Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.[Spaltenumbruch] Tra wurd die zwischen den Chören vorkommende Hand-lung Episodium genennt. Aristoteles sagt, daß die ältesten Chöre von Satyren gesungen worden, und Casaubonus (*) führt eine Stelle aus dem Didymus an, aus welcher erhellet, daß die Chöre des Trauer- spiehls ursprünglich Dithyramben, oder Lieder auf den Bacchus, abgesungen haben. Wenn man sich hiebey erinnert, daß die Alten die Geschichten einiger Götter bey gewissen heiligen Festen, durch allegori- sche Handlungen unter feyerlichen Gesängen vorge- stellt haben, wie in Aegypten die Geschichte des Osiris und der Jsis, in Syrien die Geschichte der Venus und des Adonis, in Griechenland die Ge- schichte der Ceres und Proserpina, imgleichen des Bacchus, und noch dabey bedenkt, daß die Trauer- spiehle sowol als die andern dramatischen Spiehle zu den feyerlichen Handlungen einiger heiligen Feste gehört haben; so wird es wahrscheinlich, daß das Drama überhaupt in seinem Ursprung nichts anders gewesen, als die Vorstellung einer geheimen Ge- schicht aus der Götterhistorie. Nach vielen Verän- derungen hat sich hernach, wie Aristoteles ausdrük- lich berichtet, seine ursprüngliche Natur verlohren, und ist das geworden, was es zu seiner Zeit gewe- sen. (+) Und hieraus läßt sich auch begreifen, woher die so große Verschiedenheit in den alten Nachrich- ten über den Ursprung des Trauerspiehls entstanden. Es ist aber der Mühe nicht werth hierüber weitläuf- tiger zu seyn. Vielleicht läßt sich der anscheinende Wiederspruch der sich in den Nachrichten der Alten findet, auch dadurch heben, daß man annihmt, die Tragödie sey in ihren Ursprung blos ein Gesang von traurigem Jnhalt gewesen, dadurch eine Art Rhapsodisten große Unglüksfälle fürs Geld besungen haben. Lucianus (*) führt ein altes Sprüchwort an, das dieses zu bestätigen scheint, und aus wel- chem abzunehmen ist, daß einige trojanische Flücht- linge, vermuthlich an einem Orte, da sie sich nach Zerstöhrung ihrer Stadt niedergelassen, einen Tra- gödiensänger gemiethet hatten, um sich die Zeit zu vertreiben, und daß dieser, ohne zu wissen, wer sie sind, die Trauergeschicht von der Zerstöhrung Troja gesungen habe. Aus den Trauerspiehlen der Griechen, die wir Tra Denn die Trauerspiehle des Aeschylus, der kurz vordem Sophokles gelebt hat, sind gegen das, was seine Nachfolger auf die Bühne gebracht haben, noch rohe, blos aus dem groben gearbeitete Ver- suche, aber Versuche, an denen bereits die Hand eines großen Meisters zu sehen ist. Man hält durchgehends dafür, daß das Trauer- Das griechische Trauerspiehl kommt uns in Ver- druks (*) De sa- tyrica poesi. (+) Pollas mitabolas metaballounsa e tragodia [unleserliches Material - 2 Zeichen fehlen]au- [Spaltenumbruch] sato, ip[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]i eskh[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt] ten iautes phusin. (*) Luc. in den Fi- schen. Zweyter Theil. H h h h h h h
[Spaltenumbruch] Tra wurd die zwiſchen den Choͤren vorkommende Hand-lung Epiſodium genennt. Ariſtoteles ſagt, daß die aͤlteſten Choͤre von Satyren geſungen worden, und Caſaubonus (*) fuͤhrt eine Stelle aus dem Didymus an, aus welcher erhellet, daß die Choͤre des Trauer- ſpiehls urſpruͤnglich Dithyramben, oder Lieder auf den Bacchus, abgeſungen haben. Wenn man ſich hiebey erinnert, daß die Alten die Geſchichten einiger Goͤtter bey gewiſſen heiligen Feſten, durch allegori- ſche Handlungen unter feyerlichen Geſaͤngen vorge- ſtellt haben, wie in Aegypten die Geſchichte des Oſiris und der Jſis, in Syrien die Geſchichte der Venus und des Adonis, in Griechenland die Ge- ſchichte der Ceres und Proſerpina, imgleichen des Bacchus, und noch dabey bedenkt, daß die Trauer- ſpiehle ſowol als die andern dramatiſchen Spiehle zu den feyerlichen Handlungen einiger heiligen Feſte gehoͤrt haben; ſo wird es wahrſcheinlich, daß das Drama uͤberhaupt in ſeinem Urſprung nichts anders geweſen, als die Vorſtellung einer geheimen Ge- ſchicht aus der Goͤtterhiſtorie. Nach vielen Veraͤn- derungen hat ſich hernach, wie Ariſtoteles ausdruͤk- lich berichtet, ſeine urſpruͤngliche Natur verlohren, und iſt das geworden, was es zu ſeiner Zeit gewe- ſen. (†) Und hieraus laͤßt ſich auch begreifen, woher die ſo große Verſchiedenheit in den alten Nachrich- ten uͤber den Urſprung des Trauerſpiehls entſtanden. Es iſt aber der Muͤhe nicht werth hieruͤber weitlaͤuf- tiger zu ſeyn. Vielleicht laͤßt ſich der anſcheinende Wiederſpruch der ſich in den Nachrichten der Alten findet, auch dadurch heben, daß man annihmt, die Tragoͤdie ſey in ihren Urſprung blos ein Geſang von traurigem Jnhalt geweſen, dadurch eine Art Rhapſodiſten große Ungluͤksfaͤlle fuͤrs Geld beſungen haben. Lucianus (*) fuͤhrt ein altes Spruͤchwort an, das dieſes zu beſtaͤtigen ſcheint, und aus wel- chem abzunehmen iſt, daß einige trojaniſche Fluͤcht- linge, vermuthlich an einem Orte, da ſie ſich nach Zerſtoͤhrung ihrer Stadt niedergelaſſen, einen Tra- goͤdienſaͤnger gemiethet hatten, um ſich die Zeit zu vertreiben, und daß dieſer, ohne zu wiſſen, wer ſie ſind, die Trauergeſchicht von der Zerſtoͤhrung Troja geſungen habe. Aus den Trauerſpiehlen der Griechen, die wir Tra Denn die Trauerſpiehle des Aeſchylus, der kurz vordem Sophokles gelebt hat, ſind gegen das, was ſeine Nachfolger auf die Buͤhne gebracht haben, noch rohe, blos aus dem groben gearbeitete Ver- ſuche, aber Verſuche, an denen bereits die Hand eines großen Meiſters zu ſehen iſt. Man haͤlt durchgehends dafuͤr, daß das Trauer- Das griechiſche Trauerſpiehl kommt uns in Ver- druks (*) De ſa- tyrica poeſi. (†) Πολλὰς μιταβολὰς μεταβαλλȣ̃ςα ἤ τϱαγῳδὶα [unleserliches Material – 2 Zeichen fehlen]αυ- [Spaltenumbruch] σατο, ίπ[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]ι ἔσχ[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt] τἠν ίαυτῆς φύσιν. (*) Luc. in den Fi- ſchen. Zweyter Theil. H h h h h h h
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Tra
Tra
wurd die zwiſchen den Choͤren vorkommende Hand-
lung Epiſodium genennt. Ariſtoteles ſagt, daß die
aͤlteſten Choͤre von Satyren geſungen worden, und
Caſaubonus (*) fuͤhrt eine Stelle aus dem Didymus
an, aus welcher erhellet, daß die Choͤre des Trauer-
ſpiehls urſpruͤnglich Dithyramben, oder Lieder auf
den Bacchus, abgeſungen haben. Wenn man ſich
hiebey erinnert, daß die Alten die Geſchichten einiger
Goͤtter bey gewiſſen heiligen Feſten, durch allegori-
ſche Handlungen unter feyerlichen Geſaͤngen vorge-
ſtellt haben, wie in Aegypten die Geſchichte des
Oſiris und der Jſis, in Syrien die Geſchichte der
Venus und des Adonis, in Griechenland die Ge-
ſchichte der Ceres und Proſerpina, imgleichen des
Bacchus, und noch dabey bedenkt, daß die Trauer-
ſpiehle ſowol als die andern dramatiſchen Spiehle zu
den feyerlichen Handlungen einiger heiligen Feſte
gehoͤrt haben; ſo wird es wahrſcheinlich, daß das
Drama uͤberhaupt in ſeinem Urſprung nichts anders
geweſen, als die Vorſtellung einer geheimen Ge-
ſchicht aus der Goͤtterhiſtorie. Nach vielen Veraͤn-
derungen hat ſich hernach, wie Ariſtoteles ausdruͤk-
lich berichtet, ſeine urſpruͤngliche Natur verlohren,
und iſt das geworden, was es zu ſeiner Zeit gewe-
ſen. (†) Und hieraus laͤßt ſich auch begreifen, woher
die ſo große Verſchiedenheit in den alten Nachrich-
ten uͤber den Urſprung des Trauerſpiehls entſtanden.
Es iſt aber der Muͤhe nicht werth hieruͤber weitlaͤuf-
tiger zu ſeyn. Vielleicht laͤßt ſich der anſcheinende
Wiederſpruch der ſich in den Nachrichten der Alten
findet, auch dadurch heben, daß man annihmt, die
Tragoͤdie ſey in ihren Urſprung blos ein Geſang
von traurigem Jnhalt geweſen, dadurch eine Art
Rhapſodiſten große Ungluͤksfaͤlle fuͤrs Geld beſungen
haben. Lucianus (*) fuͤhrt ein altes Spruͤchwort
an, das dieſes zu beſtaͤtigen ſcheint, und aus wel-
chem abzunehmen iſt, daß einige trojaniſche Fluͤcht-
linge, vermuthlich an einem Orte, da ſie ſich nach
Zerſtoͤhrung ihrer Stadt niedergelaſſen, einen Tra-
goͤdienſaͤnger gemiethet hatten, um ſich die Zeit zu
vertreiben, und daß dieſer, ohne zu wiſſen, wer ſie
ſind, die Trauergeſchicht von der Zerſtoͤhrung Troja
geſungen habe.
Aus den Trauerſpiehlen der Griechen, die wir
noch haben, laͤßt ſich ſehen, daß ſie ihre lezte Form
erſt zu den Zeiten des Sophokles bekommen haben.
Denn die Trauerſpiehle des Aeſchylus, der kurz vor
dem Sophokles gelebt hat, ſind gegen das, was
ſeine Nachfolger auf die Buͤhne gebracht haben,
noch rohe, blos aus dem groben gearbeitete Ver-
ſuche, aber Verſuche, an denen bereits die Hand
eines großen Meiſters zu ſehen iſt.
Man haͤlt durchgehends dafuͤr, daß das Trauer-
ſpiehl, ſo wie Sophokles es bearbeitet hat, in der
hoͤchſten Vollkommenheit, deren es faͤhig iſt, er-
ſcheine. Die Neuern haben auch, ſo weit ihr Ge-
nie und der Geſchmak es ihnen verſtattet haben,
dieſe Form, doch mit Ausſchließung der Choͤre, bey-
behalten. Ob durch dieſe Weglaſſung das Trauer-
ſpiehl gewonnen oder verlohren, wollen wir nicht
unterſuchen, da man izt durchgehends darin uͤber-
einkommt, daß im Trauerſpiehl nicht mehr ſoll ge-
ſungen werden, die Choͤre aber den Geſang noth-
wendig machen. Darin bilden ſich einige neuere
ein, dem Trauerſpiehl Vortheile verſchaft zu ſehen,
daß der Raum zwiſchen den Aufzuͤgen, der ehemals
durch die Geſaͤnge des Chors ausgefuͤllt worden, izt
beſſer dazu angewendet wird, daß die Handlung
hinter der Buͤhne inzwiſchen fortruͤket, welches bey
den Alten nicht geſchehen. Daß aber dieſes eine
Verbeſſerung ſey, wird nicht jedermann eingeſtehen.
Vielen kommt es, als ein elendes Huͤlfsmittel vor,
die Maͤngel in der Anordnung der Fabel zu bedeken.
Es waͤre zu verſuchen, was fuͤr eine Wuͤrkung es
thaͤte, wenn zwiſchen den Aufzuͤgen Choͤre erſchie-
nen, die durch feyerliche Geſaͤnge, einige Eindruͤke
des vorhergegangenen Aufzuges, noch tiefer einpraͤg-
ten. Freylich ſind dergleichen Aufzuͤge, da wir gar
zu ſehr alle feyerliche oͤffentliche Haudlungen einge-
hen laſſen, etwas fremde.
Das griechiſche Trauerſpiehl kommt uns in Ver-
gleichung des heutigen, beſonders des franzoͤſiſchen,
vor, wie die griechiſchen Statuen eines Phidias,
gegen die von Pigalen, oder gegen die gemahlten Bil-
der eines Watteau. Jenes zeiget bey der edelſten
Einfalt und in ſeiner nakenden Geſtalt eine Vollkom-
menheit, eine Groͤße, die ſich der ganzen Seele be-
maͤchtiget; dieſe ſcheinen durch Lebhaftigkeit der Ge-
behrden und der Stellungen, und durch redende
Minen ſchoͤn. Aber dieſe Gebehrden und Reden,
druken ganz gemeine und alltaͤgliche Dinge aus, die
im Gemuͤthe nichts, als die Lebhaftigkeit des Aus-
druks
(*) De ſa-
tyrica
poeſi.
(†) Πολλὰς μιταβολὰς μεταβαλλȣ̃ςα ἤ τϱαγῳδὶα __αυ-
σατο, ίπ_ι ἔσχ_ τἠν ίαυτῆς φύσιν.
(*) Luc.
in den Fi-
ſchen.
Zweyter Theil. H h h h h h h
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