Dieses wären also die Hauptgattungen des Trauer- spiehls. Es ist nicht zu zweifeln, daß ein Dichter, wenn er nur die Beschaffenheit der dramatischen Handlung überhaupt wol studirt, und die Gattung des Trauerspiehls gewählt hat, nicht bald den Weg finden sollte, dasselbe ordentlich und gründlich zu behandeln.
Es verdienet hier besonders angemerkt zu werden, auf wie vielerley Art das Trauerspiehl nüzlich seyn könne. Bey den beyden ersten Gattungen ist die- ses offenbar genug. Der Dichter hat unmittel- bare Gelegenheit dabey, das Gute in den Charakteren und Leidenschaften der Verehrung und Bewundrung der Zuschauer, das Böse der Verabscheuung und dem Haß derselben, darzustellen. Hier ist also der Nuzen unmittelbar und der Dichter kann leicht ver- meiden, daß der Einwurf, den Plato überhaupt ge- gen das Trauerspiehl macht, daß es durch Nachah- mung böser Sitten das Gemüth nach und nach an dieselben gewöhne, und den billigen Abscheu dafür schwäche, ihn nicht treffe. Er muß sich hüten, Mitleiden für böse Menschen zu erweken; das Laster muß er mit Abscheu, heftige Leidenschaften aber mit Furcht und Schreken zu begleiten suchen. Dieser Phi- losoph hält überhaupt die heftigen Leidenschaften für unanständig, und es scheinet, als wenn er auch blos deswegen das Trauerspiehl verwerfe, weil man den Menschen nicht zu heftigen Leidenschaften reizen soll.
Etwas gründliches ist ohne Zweifel in seiner Be- denklichkeit. Es giebt Leidenschaften, die, wenn man sie oft und stark fühlt, das Gemüth erniedri- gen, und die Nerven des Geistes schwächen. Von dieser Art sind die Zärtlichkeit und die Traurigkeit. Sie haben aber in den zwey ersten Gattungen sel- ten statt; wir werden gleich davon sprechen. Allein Abscheu vor großen Lastern, Furcht und Schreken, als Folgen von übertriebener Leidenschaft, können nicht zu weit getrieben werden. Man muß nur das Weichliche, Weibische oder gar Kindische ver- meiden.
Nur vor einer Art des Uebertriebenen muß der Dichter gewarnet werden. Die alten Dichter schei- nen in Behandlung der Charaktere und Leidenschaf- ten sich näher an der Natur gehalten zu haben, als die meisten Neuern. Diese übertreiben die Sachen gar zu oft. Mancher Dichter scheint nur den Menschen für grausam zu halten, der alles um sich herum ermordet; nur den für zaghaft, der die Luft [Spaltenumbruch]
Tra
mit Heulen und Jammern erfüllt, nur den für standhaft, der wie jene abentheuerliche Ritter in tausend Gefahren sich mit der größten Unbesonnen- heit stürzet, und ganze Heere erlegen will. Jn die- sen Fehler ist der große Corneille gar oft gefallen. Man sieht leicht, daß eine solche Behandlung der Leidenschaften und der Charaktere nicht nur von kei- nem Nuzen, sondern gar schädlich sey. Eine prah- lerische Größe erwekt keine Bewundrung mehr, und alles Uebertriebene in den Leidenschaften, die man uns vorbildet, wird kalt und ohne Kraft.
Liebe, Bewundrung, Haß und Abscheu, sind die Leidenschaften, welche die zwey ersteren Arten des Trauerspiehls in dem Zuschauer erweken sollen. Sie müssen aber nicht erzwungen, nicht durch übernatür- liche Gegenstände mit Gewalt, nicht durch Ueber- listung, wie bey Kindern, sondern auf eine natür- liche Weise, auf eine Art, die auf nachdenkende männliche Gemüther würkt, nach und nach erzeu- get werden. Man muß uns das Jnnere der Cha- raktere und Leidenschaften, nicht nur das Aeußere derselben sehen lassen.
Die dritte Art, oder das Trauerspiehl der Bege- benheiten, kann auf eine ihm eigene Art nüzlich werden. Der verehrungswürdige Marcus Aure- lius sagt in seinen moralischen Gedanken, das Trau- erspiehl sey zuerst erfunden worden, um die Men- schen zu erinnern, daß die Zufälle des Lebens unver- meidlich seyen, und sie zu lehren, dieselben mit Ge- duld zu ertragen (*), dieses ist ein Nuzen, den man aus dem Trauerspiehl ziehen kann. Man erhält ihn dadurch gewisser als durch die Geschichte, die uns alles von weitem zeiget, da das Schauspiehl, weil wir die Sachen vor uns sehen, ungleich stärker auf uns würket. Unglüksfälle, die zu unsren Zei- ten in entlegenen Ländern geschehen, rühren uns wenig, noch weniger die, welche durch Raum und Zeit zugleich entfernt sind. Man hat deswegen den wichtigsten Begebenheiten oft die Kraft der Dicht- kunst leihen müssen, welche uns die Gegenstände näher für das Gesicht bringt. Dieses ist die Absicht der Epopce, aber das Schauspiehl bringt sie uns würklich vor Augen und hat deswegen die größte Kraft.
Was demnach wichtige Unglüksfälle lehrreiches an sich haben, sowol durch sich selbst, als durch das verschiedene Betragen der Menschen, dabey kann dieses Trauerspiehl uns auf die vollkommenste Art
ver-
(*) S. Jn dem XI Buch.
[Spaltenumbruch]
Tra
Dieſes waͤren alſo die Hauptgattungen des Trauer- ſpiehls. Es iſt nicht zu zweifeln, daß ein Dichter, wenn er nur die Beſchaffenheit der dramatiſchen Handlung uͤberhaupt wol ſtudirt, und die Gattung des Trauerſpiehls gewaͤhlt hat, nicht bald den Weg finden ſollte, daſſelbe ordentlich und gruͤndlich zu behandeln.
Es verdienet hier beſonders angemerkt zu werden, auf wie vielerley Art das Trauerſpiehl nuͤzlich ſeyn koͤnne. Bey den beyden erſten Gattungen iſt die- ſes offenbar genug. Der Dichter hat unmittel- bare Gelegenheit dabey, das Gute in den Charakteren und Leidenſchaften der Verehrung und Bewundrung der Zuſchauer, das Boͤſe der Verabſcheuung und dem Haß derſelben, darzuſtellen. Hier iſt alſo der Nuzen unmittelbar und der Dichter kann leicht ver- meiden, daß der Einwurf, den Plato uͤberhaupt ge- gen das Trauerſpiehl macht, daß es durch Nachah- mung boͤſer Sitten das Gemuͤth nach und nach an dieſelben gewoͤhne, und den billigen Abſcheu dafuͤr ſchwaͤche, ihn nicht treffe. Er muß ſich huͤten, Mitleiden fuͤr boͤſe Menſchen zu erweken; das Laſter muß er mit Abſcheu, heftige Leidenſchaften aber mit Furcht und Schreken zu begleiten ſuchen. Dieſer Phi- loſoph haͤlt uͤberhaupt die heftigen Leidenſchaften fuͤr unanſtaͤndig, und es ſcheinet, als wenn er auch blos deswegen das Trauerſpiehl verwerfe, weil man den Menſchen nicht zu heftigen Leidenſchaften reizen ſoll.
Etwas gruͤndliches iſt ohne Zweifel in ſeiner Be- denklichkeit. Es giebt Leidenſchaften, die, wenn man ſie oft und ſtark fuͤhlt, das Gemuͤth erniedri- gen, und die Nerven des Geiſtes ſchwaͤchen. Von dieſer Art ſind die Zaͤrtlichkeit und die Traurigkeit. Sie haben aber in den zwey erſten Gattungen ſel- ten ſtatt; wir werden gleich davon ſprechen. Allein Abſcheu vor großen Laſtern, Furcht und Schreken, als Folgen von uͤbertriebener Leidenſchaft, koͤnnen nicht zu weit getrieben werden. Man muß nur das Weichliche, Weibiſche oder gar Kindiſche ver- meiden.
Nur vor einer Art des Uebertriebenen muß der Dichter gewarnet werden. Die alten Dichter ſchei- nen in Behandlung der Charaktere und Leidenſchaf- ten ſich naͤher an der Natur gehalten zu haben, als die meiſten Neuern. Dieſe uͤbertreiben die Sachen gar zu oft. Mancher Dichter ſcheint nur den Menſchen fuͤr grauſam zu halten, der alles um ſich herum ermordet; nur den fuͤr zaghaft, der die Luft [Spaltenumbruch]
Tra
mit Heulen und Jammern erfuͤllt, nur den fuͤr ſtandhaft, der wie jene abentheuerliche Ritter in tauſend Gefahren ſich mit der groͤßten Unbeſonnen- heit ſtuͤrzet, und ganze Heere erlegen will. Jn die- ſen Fehler iſt der große Corneille gar oft gefallen. Man ſieht leicht, daß eine ſolche Behandlung der Leidenſchaften und der Charaktere nicht nur von kei- nem Nuzen, ſondern gar ſchaͤdlich ſey. Eine prah- leriſche Groͤße erwekt keine Bewundrung mehr, und alles Uebertriebene in den Leidenſchaften, die man uns vorbildet, wird kalt und ohne Kraft.
Liebe, Bewundrung, Haß und Abſcheu, ſind die Leidenſchaften, welche die zwey erſteren Arten des Trauerſpiehls in dem Zuſchauer erweken ſollen. Sie muͤſſen aber nicht erzwungen, nicht durch uͤbernatuͤr- liche Gegenſtaͤnde mit Gewalt, nicht durch Ueber- liſtung, wie bey Kindern, ſondern auf eine natuͤr- liche Weiſe, auf eine Art, die auf nachdenkende maͤnnliche Gemuͤther wuͤrkt, nach und nach erzeu- get werden. Man muß uns das Jnnere der Cha- raktere und Leidenſchaften, nicht nur das Aeußere derſelben ſehen laſſen.
Die dritte Art, oder das Trauerſpiehl der Bege- benheiten, kann auf eine ihm eigene Art nuͤzlich werden. Der verehrungswuͤrdige Marcus Aure- lius ſagt in ſeinen moraliſchen Gedanken, das Trau- erſpiehl ſey zuerſt erfunden worden, um die Men- ſchen zu erinnern, daß die Zufaͤlle des Lebens unver- meidlich ſeyen, und ſie zu lehren, dieſelben mit Ge- duld zu ertragen (*), dieſes iſt ein Nuzen, den man aus dem Trauerſpiehl ziehen kann. Man erhaͤlt ihn dadurch gewiſſer als durch die Geſchichte, die uns alles von weitem zeiget, da das Schauſpiehl, weil wir die Sachen vor uns ſehen, ungleich ſtaͤrker auf uns wuͤrket. Ungluͤksfaͤlle, die zu unſren Zei- ten in entlegenen Laͤndern geſchehen, ruͤhren uns wenig, noch weniger die, welche durch Raum und Zeit zugleich entfernt ſind. Man hat deswegen den wichtigſten Begebenheiten oft die Kraft der Dicht- kunſt leihen muͤſſen, welche uns die Gegenſtaͤnde naͤher fuͤr das Geſicht bringt. Dieſes iſt die Abſicht der Epopce, aber das Schauſpiehl bringt ſie uns wuͤrklich vor Augen und hat deswegen die groͤßte Kraft.
Was demnach wichtige Ungluͤksfaͤlle lehrreiches an ſich haben, ſowol durch ſich ſelbſt, als durch das verſchiedene Betragen der Menſchen, dabey kann dieſes Trauerſpiehl uns auf die vollkommenſte Art
ver-
(*) S. Jn dem XI Buch.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0599"n="1170[1152]"/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Tra</hi></fw><lb/><p>Dieſes waͤren alſo die Hauptgattungen des Trauer-<lb/>ſpiehls. Es iſt nicht zu zweifeln, daß ein Dichter,<lb/>
wenn er nur die Beſchaffenheit der dramatiſchen<lb/>
Handlung uͤberhaupt wol ſtudirt, und die Gattung<lb/>
des Trauerſpiehls gewaͤhlt hat, nicht bald den Weg<lb/>
finden ſollte, daſſelbe ordentlich und gruͤndlich zu<lb/>
behandeln.</p><lb/><p>Es verdienet hier beſonders angemerkt zu werden,<lb/>
auf wie vielerley Art das Trauerſpiehl nuͤzlich ſeyn<lb/>
koͤnne. Bey den beyden erſten Gattungen iſt die-<lb/>ſes offenbar genug. Der Dichter hat unmittel-<lb/>
bare Gelegenheit dabey, das Gute in den Charakteren<lb/>
und Leidenſchaften der Verehrung und Bewundrung<lb/>
der Zuſchauer, das Boͤſe der Verabſcheuung und<lb/>
dem Haß derſelben, darzuſtellen. Hier iſt alſo der<lb/>
Nuzen unmittelbar und der Dichter kann leicht ver-<lb/>
meiden, daß der Einwurf, den <hirendition="#fr">Plato</hi> uͤberhaupt ge-<lb/>
gen das Trauerſpiehl macht, daß es durch Nachah-<lb/>
mung boͤſer Sitten das Gemuͤth nach und nach an<lb/>
dieſelben gewoͤhne, und den billigen Abſcheu dafuͤr<lb/>ſchwaͤche, ihn nicht treffe. Er muß ſich huͤten,<lb/>
Mitleiden fuͤr boͤſe Menſchen zu erweken; das Laſter<lb/>
muß er mit Abſcheu, heftige Leidenſchaften aber mit<lb/>
Furcht und Schreken zu begleiten ſuchen. Dieſer Phi-<lb/>
loſoph haͤlt uͤberhaupt die heftigen Leidenſchaften fuͤr<lb/>
unanſtaͤndig, und es ſcheinet, als wenn er auch blos<lb/>
deswegen das Trauerſpiehl verwerfe, weil man den<lb/>
Menſchen nicht zu heftigen Leidenſchaften reizen ſoll.</p><lb/><p>Etwas gruͤndliches iſt ohne Zweifel in ſeiner Be-<lb/>
denklichkeit. Es giebt Leidenſchaften, die, wenn<lb/>
man ſie oft und ſtark fuͤhlt, das Gemuͤth erniedri-<lb/>
gen, und die Nerven des Geiſtes ſchwaͤchen. Von<lb/>
dieſer Art ſind die Zaͤrtlichkeit und die Traurigkeit.<lb/>
Sie haben aber in den zwey erſten Gattungen ſel-<lb/>
ten ſtatt; wir werden gleich davon ſprechen. Allein<lb/>
Abſcheu vor großen Laſtern, Furcht und Schreken,<lb/>
als Folgen von uͤbertriebener Leidenſchaft, koͤnnen<lb/>
nicht zu weit getrieben werden. Man muß nur<lb/>
das Weichliche, Weibiſche oder gar Kindiſche ver-<lb/>
meiden.</p><lb/><p>Nur vor einer Art des Uebertriebenen muß der<lb/>
Dichter gewarnet werden. Die alten Dichter ſchei-<lb/>
nen in Behandlung der Charaktere und Leidenſchaf-<lb/>
ten ſich naͤher an der Natur gehalten zu haben, als<lb/>
die meiſten Neuern. Dieſe uͤbertreiben die Sachen<lb/>
gar zu oft. Mancher Dichter ſcheint nur den<lb/>
Menſchen fuͤr grauſam zu halten, der alles um ſich<lb/>
herum ermordet; nur den fuͤr zaghaft, der die Luft<lb/><cb/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Tra</hi></fw><lb/>
mit Heulen und Jammern erfuͤllt, nur den fuͤr<lb/>ſtandhaft, der wie jene abentheuerliche Ritter in<lb/>
tauſend Gefahren ſich mit der groͤßten Unbeſonnen-<lb/>
heit ſtuͤrzet, und ganze Heere erlegen will. Jn die-<lb/>ſen Fehler iſt der große <hirendition="#fr">Corneille</hi> gar oft gefallen.<lb/>
Man ſieht leicht, daß eine ſolche Behandlung der<lb/>
Leidenſchaften und der Charaktere nicht nur von kei-<lb/>
nem Nuzen, ſondern gar ſchaͤdlich ſey. Eine prah-<lb/>
leriſche Groͤße erwekt keine Bewundrung mehr, und<lb/>
alles Uebertriebene in den Leidenſchaften, die man<lb/>
uns vorbildet, wird kalt und ohne Kraft.</p><lb/><p>Liebe, Bewundrung, Haß und Abſcheu, ſind die<lb/>
Leidenſchaften, welche die zwey erſteren Arten des<lb/>
Trauerſpiehls in dem Zuſchauer erweken ſollen. Sie<lb/>
muͤſſen aber nicht erzwungen, nicht durch uͤbernatuͤr-<lb/>
liche Gegenſtaͤnde mit Gewalt, nicht durch Ueber-<lb/>
liſtung, wie bey Kindern, ſondern auf eine natuͤr-<lb/>
liche Weiſe, auf eine Art, die auf nachdenkende<lb/>
maͤnnliche Gemuͤther wuͤrkt, nach und nach erzeu-<lb/>
get werden. Man muß uns das Jnnere der Cha-<lb/>
raktere und Leidenſchaften, nicht nur das Aeußere<lb/>
derſelben ſehen laſſen.</p><lb/><p>Die dritte Art, oder das Trauerſpiehl der Bege-<lb/>
benheiten, kann auf eine ihm eigene Art nuͤzlich<lb/>
werden. Der verehrungswuͤrdige <hirendition="#fr">Marcus Aure-<lb/>
lius</hi>ſagt in ſeinen moraliſchen Gedanken, das Trau-<lb/>
erſpiehl ſey zuerſt erfunden worden, um die Men-<lb/>ſchen zu erinnern, daß die Zufaͤlle des Lebens unver-<lb/>
meidlich ſeyen, und ſie zu lehren, dieſelben mit Ge-<lb/>
duld zu ertragen <noteplace="foot"n="(*)">S.<lb/>
Jn dem <hirendition="#aq">XI</hi><lb/>
Buch.</note>, dieſes iſt ein Nuzen, den man<lb/>
aus dem Trauerſpiehl ziehen kann. Man erhaͤlt<lb/>
ihn dadurch gewiſſer als durch die Geſchichte, die<lb/>
uns alles von weitem zeiget, da das Schauſpiehl,<lb/>
weil wir die Sachen vor uns ſehen, ungleich ſtaͤrker<lb/>
auf uns wuͤrket. Ungluͤksfaͤlle, die zu unſren Zei-<lb/>
ten in entlegenen Laͤndern geſchehen, ruͤhren uns<lb/>
wenig, noch weniger die, welche durch Raum und<lb/>
Zeit zugleich entfernt ſind. Man hat deswegen den<lb/>
wichtigſten Begebenheiten oft die Kraft der Dicht-<lb/>
kunſt leihen muͤſſen, welche uns die Gegenſtaͤnde<lb/>
naͤher fuͤr das Geſicht bringt. Dieſes iſt die Abſicht<lb/>
der <hirendition="#fr">Epopce,</hi> aber das Schauſpiehl bringt ſie uns<lb/>
wuͤrklich vor Augen und hat deswegen die groͤßte<lb/>
Kraft.</p><lb/><p>Was demnach wichtige Ungluͤksfaͤlle lehrreiches<lb/>
an ſich haben, ſowol durch ſich ſelbſt, als durch das<lb/>
verſchiedene Betragen der Menſchen, dabey kann<lb/>
dieſes Trauerſpiehl uns auf die vollkommenſte Art<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ver-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[1170[1152]/0599]
Tra
Tra
Dieſes waͤren alſo die Hauptgattungen des Trauer-
ſpiehls. Es iſt nicht zu zweifeln, daß ein Dichter,
wenn er nur die Beſchaffenheit der dramatiſchen
Handlung uͤberhaupt wol ſtudirt, und die Gattung
des Trauerſpiehls gewaͤhlt hat, nicht bald den Weg
finden ſollte, daſſelbe ordentlich und gruͤndlich zu
behandeln.
Es verdienet hier beſonders angemerkt zu werden,
auf wie vielerley Art das Trauerſpiehl nuͤzlich ſeyn
koͤnne. Bey den beyden erſten Gattungen iſt die-
ſes offenbar genug. Der Dichter hat unmittel-
bare Gelegenheit dabey, das Gute in den Charakteren
und Leidenſchaften der Verehrung und Bewundrung
der Zuſchauer, das Boͤſe der Verabſcheuung und
dem Haß derſelben, darzuſtellen. Hier iſt alſo der
Nuzen unmittelbar und der Dichter kann leicht ver-
meiden, daß der Einwurf, den Plato uͤberhaupt ge-
gen das Trauerſpiehl macht, daß es durch Nachah-
mung boͤſer Sitten das Gemuͤth nach und nach an
dieſelben gewoͤhne, und den billigen Abſcheu dafuͤr
ſchwaͤche, ihn nicht treffe. Er muß ſich huͤten,
Mitleiden fuͤr boͤſe Menſchen zu erweken; das Laſter
muß er mit Abſcheu, heftige Leidenſchaften aber mit
Furcht und Schreken zu begleiten ſuchen. Dieſer Phi-
loſoph haͤlt uͤberhaupt die heftigen Leidenſchaften fuͤr
unanſtaͤndig, und es ſcheinet, als wenn er auch blos
deswegen das Trauerſpiehl verwerfe, weil man den
Menſchen nicht zu heftigen Leidenſchaften reizen ſoll.
Etwas gruͤndliches iſt ohne Zweifel in ſeiner Be-
denklichkeit. Es giebt Leidenſchaften, die, wenn
man ſie oft und ſtark fuͤhlt, das Gemuͤth erniedri-
gen, und die Nerven des Geiſtes ſchwaͤchen. Von
dieſer Art ſind die Zaͤrtlichkeit und die Traurigkeit.
Sie haben aber in den zwey erſten Gattungen ſel-
ten ſtatt; wir werden gleich davon ſprechen. Allein
Abſcheu vor großen Laſtern, Furcht und Schreken,
als Folgen von uͤbertriebener Leidenſchaft, koͤnnen
nicht zu weit getrieben werden. Man muß nur
das Weichliche, Weibiſche oder gar Kindiſche ver-
meiden.
Nur vor einer Art des Uebertriebenen muß der
Dichter gewarnet werden. Die alten Dichter ſchei-
nen in Behandlung der Charaktere und Leidenſchaf-
ten ſich naͤher an der Natur gehalten zu haben, als
die meiſten Neuern. Dieſe uͤbertreiben die Sachen
gar zu oft. Mancher Dichter ſcheint nur den
Menſchen fuͤr grauſam zu halten, der alles um ſich
herum ermordet; nur den fuͤr zaghaft, der die Luft
mit Heulen und Jammern erfuͤllt, nur den fuͤr
ſtandhaft, der wie jene abentheuerliche Ritter in
tauſend Gefahren ſich mit der groͤßten Unbeſonnen-
heit ſtuͤrzet, und ganze Heere erlegen will. Jn die-
ſen Fehler iſt der große Corneille gar oft gefallen.
Man ſieht leicht, daß eine ſolche Behandlung der
Leidenſchaften und der Charaktere nicht nur von kei-
nem Nuzen, ſondern gar ſchaͤdlich ſey. Eine prah-
leriſche Groͤße erwekt keine Bewundrung mehr, und
alles Uebertriebene in den Leidenſchaften, die man
uns vorbildet, wird kalt und ohne Kraft.
Liebe, Bewundrung, Haß und Abſcheu, ſind die
Leidenſchaften, welche die zwey erſteren Arten des
Trauerſpiehls in dem Zuſchauer erweken ſollen. Sie
muͤſſen aber nicht erzwungen, nicht durch uͤbernatuͤr-
liche Gegenſtaͤnde mit Gewalt, nicht durch Ueber-
liſtung, wie bey Kindern, ſondern auf eine natuͤr-
liche Weiſe, auf eine Art, die auf nachdenkende
maͤnnliche Gemuͤther wuͤrkt, nach und nach erzeu-
get werden. Man muß uns das Jnnere der Cha-
raktere und Leidenſchaften, nicht nur das Aeußere
derſelben ſehen laſſen.
Die dritte Art, oder das Trauerſpiehl der Bege-
benheiten, kann auf eine ihm eigene Art nuͤzlich
werden. Der verehrungswuͤrdige Marcus Aure-
lius ſagt in ſeinen moraliſchen Gedanken, das Trau-
erſpiehl ſey zuerſt erfunden worden, um die Men-
ſchen zu erinnern, daß die Zufaͤlle des Lebens unver-
meidlich ſeyen, und ſie zu lehren, dieſelben mit Ge-
duld zu ertragen (*), dieſes iſt ein Nuzen, den man
aus dem Trauerſpiehl ziehen kann. Man erhaͤlt
ihn dadurch gewiſſer als durch die Geſchichte, die
uns alles von weitem zeiget, da das Schauſpiehl,
weil wir die Sachen vor uns ſehen, ungleich ſtaͤrker
auf uns wuͤrket. Ungluͤksfaͤlle, die zu unſren Zei-
ten in entlegenen Laͤndern geſchehen, ruͤhren uns
wenig, noch weniger die, welche durch Raum und
Zeit zugleich entfernt ſind. Man hat deswegen den
wichtigſten Begebenheiten oft die Kraft der Dicht-
kunſt leihen muͤſſen, welche uns die Gegenſtaͤnde
naͤher fuͤr das Geſicht bringt. Dieſes iſt die Abſicht
der Epopce, aber das Schauſpiehl bringt ſie uns
wuͤrklich vor Augen und hat deswegen die groͤßte
Kraft.
Was demnach wichtige Ungluͤksfaͤlle lehrreiches
an ſich haben, ſowol durch ſich ſelbſt, als durch das
verſchiedene Betragen der Menſchen, dabey kann
dieſes Trauerſpiehl uns auf die vollkommenſte Art
ver-
(*) S.
Jn dem XI
Buch.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1170[1152]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/599>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.