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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Vie
durch große Pracht und Feyerlichkeit ausserordentlich
zu rühren sind.

Es ist vielleicht nicht ausgemacht, aber doch höchst
wahrscheinlich, daß die Alten keinen vielstimmigen
Gesang gehabt haben. Jnsgemein schreibet man
seine Einführung einem englischen Bischoff Dünstan,
der im X Jahrhundert gelebt hat, zu. Aber der
große Galiläi sagt, daß nach allen von ihm ange-
stellten Untersuchungen sich ergebe, der vielstimmige
Gesang sey nicht früher, als 150 Jahre vor seiner
Zeit, aufgekommen. Diese Epoche würde gegen
das Jahr 1430 fallen. (+) Der Abbe Le-Beuf,
der sich sehr tief in Untersuchungen über die Be-
schaffenheit der ältern Kirchenmusik eingelassen, ver-
sichert, daß man die ältesten Spuhren des vielstim-
migen Gesanges erst gegen Ende des XII Jahrhun-
derts finde. (++) Er soll daher entstanden seyn, daß
auf gewissen Stellen der Lieder, besonders am Ende,
zwey Stimmen, die sonst durchaus im Unisonus
giengen, Terzen gegen einander gesungen haben.
Dieses nannte man Organizare in duplo. Wollte
man den Schluß auf das Wort Amen, oder Alle-
lujah,
dreystimmig machen, so bekam ein dritter
Sänger eine Stimme, die um eine Octave höher,
als die erste war, und zum vierstimmigen Schluß,
wurd auch die zweyte Stimm um eine Octave höher
genommen.

Noch im XIV Jahrhundert wurde der vielstim-
mige Gesang, wie der angeführte französische Schrift-
steller beweiset, von vielen für einen Mißbrauch,
und für eine Verderbung des alten guten Gesanges
gehalten; daher Papst Johannes XXII in einer Bulle
vom Jahre 1322 denselben einzuschränken suchte. (*)

Vierstimmig.
(Musik.)

Der Saz, der aus vier verschiedenen Stimmen
besteht. Weil der vollständige consonirende Drey-
klang, außer dem Grundtone noch drey andere Töne
in sich begreift (*), so gründet sich die Kunst des
vierstimmigen Sazes in so fern er von andern Arten
des Sazes verschieden ist, darauf, daß durchaus
die volle Harmonie genommen, und die verschiede-
nen Töne derselben so in die vier Stimmen vertheilt
[Spaltenumbruch]

Voll
werden, daß jede einen reinen und fließenden Ge-
sang habe.

Doch geht es nicht allemal an, die Töne der
vier Stimmen aus der vollständigen Harmonie zu
nehmen; man muß bald wegen der Auflösung der
Dissonanzen, bald des leichtern und schönen Gesan-
ges halber, bisweilen ein Jntervall daraus weglas-
sen, und dafür ein anderes verdoppeln. Selbst bey
dem Septimenaccord, der einen Ton mehr hat, als
der Dreyklang, ist es bisweilen nothwendig, daß die
Quinte weggelassen, und dagegen die Octave des
Basses verdoppelt werde.

Wo bey dem vierstimmigen Saze Verdoppelungen
nothwendig werden, muß man sich nach den Regeln
richten, die im vorhergehenden Artikel hierüber ge-
geben worden. (*)

Uebrigens ist anzumerken, daß zur Fertigkeit der
Kunst des reinen Sazes, überhaupt eine fleißige
Uebung in vierstimmigen Sachen, das nothwen-
digste sey. Wer in dem vierstimmigen Saz so ge-
übet ist, daß er alle Stimmen nicht nur rein, son-
dern zugleich leicht und singbar zu machen weiß,
hat die meisten Schwierigkeiten der Sezkunst über-
stiegen.

Die wahre Vollkommenheit eines vier und mehr-
stimmigen Tonstüks bestehet darin, daß würklich jede
Stimme einen schon an sich wolklingenden, leichten
und von den andern würklich verschiedenen Gesang
enthalte. Denn wo eine Stimme mehr die Art
einer bloßen Ripienstimme hat, oder öfters mit ei-
ner andern im Unisonus, oder in der Octave fort-
geht, da wird der Gesang mehr drey, als vierstim-
mig. Diese Vollkommenheit trift man in den
Werken der Neuern weit seltener an, als bey den
ältern Tonsezern, die strenger auf den guten Gesang
jeder der vier Stimmen hielten, als man gegenwär-
tig zu thun pflegt. Die besten Muster, die man den
angehenden Tonsezer empfehlen kann, sind unstreitig
die Kirchenlieder des unnachahmlichen J. S. Bachs.

Vollkommenheit.
(Schöne Künste.)

Vollkommen ist das, was zu seiner Völle gekom-
men, oder was gänzlich, ohne Mangel und Ueber-
fluß das ist, was es seyn soll. Demnach besteht

die
(+) S. Dessen Dialogo della Musica Antica e moderna.
(++) [Spaltenumbruch]
S. Dessen Traite historique et pratique sur le
[Spaltenumbruch] chant ecclesiastique. Paris
1741. 8. S. 74.
(*) S.
S. 90 in
dem ange-
zogenen
Werke.
(*) S.
Dreyklang.
(*) S.
auch Ver-
wechslung
S. 1234.
P p p p p p p 3

[Spaltenumbruch]

Vie
durch große Pracht und Feyerlichkeit auſſerordentlich
zu ruͤhren ſind.

Es iſt vielleicht nicht ausgemacht, aber doch hoͤchſt
wahrſcheinlich, daß die Alten keinen vielſtimmigen
Geſang gehabt haben. Jnsgemein ſchreibet man
ſeine Einfuͤhrung einem engliſchen Biſchoff Duͤnſtan,
der im X Jahrhundert gelebt hat, zu. Aber der
große Galilaͤi ſagt, daß nach allen von ihm ange-
ſtellten Unterſuchungen ſich ergebe, der vielſtimmige
Geſang ſey nicht fruͤher, als 150 Jahre vor ſeiner
Zeit, aufgekommen. Dieſe Epoche wuͤrde gegen
das Jahr 1430 fallen. (†) Der Abbe Le-Beuf,
der ſich ſehr tief in Unterſuchungen uͤber die Be-
ſchaffenheit der aͤltern Kirchenmuſik eingelaſſen, ver-
ſichert, daß man die aͤlteſten Spuhren des vielſtim-
migen Geſanges erſt gegen Ende des XII Jahrhun-
derts finde. (††) Er ſoll daher entſtanden ſeyn, daß
auf gewiſſen Stellen der Lieder, beſonders am Ende,
zwey Stimmen, die ſonſt durchaus im Uniſonus
giengen, Terzen gegen einander geſungen haben.
Dieſes nannte man Organizare in duplo. Wollte
man den Schluß auf das Wort Amen, oder Alle-
lujah,
dreyſtimmig machen, ſo bekam ein dritter
Saͤnger eine Stimme, die um eine Octave hoͤher,
als die erſte war, und zum vierſtimmigen Schluß,
wurd auch die zweyte Stimm um eine Octave hoͤher
genommen.

Noch im XIV Jahrhundert wurde der vielſtim-
mige Geſang, wie der angefuͤhrte franzoͤſiſche Schrift-
ſteller beweiſet, von vielen fuͤr einen Mißbrauch,
und fuͤr eine Verderbung des alten guten Geſanges
gehalten; daher Papſt Johannes XXII in einer Bulle
vom Jahre 1322 denſelben einzuſchraͤnken ſuchte. (*)

Vierſtimmig.
(Muſik.)

Der Saz, der aus vier verſchiedenen Stimmen
beſteht. Weil der vollſtaͤndige conſonirende Drey-
klang, außer dem Grundtone noch drey andere Toͤne
in ſich begreift (*), ſo gruͤndet ſich die Kunſt des
vierſtimmigen Sazes in ſo fern er von andern Arten
des Sazes verſchieden iſt, darauf, daß durchaus
die volle Harmonie genommen, und die verſchiede-
nen Toͤne derſelben ſo in die vier Stimmen vertheilt
[Spaltenumbruch]

Voll
werden, daß jede einen reinen und fließenden Ge-
ſang habe.

Doch geht es nicht allemal an, die Toͤne der
vier Stimmen aus der vollſtaͤndigen Harmonie zu
nehmen; man muß bald wegen der Aufloͤſung der
Diſſonanzen, bald des leichtern und ſchoͤnen Geſan-
ges halber, bisweilen ein Jntervall daraus weglaſ-
ſen, und dafuͤr ein anderes verdoppeln. Selbſt bey
dem Septimenaccord, der einen Ton mehr hat, als
der Dreyklang, iſt es bisweilen nothwendig, daß die
Quinte weggelaſſen, und dagegen die Octave des
Baſſes verdoppelt werde.

Wo bey dem vierſtimmigen Saze Verdoppelungen
nothwendig werden, muß man ſich nach den Regeln
richten, die im vorhergehenden Artikel hieruͤber ge-
geben worden. (*)

Uebrigens iſt anzumerken, daß zur Fertigkeit der
Kunſt des reinen Sazes, uͤberhaupt eine fleißige
Uebung in vierſtimmigen Sachen, das nothwen-
digſte ſey. Wer in dem vierſtimmigen Saz ſo ge-
uͤbet iſt, daß er alle Stimmen nicht nur rein, ſon-
dern zugleich leicht und ſingbar zu machen weiß,
hat die meiſten Schwierigkeiten der Sezkunſt uͤber-
ſtiegen.

Die wahre Vollkommenheit eines vier und mehr-
ſtimmigen Tonſtuͤks beſtehet darin, daß wuͤrklich jede
Stimme einen ſchon an ſich wolklingenden, leichten
und von den andern wuͤrklich verſchiedenen Geſang
enthalte. Denn wo eine Stimme mehr die Art
einer bloßen Ripienſtimme hat, oder oͤfters mit ei-
ner andern im Uniſonus, oder in der Octave fort-
geht, da wird der Geſang mehr drey, als vierſtim-
mig. Dieſe Vollkommenheit trift man in den
Werken der Neuern weit ſeltener an, als bey den
aͤltern Tonſezern, die ſtrenger auf den guten Geſang
jeder der vier Stimmen hielten, als man gegenwaͤr-
tig zu thun pflegt. Die beſten Muſter, die man den
angehenden Tonſezer empfehlen kann, ſind unſtreitig
die Kirchenlieder des unnachahmlichen J. S. Bachs.

Vollkommenheit.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Vollkommen iſt das, was zu ſeiner Voͤlle gekom-
men, oder was gaͤnzlich, ohne Mangel und Ueber-
fluß das iſt, was es ſeyn ſoll. Demnach beſteht

die
(†) S. Deſſen Dialogo della Muſica Antica e moderna.
(††) [Spaltenumbruch]
S. Deſſen Traité hiſtorique et pratique ſur le
[Spaltenumbruch] chant eccleſiaſtique. Paris
1741. 8. S. 74.
(*) S.
S. 90 in
dem ange-
zogenen
Werke.
(*) S.
Dreyklang.
(*) S.
auch Ver-
wechslung
S. 1234.
P p p p p p p 3
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[1239[1221]/0668] Vie Voll durch große Pracht und Feyerlichkeit auſſerordentlich zu ruͤhren ſind. Es iſt vielleicht nicht ausgemacht, aber doch hoͤchſt wahrſcheinlich, daß die Alten keinen vielſtimmigen Geſang gehabt haben. Jnsgemein ſchreibet man ſeine Einfuͤhrung einem engliſchen Biſchoff Duͤnſtan, der im X Jahrhundert gelebt hat, zu. Aber der große Galilaͤi ſagt, daß nach allen von ihm ange- ſtellten Unterſuchungen ſich ergebe, der vielſtimmige Geſang ſey nicht fruͤher, als 150 Jahre vor ſeiner Zeit, aufgekommen. Dieſe Epoche wuͤrde gegen das Jahr 1430 fallen. (†) Der Abbe Le-Beuf, der ſich ſehr tief in Unterſuchungen uͤber die Be- ſchaffenheit der aͤltern Kirchenmuſik eingelaſſen, ver- ſichert, daß man die aͤlteſten Spuhren des vielſtim- migen Geſanges erſt gegen Ende des XII Jahrhun- derts finde. (††) Er ſoll daher entſtanden ſeyn, daß auf gewiſſen Stellen der Lieder, beſonders am Ende, zwey Stimmen, die ſonſt durchaus im Uniſonus giengen, Terzen gegen einander geſungen haben. Dieſes nannte man Organizare in duplo. Wollte man den Schluß auf das Wort Amen, oder Alle- lujah, dreyſtimmig machen, ſo bekam ein dritter Saͤnger eine Stimme, die um eine Octave hoͤher, als die erſte war, und zum vierſtimmigen Schluß, wurd auch die zweyte Stimm um eine Octave hoͤher genommen. Noch im XIV Jahrhundert wurde der vielſtim- mige Geſang, wie der angefuͤhrte franzoͤſiſche Schrift- ſteller beweiſet, von vielen fuͤr einen Mißbrauch, und fuͤr eine Verderbung des alten guten Geſanges gehalten; daher Papſt Johannes XXII in einer Bulle vom Jahre 1322 denſelben einzuſchraͤnken ſuchte. (*) Vierſtimmig. (Muſik.) Der Saz, der aus vier verſchiedenen Stimmen beſteht. Weil der vollſtaͤndige conſonirende Drey- klang, außer dem Grundtone noch drey andere Toͤne in ſich begreift (*), ſo gruͤndet ſich die Kunſt des vierſtimmigen Sazes in ſo fern er von andern Arten des Sazes verſchieden iſt, darauf, daß durchaus die volle Harmonie genommen, und die verſchiede- nen Toͤne derſelben ſo in die vier Stimmen vertheilt werden, daß jede einen reinen und fließenden Ge- ſang habe. Doch geht es nicht allemal an, die Toͤne der vier Stimmen aus der vollſtaͤndigen Harmonie zu nehmen; man muß bald wegen der Aufloͤſung der Diſſonanzen, bald des leichtern und ſchoͤnen Geſan- ges halber, bisweilen ein Jntervall daraus weglaſ- ſen, und dafuͤr ein anderes verdoppeln. Selbſt bey dem Septimenaccord, der einen Ton mehr hat, als der Dreyklang, iſt es bisweilen nothwendig, daß die Quinte weggelaſſen, und dagegen die Octave des Baſſes verdoppelt werde. Wo bey dem vierſtimmigen Saze Verdoppelungen nothwendig werden, muß man ſich nach den Regeln richten, die im vorhergehenden Artikel hieruͤber ge- geben worden. (*) Uebrigens iſt anzumerken, daß zur Fertigkeit der Kunſt des reinen Sazes, uͤberhaupt eine fleißige Uebung in vierſtimmigen Sachen, das nothwen- digſte ſey. Wer in dem vierſtimmigen Saz ſo ge- uͤbet iſt, daß er alle Stimmen nicht nur rein, ſon- dern zugleich leicht und ſingbar zu machen weiß, hat die meiſten Schwierigkeiten der Sezkunſt uͤber- ſtiegen. Die wahre Vollkommenheit eines vier und mehr- ſtimmigen Tonſtuͤks beſtehet darin, daß wuͤrklich jede Stimme einen ſchon an ſich wolklingenden, leichten und von den andern wuͤrklich verſchiedenen Geſang enthalte. Denn wo eine Stimme mehr die Art einer bloßen Ripienſtimme hat, oder oͤfters mit ei- ner andern im Uniſonus, oder in der Octave fort- geht, da wird der Geſang mehr drey, als vierſtim- mig. Dieſe Vollkommenheit trift man in den Werken der Neuern weit ſeltener an, als bey den aͤltern Tonſezern, die ſtrenger auf den guten Geſang jeder der vier Stimmen hielten, als man gegenwaͤr- tig zu thun pflegt. Die beſten Muſter, die man den angehenden Tonſezer empfehlen kann, ſind unſtreitig die Kirchenlieder des unnachahmlichen J. S. Bachs. Vollkommenheit. (Schoͤne Kuͤnſte.) Vollkommen iſt das, was zu ſeiner Voͤlle gekom- men, oder was gaͤnzlich, ohne Mangel und Ueber- fluß das iſt, was es ſeyn ſoll. Demnach beſteht die (†) S. Deſſen Dialogo della Muſica Antica e moderna. (††) S. Deſſen Traité hiſtorique et pratique ſur le chant eccleſiaſtique. Paris 1741. 8. S. 74. (*) S. S. 90 in dem ange- zogenen Werke. (*) S. Dreyklang. (*) S. auch Ver- wechslung S. 1234. P p p p p p p 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1239[1221]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/668>, abgerufen am 24.11.2024.