Diese beyden zur Vollkommenheit des Verses erfo- derlichen Punkte, hat Hr. Schlegel sehr gründlich abgehandelt, und mit Beyspiehlen hinlänglich er- läutert. (*)
Drittens muß der Vers auch fließend und wol- klingend seyn. So wird er, wenn jedes Wort nicht nur für sich, sondern auch in dem Zusammen- hang, darin es vorkommt, leicht auszusprechen ist; wenn der Sinn desselben jedem Leser von Gehör das Schweere und Leichte der Sylben so darbiethet, daß er, ohne Suchen, jedes Verhältnis in Dauer und Nachdruk genau trift; und wenn die Folge der Syl- ben so ist, daß das Gehör bey jeder die folgende schon erwartet, so daß man nirgend stille stehen kann, bis man das Ende des Verses erreicht hat.
Alle diese Dinge betreffen aber nur die mechani- sche Vollkommenheit des Verses, die jedes Ohr empfinden würde, wenn man auch den Sinn der Worte nicht verstünde. Zur innern Vollkommen- heit des Verses wird nun auch erfodert, daß sein metrischer Gang uns etwas empfinden lasse, das den Eindruk des Sinnes unterstüzt. Man kann die ästhetische Kraft des Rhythmus am besten in der Musik fühlen, wo sie auch ohne Worte richtig empfunden wird. Da es nun kaum möglich ist, Regeln zu geben, durch welche für jeden Ausdruk der eigentliche Rhythmus zu finden wäre, so können wir hier nichts mehr thun, als dem Dichter das Studium der Musik empfehlen. Da wird er erfah- ren, wie man blos durch Rhythmus und ohne Worte verständlich mit dem Herzen sprechen könne. Zu- gleich aber wird er auch überzeuget werden, daß ei- nerley Rhythmus, nach Beschaffenheit der schnellen, oder langsamen Bewegung, verschiedenen Ausdruk bekommt. Wer sich die Mühe geben will, das, was wir in zwey andern Artikeln (*) davon ange- merkt, und mit Beyspiehlen erläutert haben, ge- nau zu studiren, wird hierüber ziemliches Licht be- kommen. Da ich mein Unvermögen fühle, dem Dichter über diesen wichtigen Punkt etwas bestimm- teres zu sagen; so muß ich mich begnügen, ihn auf die angeführte Abhandlung des Herrn Schlegels, und vornehmlich auf das, was Hr. Klopstok über diese Materie bis izt bekannt gemacht hat, zu ver- weisen. Das einzige, was sich vielleicht bestimmt sagen läßt, betrift die Länge und Kürze der Verse. Denn es scheinet ausgemacht zu seyn, daß eine [Spaltenumbruch]
Ver
Folge von ganz kurzen Versen sich zu einem leich- ten, fröhlichen, tändelnden, scherzhaften, auch zärt- lichen Ausdruk; eine Folge von langen Versen aber sich zu ganz ernsthaften und feyerlichen Empfindun- gen vorzüglich schike.
Das kürzeste Maaß des Verses, scheinet von zwey, und das längste von sechs, höchstens von acht Füßen zu seyn. Wäre der Vers kürzer, so würde das Ohr ihn nicht als etwas Ganzes, son- dern, als einen Theil, als ein Fragment empfinden; wär er länger, so könnte es ihn nicht mehr als ein Ganzes fassen. Wir sehen daher, daß schon ein Vers von sechs Füßen, so kurz sie auch seyen, zur Erleichterung des Gehöres einen kleinen Einschnitt haben muß, damit man nicht nöthig habe, alle Füße einzeln im Gefühl zu behalten, sondern den Vers in zwey Gliedern fassen könne.
Da man zu einem Verse mehr, oder weniger Füße nehmen kann; da diese von einerley, oder von verschiedenen Arten seyn können; da endlich in die- sem zweyten Falle die Füße in verschiedener Ord- nung stehen können, so entstehet daraus eine er- staunliche Mannigfaltigkeit der Verse, davon nur einige wenige Arten besondere Namen bekommen haben. Einige werden nach dem darin durchaus, oder vorzüglich gebrauchten Fuß, genennt; als jambische, trochäische Verse: andre haben ihre Na- men von der Zahl der Füße, wie der Pentameter, Hexameter; andre von der Art des Gedichts u. s. w. Von einigen Arten haben wir in besondern Artikeln gesprochen; wir überlassen aber eine umständlichere Betrachtung aller gewöhnlichen Arten der Verse denen, die besonders und ausführlich über den Bau der Verse zu schreiben Lust haben.
Versart.
Unter diesem Worte verstehen wir nicht die metri- sche Beschaffenheit eines einzigen Verses, wodurch er sich von andern unterscheidet, sondern die me- trische und rhythmische Einrichtung eines ganzen Gedichtes. Man müßte ein sehr hartes Gefühl ha- ben, um nicht zu merken, daß die Versart für den Jnhalt und den Ton des Gedichtes gar nicht gleich- gültig sey. Wer würde eine epische Erzählung in der kurzen anakreontischen Versart, oder ein tän- delndes Lied in dem feyerlichen Hexameter vertragen können?
Wenn
(*) Jn s. Abhand- lung von der Har- monie des Verses.
(*) S. Musik; Rhythmus
N n n n n n n 3
[Spaltenumbruch]
Ver
Dieſe beyden zur Vollkommenheit des Verſes erfo- derlichen Punkte, hat Hr. Schlegel ſehr gruͤndlich abgehandelt, und mit Beyſpiehlen hinlaͤnglich er- laͤutert. (*)
Drittens muß der Vers auch fließend und wol- klingend ſeyn. So wird er, wenn jedes Wort nicht nur fuͤr ſich, ſondern auch in dem Zuſammen- hang, darin es vorkommt, leicht auszuſprechen iſt; wenn der Sinn deſſelben jedem Leſer von Gehoͤr das Schweere und Leichte der Sylben ſo darbiethet, daß er, ohne Suchen, jedes Verhaͤltnis in Dauer und Nachdruk genau trift; und wenn die Folge der Syl- ben ſo iſt, daß das Gehoͤr bey jeder die folgende ſchon erwartet, ſo daß man nirgend ſtille ſtehen kann, bis man das Ende des Verſes erreicht hat.
Alle dieſe Dinge betreffen aber nur die mechani- ſche Vollkommenheit des Verſes, die jedes Ohr empfinden wuͤrde, wenn man auch den Sinn der Worte nicht verſtuͤnde. Zur innern Vollkommen- heit des Verſes wird nun auch erfodert, daß ſein metriſcher Gang uns etwas empfinden laſſe, das den Eindruk des Sinnes unterſtuͤzt. Man kann die aͤſthetiſche Kraft des Rhythmus am beſten in der Muſik fuͤhlen, wo ſie auch ohne Worte richtig empfunden wird. Da es nun kaum moͤglich iſt, Regeln zu geben, durch welche fuͤr jeden Ausdruk der eigentliche Rhythmus zu finden waͤre, ſo koͤnnen wir hier nichts mehr thun, als dem Dichter das Studium der Muſik empfehlen. Da wird er erfah- ren, wie man blos durch Rhythmus und ohne Worte verſtaͤndlich mit dem Herzen ſprechen koͤnne. Zu- gleich aber wird er auch uͤberzeuget werden, daß ei- nerley Rhythmus, nach Beſchaffenheit der ſchnellen, oder langſamen Bewegung, verſchiedenen Ausdruk bekommt. Wer ſich die Muͤhe geben will, das, was wir in zwey andern Artikeln (*) davon ange- merkt, und mit Beyſpiehlen erlaͤutert haben, ge- nau zu ſtudiren, wird hieruͤber ziemliches Licht be- kommen. Da ich mein Unvermoͤgen fuͤhle, dem Dichter uͤber dieſen wichtigen Punkt etwas beſtimm- teres zu ſagen; ſo muß ich mich begnuͤgen, ihn auf die angefuͤhrte Abhandlung des Herrn Schlegels, und vornehmlich auf das, was Hr. Klopſtok uͤber dieſe Materie bis izt bekannt gemacht hat, zu ver- weiſen. Das einzige, was ſich vielleicht beſtimmt ſagen laͤßt, betrift die Laͤnge und Kuͤrze der Verſe. Denn es ſcheinet ausgemacht zu ſeyn, daß eine [Spaltenumbruch]
Ver
Folge von ganz kurzen Verſen ſich zu einem leich- ten, froͤhlichen, taͤndelnden, ſcherzhaften, auch zaͤrt- lichen Ausdruk; eine Folge von langen Verſen aber ſich zu ganz ernſthaften und feyerlichen Empfindun- gen vorzuͤglich ſchike.
Das kuͤrzeſte Maaß des Verſes, ſcheinet von zwey, und das laͤngſte von ſechs, hoͤchſtens von acht Fuͤßen zu ſeyn. Waͤre der Vers kuͤrzer, ſo wuͤrde das Ohr ihn nicht als etwas Ganzes, ſon- dern, als einen Theil, als ein Fragment empfinden; waͤr er laͤnger, ſo koͤnnte es ihn nicht mehr als ein Ganzes faſſen. Wir ſehen daher, daß ſchon ein Vers von ſechs Fuͤßen, ſo kurz ſie auch ſeyen, zur Erleichterung des Gehoͤres einen kleinen Einſchnitt haben muß, damit man nicht noͤthig habe, alle Fuͤße einzeln im Gefuͤhl zu behalten, ſondern den Vers in zwey Gliedern faſſen koͤnne.
Da man zu einem Verſe mehr, oder weniger Fuͤße nehmen kann; da dieſe von einerley, oder von verſchiedenen Arten ſeyn koͤnnen; da endlich in die- ſem zweyten Falle die Fuͤße in verſchiedener Ord- nung ſtehen koͤnnen, ſo entſtehet daraus eine er- ſtaunliche Mannigfaltigkeit der Verſe, davon nur einige wenige Arten beſondere Namen bekommen haben. Einige werden nach dem darin durchaus, oder vorzuͤglich gebrauchten Fuß, genennt; als jambiſche, trochaͤiſche Verſe: andre haben ihre Na- men von der Zahl der Fuͤße, wie der Pentameter, Hexameter; andre von der Art des Gedichts u. ſ. w. Von einigen Arten haben wir in beſondern Artikeln geſprochen; wir uͤberlaſſen aber eine umſtaͤndlichere Betrachtung aller gewoͤhnlichen Arten der Verſe denen, die beſonders und ausfuͤhrlich uͤber den Bau der Verſe zu ſchreiben Luſt haben.
Versart.
Unter dieſem Worte verſtehen wir nicht die metri- ſche Beſchaffenheit eines einzigen Verſes, wodurch er ſich von andern unterſcheidet, ſondern die me- triſche und rhythmiſche Einrichtung eines ganzen Gedichtes. Man muͤßte ein ſehr hartes Gefuͤhl ha- ben, um nicht zu merken, daß die Versart fuͤr den Jnhalt und den Ton des Gedichtes gar nicht gleich- guͤltig ſey. Wer wuͤrde eine epiſche Erzaͤhlung in der kurzen anakreontiſchen Versart, oder ein taͤn- delndes Lied in dem feyerlichen Hexameter vertragen koͤnnen?
Wenn
(*) Jn ſ. Abhand- lung von der Har- monie des Verſes.
(*) S. Muſik; Rhythmus
N n n n n n n 3
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[1223[1205]/0652]
Ver
Ver
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derlichen Punkte, hat Hr. Schlegel ſehr gruͤndlich
abgehandelt, und mit Beyſpiehlen hinlaͤnglich er-
laͤutert. (*)
Drittens muß der Vers auch fließend und wol-
klingend ſeyn. So wird er, wenn jedes Wort
nicht nur fuͤr ſich, ſondern auch in dem Zuſammen-
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wenn der Sinn deſſelben jedem Leſer von Gehoͤr
das Schweere und Leichte der Sylben ſo darbiethet,
daß er, ohne Suchen, jedes Verhaͤltnis in Dauer und
Nachdruk genau trift; und wenn die Folge der Syl-
ben ſo iſt, daß das Gehoͤr bey jeder die folgende
ſchon erwartet, ſo daß man nirgend ſtille ſtehen
kann, bis man das Ende des Verſes erreicht hat.
Alle dieſe Dinge betreffen aber nur die mechani-
ſche Vollkommenheit des Verſes, die jedes Ohr
empfinden wuͤrde, wenn man auch den Sinn der
Worte nicht verſtuͤnde. Zur innern Vollkommen-
heit des Verſes wird nun auch erfodert, daß ſein
metriſcher Gang uns etwas empfinden laſſe, das
den Eindruk des Sinnes unterſtuͤzt. Man kann
die aͤſthetiſche Kraft des Rhythmus am beſten in
der Muſik fuͤhlen, wo ſie auch ohne Worte richtig
empfunden wird. Da es nun kaum moͤglich iſt,
Regeln zu geben, durch welche fuͤr jeden Ausdruk
der eigentliche Rhythmus zu finden waͤre, ſo koͤnnen
wir hier nichts mehr thun, als dem Dichter das
Studium der Muſik empfehlen. Da wird er erfah-
ren, wie man blos durch Rhythmus und ohne Worte
verſtaͤndlich mit dem Herzen ſprechen koͤnne. Zu-
gleich aber wird er auch uͤberzeuget werden, daß ei-
nerley Rhythmus, nach Beſchaffenheit der ſchnellen,
oder langſamen Bewegung, verſchiedenen Ausdruk
bekommt. Wer ſich die Muͤhe geben will, das,
was wir in zwey andern Artikeln (*) davon ange-
merkt, und mit Beyſpiehlen erlaͤutert haben, ge-
nau zu ſtudiren, wird hieruͤber ziemliches Licht be-
kommen. Da ich mein Unvermoͤgen fuͤhle, dem
Dichter uͤber dieſen wichtigen Punkt etwas beſtimm-
teres zu ſagen; ſo muß ich mich begnuͤgen, ihn auf
die angefuͤhrte Abhandlung des Herrn Schlegels,
und vornehmlich auf das, was Hr. Klopſtok uͤber
dieſe Materie bis izt bekannt gemacht hat, zu ver-
weiſen. Das einzige, was ſich vielleicht beſtimmt
ſagen laͤßt, betrift die Laͤnge und Kuͤrze der Verſe.
Denn es ſcheinet ausgemacht zu ſeyn, daß eine
Folge von ganz kurzen Verſen ſich zu einem leich-
ten, froͤhlichen, taͤndelnden, ſcherzhaften, auch zaͤrt-
lichen Ausdruk; eine Folge von langen Verſen aber
ſich zu ganz ernſthaften und feyerlichen Empfindun-
gen vorzuͤglich ſchike.
Das kuͤrzeſte Maaß des Verſes, ſcheinet von
zwey, und das laͤngſte von ſechs, hoͤchſtens von
acht Fuͤßen zu ſeyn. Waͤre der Vers kuͤrzer, ſo
wuͤrde das Ohr ihn nicht als etwas Ganzes, ſon-
dern, als einen Theil, als ein Fragment empfinden;
waͤr er laͤnger, ſo koͤnnte es ihn nicht mehr als ein
Ganzes faſſen. Wir ſehen daher, daß ſchon ein
Vers von ſechs Fuͤßen, ſo kurz ſie auch ſeyen, zur
Erleichterung des Gehoͤres einen kleinen Einſchnitt
haben muß, damit man nicht noͤthig habe, alle
Fuͤße einzeln im Gefuͤhl zu behalten, ſondern den
Vers in zwey Gliedern faſſen koͤnne.
Da man zu einem Verſe mehr, oder weniger
Fuͤße nehmen kann; da dieſe von einerley, oder von
verſchiedenen Arten ſeyn koͤnnen; da endlich in die-
ſem zweyten Falle die Fuͤße in verſchiedener Ord-
nung ſtehen koͤnnen, ſo entſtehet daraus eine er-
ſtaunliche Mannigfaltigkeit der Verſe, davon nur
einige wenige Arten beſondere Namen bekommen
haben. Einige werden nach dem darin durchaus,
oder vorzuͤglich gebrauchten Fuß, genennt; als
jambiſche, trochaͤiſche Verſe: andre haben ihre Na-
men von der Zahl der Fuͤße, wie der Pentameter,
Hexameter; andre von der Art des Gedichts u. ſ. w.
Von einigen Arten haben wir in beſondern Artikeln
geſprochen; wir uͤberlaſſen aber eine umſtaͤndlichere
Betrachtung aller gewoͤhnlichen Arten der Verſe
denen, die beſonders und ausfuͤhrlich uͤber den Bau
der Verſe zu ſchreiben Luſt haben.
Versart.
Unter dieſem Worte verſtehen wir nicht die metri-
ſche Beſchaffenheit eines einzigen Verſes, wodurch
er ſich von andern unterſcheidet, ſondern die me-
triſche und rhythmiſche Einrichtung eines ganzen
Gedichtes. Man muͤßte ein ſehr hartes Gefuͤhl ha-
ben, um nicht zu merken, daß die Versart fuͤr den
Jnhalt und den Ton des Gedichtes gar nicht gleich-
guͤltig ſey. Wer wuͤrde eine epiſche Erzaͤhlung in
der kurzen anakreontiſchen Versart, oder ein taͤn-
delndes Lied in dem feyerlichen Hexameter vertragen
koͤnnen?
Wenn
(*) Jn ſ.
Abhand-
lung von
der Har-
monie des
Verſes.
(*) S.
Muſik;
Rhythmus
N n n n n n n 3
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1223[1205]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/652>, abgerufen am 24.11.2024.
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