehabt hat, die hoͤhere Wolluſt des Gei- ſtes, die Bewundrung zu fuͤhlen, wird dadurch an- gereizt, und auch in Stand geſezt, andre durch das Wunderbare zu ruͤhren. Wir finden deswegen das Wunderbare weit ſel- tener in Oßians Gedichten, als in den andern uns bekannten Epopoͤen; denn der Barde lebte unter einem durchaus unwiſſenden Volke, und ſeine Kennt- niſſe erſtrekten ſich eben nicht merklich weiter, als die allgemeinen Kenntniſſe ſeiner Zeit giengen. Er fand in dem, was er mehr wiſſen mochte, als das Volk unter dem er lebte, wenig Veranlaſſung, ſeine Vorſtellungen bis ins Wunderbare zu treiben. Aber Homer ſcheinet ungleich mehr Kenntniſſe der koͤrper- lichen und ſittlichen Welt gehabt zu haben, als die, fuͤr die er ſeine Geſaͤnge dichtete. Er ſcheinet viel fremde, in ſeinem Lande noch verborgene Kenntniſſe gehabt zu haben. Eben deswegen fiel er darauf, ſie durch eine Menge außerordentlicher Dinge, de- ren Erfindung ihm ſeine Kenntnis erleichterte, ſeine Zuhoͤrer in Bewundrung zu ſezen. Es erhellet hier- aus, daß die blos koͤrperliche Natur eben ſowol, als die unſichtbare Geiſterwelt, auf Erfindung des Wun- derbaren fuͤhret. Denn jede unerwartete und ſehr erhoͤhte Kenntnis, des Moͤglichen oder Wuͤrklichen aus beyden Welten, ſezt uns in Bewundrung. Das Wunderbare iſt eine der vorzuͤglichſten aͤſthe- tiſchen Eigenſchaften. Es hat einen großen Reiz fuͤr die Gemuͤther der Menſchen, die es mit ungemeiner Begierde vernehmen. Kommt denn irgend ein merk- licher Grad der Wahrſcheinlichkeit dazu, ſo ſind ſie ſehr geneigt, das Erdichtete fuͤr Wahr zu halten. Darum iſt es ein ſehr kraͤftiges Mittel ſowol auf die Vorſtellungskraft, als auf die Empfindung zu wuͤrken. Der Hang zum Außerordentlichen iſt ſo ſtark bey dem Menſchen, daß er es nicht nur mit dem groͤßten Wolgefallen anhoͤret, ſondern in der Trunkenheit der Bewundrung ſich auch willig dahin leiten laͤßt, wohin man ihn fuͤhren will. Wenn aber das Wunderbare ſeine Wuͤrkung thun ſoll, ſo muß es, wie wir ſchon angemerkt haben, glaubwuͤrdig und auch begreiflich ſeyn, damit man es nicht ſo gleich verwerfe. Deswegen muß der Dichter dabey genaue Ruͤkſicht auf die Kenntniſſe der Perſonen, fuͤr die er dichtet nehmen. Kindern, und einem Volke, deſſen Zuſtand in Abſicht auf Kenntniſſe mit der Kindheit uͤbereinkommt, kann die aͤſopiſche Fabel gar wol durch das Wunderbare der vernuͤnftig denkenden und redenden Thiere ge- fallen: uns ſind dieſe Thiere nichts Wunderbares; wir wiſſen es, daß es der Dichter in dieſem Stuͤck nicht im Ernſte meinet. So iſt beym Homer man- ches, daß zu ſeiner Zeit ein aͤchtes Wunderbares war, fuͤr uns nichts, wenn wir uns nicht in ſeine Zeit verſetzen. Man kann gegenwaͤrtig das Wun- derbare das aus der alten Goͤtterlehre geſchoͤpft wird, ſo wenig mehr brauchen, als das, was ſich auf das Syſtem der Gnomen und Sylphen gruͤndet. Aber es war eine Zeit, und bey vielen unwiſſenden Voͤlkern iſt ſie noch, da wahres und aͤchtes Wun- derbares daraus konnte genommen werden. Hingegen wuͤrde manches Wunderbare, in dem Meſſias, das uns in angenehmes Erſtaunen ſezt, bey einem ganz unwiſſenden Volke ſeiner voͤlligen Unbegreiflichkeit halber nicht die geringſte Wuͤrkung thun. Unſre Begriffe und Kenntniſſe von dem herr- lichen Bau der Welt, die wir den Entdekungen der Aſtronomen zu danken haben, und die ſchon an ſich Wunderbar ſind, erleichtern das Begreifen der er- ſtaunlichen Vorſtellungen des Dichters, die bey keinem ganz unwiſſenden Volk Eindruk machen koͤnnten.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/727
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1280[1264]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/727>, abgerufen am 27.11.2024.