vielmehr hindernde als befördernde Anhäufung des Guten oder Bösen, des Angenehmen oder Wiedrigen. Wenn jemand geringer Sachen halber mit hohem Lob, oder schweerem Tadel überhäuft wird; so ver- fehlt das Lob oder die Rüge den Zwek, und anstatt davon gerühret zu werden, wird man verdrießlich. Ueberhaupt bestehet dieses Uebertriebene darin, daß man zu Erreichung seines Zweks mehr thut, als man thun sollte, und sein Geschüz überladet, daß es entweder zerspringt, oder sonst seine Würkung verliehret. Mancher will uns vergnügt machen, und schweift so aus, daß wir verdrießlich werden; oder er will unser Mitleiden erweken, und bewürkt nur Abscheu.
Das Uebertriebene der erstern Art, entstehet aus Mangel der Beurtheilung. Wer die Schranken, die in der Natur jeder Art der vorhandenen Dinge vorgeschrieben sind, nicht zu bemerken im Stand ist, wird von einer lebhaften Phantasie leicht verleitet, ihnen Eigenschaften anzudichten, die das Maaß ihrer Kräfte überschreiten. Es ist also fürnehmlich ein Fehler schwacher Köpfe von etwas wilder Einbil- dungskraft, daß sie alles über die Maaße vergrös- sern, oder verkleinern; weil sie die wahren Kräfte der Natur nicht kennen. Doch kann auch ein all- gemeines Vorurtheil der Zeit scharfsinnige Köpfe zu diesem Uebertriebenen verleiten. Wenigstens kann man den Corneille, der die Charaktere seiner tragi- schen Helden sehr oft übertreibet, nicht des Mangels an Einsicht und Scharfsinn beschuldigen: aber der Geschmak seiner Zeit war noch etwas romanhaft und abentheuerlich.
Die andere Art des Uebertriebenen scheinet aus Mangel des feineren, oder des richtigen Gefühles zu entstehen. Es giebt Menschen von so schwachem Gefühl, daß ihnen kein Gegenstand in seinen na- türlichen Schranken groß oder schön genug ist; sie merken nicht, daß ein Mensch betrübt ist, wenn er nicht kindisch klagt und weint; oder daß er zornig ist, wenn er nicht raset und alles um sich herum zerstöhret. Darum übertreiben sie auch alles, wenn sie andre in Empfindung sezen wollen. Ein lautes Geschrey machen, heißt bey ihnen verständlich reden; heulen nennen sie weinen; gewaltsame Sprünge und Gebehrden, sind ihnen Tanz. Hingegen ist stille Größe nach ihrem stumpfen Gefühl, Mangel an Leben; ein tiefsizender Schmerz, Unempfindlichkeit; ein sauftes, aber innigliches Vergnügen, Gleich- [Spaltenumbruch]
Ueb
gültigkeit. Jn diesem Fall artet das Uebertriebene ins Grobe und Pöbelhafte aus; denn insgemein fehlet dem Pöbel das feinere Gefühl, das Große, das mehr den innern, als den äußern Sinnen empfind- bar ist, zu bemerken. Daher kommt in den Tra- gödien das Heulen und Wehklagen, wodurch einige rühren, das Abscheuliche in Schandthaten, wodurch sie Abscheu erweken, und das Entsezliche und Ge- waltsame in den Unternehmungen, wodurch sie Furcht oder Bewundrung erregen wollen.
Das Uebertriebene kann aber auch aus einem ver- zärtelten Geschmak und Weichlichkeit herkommen. Wie es Menschen von stumpfem Gefühl giebt, deren Seele ein hartes Gehör hat, das nichts vernihmt, wenn man nicht übermäßig schreyt; so giebt es auch im Gegentheile solche, die den blödsichtigen gleichen, die vom hellen Tageslichte geblendet werden und nicht eher, als in der Dämmerung die Augen aufthun. Diese sind gewohnt die Sachen ins Kleine zu über- treiben, und alles so zu verfeinern, daß es seine natürliche Kraft verliehret. Es geht ihnen, wie den Wollüstlingen, die keinen Geschmak an natür- lich wolschmekenden Speisen mehr haben. Sie wol- len nicht vergnügt, sondern sinnlich entzükt seyn; statt einer ruhigen Empfindung der Zärtlichkeit, seh- nen sie sich nach gänzlicher Zerfließung des Herzens. Deswegen suchen sie alles so sehr zu verfeinern, daß sie nur noch die Quintessenz der Dinge behalten. Daher kommt so viel übertriebener Wiz, so viel übernatürliche Spizfündigkeit der Empfindung, so viel wollüstige Künsteley in Wendung und Ausdruk, so viel sybaritische Schonung, wo das Herz mit eini- ger Dreistigkeit sollte angegriffen werden.
Am meisten zeiget sich diese übertriebene Verfeine- rung in der gegenwärtigen Musik, besonders in den Operen, wo der einfache das Herz einnehmende Ge- sang gänzlich verdrängt ist und einem blos wollüsti- gen Küzeln des Gehöres hat weichen müssen. Es scheinet, daß mancher Sänger völlig vergessen habe, daß er die Gemüther der Zuhörer in Empfindung zu sezen habe, und daß er sein Verdienst darin suche, wie eine Nachtigal zu gurgeln, oder seine Stimme so hoch zu treiben, als ein Canarienvogel.
Dieses ist die schlimmeste Art des Uebertriebenen, weil es den Menschen allmählig des natürlichen Ge- fühles beraubet und ihn gewöhnt gleichsam von Luft zu leben, oder sich von Dünsten zu nähren, die doch keine Nahrung geben. Jnsgemein schleicht sich
dieses
Zweyter Theil. K k k k k k k
[Spaltenumbruch]
Ueb
vielmehr hindernde als befoͤrdernde Anhaͤufung des Guten oder Boͤſen, des Angenehmen oder Wiedrigen. Wenn jemand geringer Sachen halber mit hohem Lob, oder ſchweerem Tadel uͤberhaͤuft wird; ſo ver- fehlt das Lob oder die Ruͤge den Zwek, und anſtatt davon geruͤhret zu werden, wird man verdrießlich. Ueberhaupt beſtehet dieſes Uebertriebene darin, daß man zu Erreichung ſeines Zweks mehr thut, als man thun ſollte, und ſein Geſchuͤz uͤberladet, daß es entweder zerſpringt, oder ſonſt ſeine Wuͤrkung verliehret. Mancher will uns vergnuͤgt machen, und ſchweift ſo aus, daß wir verdrießlich werden; oder er will unſer Mitleiden erweken, und bewuͤrkt nur Abſcheu.
Das Uebertriebene der erſtern Art, entſtehet aus Mangel der Beurtheilung. Wer die Schranken, die in der Natur jeder Art der vorhandenen Dinge vorgeſchrieben ſind, nicht zu bemerken im Stand iſt, wird von einer lebhaften Phantaſie leicht verleitet, ihnen Eigenſchaften anzudichten, die das Maaß ihrer Kraͤfte uͤberſchreiten. Es iſt alſo fuͤrnehmlich ein Fehler ſchwacher Koͤpfe von etwas wilder Einbil- dungskraft, daß ſie alles uͤber die Maaße vergroͤſ- ſern, oder verkleinern; weil ſie die wahren Kraͤfte der Natur nicht kennen. Doch kann auch ein all- gemeines Vorurtheil der Zeit ſcharfſinnige Koͤpfe zu dieſem Uebertriebenen verleiten. Wenigſtens kann man den Corneille, der die Charaktere ſeiner tragi- ſchen Helden ſehr oft uͤbertreibet, nicht des Mangels an Einſicht und Scharfſinn beſchuldigen: aber der Geſchmak ſeiner Zeit war noch etwas romanhaft und abentheuerlich.
Die andere Art des Uebertriebenen ſcheinet aus Mangel des feineren, oder des richtigen Gefuͤhles zu entſtehen. Es giebt Menſchen von ſo ſchwachem Gefuͤhl, daß ihnen kein Gegenſtand in ſeinen na- tuͤrlichen Schranken groß oder ſchoͤn genug iſt; ſie merken nicht, daß ein Menſch betruͤbt iſt, wenn er nicht kindiſch klagt und weint; oder daß er zornig iſt, wenn er nicht raſet und alles um ſich herum zerſtoͤhret. Darum uͤbertreiben ſie auch alles, wenn ſie andre in Empfindung ſezen wollen. Ein lautes Geſchrey machen, heißt bey ihnen verſtaͤndlich reden; heulen nennen ſie weinen; gewaltſame Spruͤnge und Gebehrden, ſind ihnen Tanz. Hingegen iſt ſtille Groͤße nach ihrem ſtumpfen Gefuͤhl, Mangel an Leben; ein tiefſizender Schmerz, Unempfindlichkeit; ein ſauftes, aber innigliches Vergnuͤgen, Gleich- [Spaltenumbruch]
Ueb
guͤltigkeit. Jn dieſem Fall artet das Uebertriebene ins Grobe und Poͤbelhafte aus; denn insgemein fehlet dem Poͤbel das feinere Gefuͤhl, das Große, das mehr den innern, als den aͤußern Sinnen empfind- bar iſt, zu bemerken. Daher kommt in den Tra- goͤdien das Heulen und Wehklagen, wodurch einige ruͤhren, das Abſcheuliche in Schandthaten, wodurch ſie Abſcheu erweken, und das Entſezliche und Ge- waltſame in den Unternehmungen, wodurch ſie Furcht oder Bewundrung erregen wollen.
Das Uebertriebene kann aber auch aus einem ver- zaͤrtelten Geſchmak und Weichlichkeit herkommen. Wie es Menſchen von ſtumpfem Gefuͤhl giebt, deren Seele ein hartes Gehoͤr hat, das nichts vernihmt, wenn man nicht uͤbermaͤßig ſchreyt; ſo giebt es auch im Gegentheile ſolche, die den bloͤdſichtigen gleichen, die vom hellen Tageslichte geblendet werden und nicht eher, als in der Daͤmmerung die Augen aufthun. Dieſe ſind gewohnt die Sachen ins Kleine zu uͤber- treiben, und alles ſo zu verfeinern, daß es ſeine natuͤrliche Kraft verliehret. Es geht ihnen, wie den Wolluͤſtlingen, die keinen Geſchmak an natuͤr- lich wolſchmekenden Speiſen mehr haben. Sie wol- len nicht vergnuͤgt, ſondern ſinnlich entzuͤkt ſeyn; ſtatt einer ruhigen Empfindung der Zaͤrtlichkeit, ſeh- nen ſie ſich nach gaͤnzlicher Zerfließung des Herzens. Deswegen ſuchen ſie alles ſo ſehr zu verfeinern, daß ſie nur noch die Quinteſſenz der Dinge behalten. Daher kommt ſo viel uͤbertriebener Wiz, ſo viel uͤbernatuͤrliche Spizfuͤndigkeit der Empfindung, ſo viel wolluͤſtige Kuͤnſteley in Wendung und Ausdruk, ſo viel ſybaritiſche Schonung, wo das Herz mit eini- ger Dreiſtigkeit ſollte angegriffen werden.
Am meiſten zeiget ſich dieſe uͤbertriebene Verfeine- rung in der gegenwaͤrtigen Muſik, beſonders in den Operen, wo der einfache das Herz einnehmende Ge- ſang gaͤnzlich verdraͤngt iſt und einem blos wolluͤſti- gen Kuͤzeln des Gehoͤres hat weichen muͤſſen. Es ſcheinet, daß mancher Saͤnger voͤllig vergeſſen habe, daß er die Gemuͤther der Zuhoͤrer in Empfindung zu ſezen habe, und daß er ſein Verdienſt darin ſuche, wie eine Nachtigal zu gurgeln, oder ſeine Stimme ſo hoch zu treiben, als ein Canarienvogel.
Dieſes iſt die ſchlimmeſte Art des Uebertriebenen, weil es den Menſchen allmaͤhlig des natuͤrlichen Ge- fuͤhles beraubet und ihn gewoͤhnt gleichſam von Luft zu leben, oder ſich von Duͤnſten zu naͤhren, die doch keine Nahrung geben. Jnsgemein ſchleicht ſich
dieſes
Zweyter Theil. K k k k k k k
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[1195[1177]/0624]
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vielmehr hindernde als befoͤrdernde Anhaͤufung des
Guten oder Boͤſen, des Angenehmen oder Wiedrigen.
Wenn jemand geringer Sachen halber mit hohem
Lob, oder ſchweerem Tadel uͤberhaͤuft wird; ſo ver-
fehlt das Lob oder die Ruͤge den Zwek, und anſtatt
davon geruͤhret zu werden, wird man verdrießlich.
Ueberhaupt beſtehet dieſes Uebertriebene darin, daß
man zu Erreichung ſeines Zweks mehr thut, als
man thun ſollte, und ſein Geſchuͤz uͤberladet, daß
es entweder zerſpringt, oder ſonſt ſeine Wuͤrkung
verliehret. Mancher will uns vergnuͤgt machen,
und ſchweift ſo aus, daß wir verdrießlich werden;
oder er will unſer Mitleiden erweken, und bewuͤrkt
nur Abſcheu.
Das Uebertriebene der erſtern Art, entſtehet aus
Mangel der Beurtheilung. Wer die Schranken,
die in der Natur jeder Art der vorhandenen Dinge
vorgeſchrieben ſind, nicht zu bemerken im Stand iſt,
wird von einer lebhaften Phantaſie leicht verleitet,
ihnen Eigenſchaften anzudichten, die das Maaß ihrer
Kraͤfte uͤberſchreiten. Es iſt alſo fuͤrnehmlich ein
Fehler ſchwacher Koͤpfe von etwas wilder Einbil-
dungskraft, daß ſie alles uͤber die Maaße vergroͤſ-
ſern, oder verkleinern; weil ſie die wahren Kraͤfte
der Natur nicht kennen. Doch kann auch ein all-
gemeines Vorurtheil der Zeit ſcharfſinnige Koͤpfe zu
dieſem Uebertriebenen verleiten. Wenigſtens kann
man den Corneille, der die Charaktere ſeiner tragi-
ſchen Helden ſehr oft uͤbertreibet, nicht des Mangels
an Einſicht und Scharfſinn beſchuldigen: aber der
Geſchmak ſeiner Zeit war noch etwas romanhaft
und abentheuerlich.
Die andere Art des Uebertriebenen ſcheinet aus
Mangel des feineren, oder des richtigen Gefuͤhles
zu entſtehen. Es giebt Menſchen von ſo ſchwachem
Gefuͤhl, daß ihnen kein Gegenſtand in ſeinen na-
tuͤrlichen Schranken groß oder ſchoͤn genug iſt; ſie
merken nicht, daß ein Menſch betruͤbt iſt, wenn er
nicht kindiſch klagt und weint; oder daß er zornig
iſt, wenn er nicht raſet und alles um ſich herum
zerſtoͤhret. Darum uͤbertreiben ſie auch alles, wenn
ſie andre in Empfindung ſezen wollen. Ein lautes
Geſchrey machen, heißt bey ihnen verſtaͤndlich reden;
heulen nennen ſie weinen; gewaltſame Spruͤnge
und Gebehrden, ſind ihnen Tanz. Hingegen iſt ſtille
Groͤße nach ihrem ſtumpfen Gefuͤhl, Mangel an
Leben; ein tiefſizender Schmerz, Unempfindlichkeit;
ein ſauftes, aber innigliches Vergnuͤgen, Gleich-
guͤltigkeit. Jn dieſem Fall artet das Uebertriebene
ins Grobe und Poͤbelhafte aus; denn insgemein
fehlet dem Poͤbel das feinere Gefuͤhl, das Große, das
mehr den innern, als den aͤußern Sinnen empfind-
bar iſt, zu bemerken. Daher kommt in den Tra-
goͤdien das Heulen und Wehklagen, wodurch einige
ruͤhren, das Abſcheuliche in Schandthaten, wodurch
ſie Abſcheu erweken, und das Entſezliche und Ge-
waltſame in den Unternehmungen, wodurch ſie Furcht
oder Bewundrung erregen wollen.
Das Uebertriebene kann aber auch aus einem ver-
zaͤrtelten Geſchmak und Weichlichkeit herkommen.
Wie es Menſchen von ſtumpfem Gefuͤhl giebt, deren
Seele ein hartes Gehoͤr hat, das nichts vernihmt,
wenn man nicht uͤbermaͤßig ſchreyt; ſo giebt es auch
im Gegentheile ſolche, die den bloͤdſichtigen gleichen,
die vom hellen Tageslichte geblendet werden und nicht
eher, als in der Daͤmmerung die Augen aufthun.
Dieſe ſind gewohnt die Sachen ins Kleine zu uͤber-
treiben, und alles ſo zu verfeinern, daß es ſeine
natuͤrliche Kraft verliehret. Es geht ihnen, wie
den Wolluͤſtlingen, die keinen Geſchmak an natuͤr-
lich wolſchmekenden Speiſen mehr haben. Sie wol-
len nicht vergnuͤgt, ſondern ſinnlich entzuͤkt ſeyn;
ſtatt einer ruhigen Empfindung der Zaͤrtlichkeit, ſeh-
nen ſie ſich nach gaͤnzlicher Zerfließung des Herzens.
Deswegen ſuchen ſie alles ſo ſehr zu verfeinern, daß
ſie nur noch die Quinteſſenz der Dinge behalten.
Daher kommt ſo viel uͤbertriebener Wiz, ſo viel
uͤbernatuͤrliche Spizfuͤndigkeit der Empfindung, ſo
viel wolluͤſtige Kuͤnſteley in Wendung und Ausdruk,
ſo viel ſybaritiſche Schonung, wo das Herz mit eini-
ger Dreiſtigkeit ſollte angegriffen werden.
Am meiſten zeiget ſich dieſe uͤbertriebene Verfeine-
rung in der gegenwaͤrtigen Muſik, beſonders in den
Operen, wo der einfache das Herz einnehmende Ge-
ſang gaͤnzlich verdraͤngt iſt und einem blos wolluͤſti-
gen Kuͤzeln des Gehoͤres hat weichen muͤſſen. Es
ſcheinet, daß mancher Saͤnger voͤllig vergeſſen habe,
daß er die Gemuͤther der Zuhoͤrer in Empfindung zu
ſezen habe, und daß er ſein Verdienſt darin ſuche, wie
eine Nachtigal zu gurgeln, oder ſeine Stimme ſo
hoch zu treiben, als ein Canarienvogel.
Dieſes iſt die ſchlimmeſte Art des Uebertriebenen,
weil es den Menſchen allmaͤhlig des natuͤrlichen Ge-
fuͤhles beraubet und ihn gewoͤhnt gleichſam von Luft
zu leben, oder ſich von Duͤnſten zu naͤhren, die
doch keine Nahrung geben. Jnsgemein ſchleicht ſich
dieſes
Zweyter Theil. K k k k k k k
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1195[1177]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/624>, abgerufen am 24.11.2024.
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