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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Tra
rin ein tragischer Charakter den Hauptstoff aus-
macht; die zweyte Art würde eine tragische Leiden-
schaft; die dritte eine tragische Unternehmung, und
die vierte eine solche Begebenheit behandeln. Zwar
kommen Charaktere, Leidenschaften, Begebenheiten
und Unternehmungen in jedem Trauerspiehl vor;
dennoch aber unterscheidet sich eine Art von der an-
dern dadurch, daß eines, oder das andere dieser
vier Dinge, das Fundament der ganzen Handlung
ist, wie aus dem folgenden erhellen wird.

Es giebt Charaktere die verdienen vor einem gan-
zen Volk entweder zur Bewundrung und Verehrung,
oder zum Schreken, Abscheu, oder Haß entwikelt
zu werden. Dies ist so offenbar, daß es keiner
Ausführung bedärf. Hat sich ein Dichter vorgesezt
einen solchen Charakter im Trauerspiehl zu behan-
deln, so kommt es auf eine kluge Wahl der Hand-
lung an. Diese muß nicht nothwendig groß seyn;
denn auch in geringern Handlungen kann sich ein
sehr wichtiger Charakter entwikeln. So hat So-
phokles den Charakter des Tyrannen Kreon in seiner
Antigone in einem wahrhaftig tragischen Licht gezei-
get, obgleich die Handlung des Stüks an sich keine
vorzügliche Größe hat. Eine geringscheinende Sa-
che kann von wichtigen Folgen seyn; also könnte
der Minister eines eigensinnigen Monarchen das
Aeußerste versuchen, seinen Herren von einer an sich
wenig scheinbaren Sache, wegen der schlimmen Fol-
gen, die er davon voraussieht, abzuhalten, und da-
durch könnte der Dichter sich die Gelegenheit ma-
chen, einen sehr großen Charakter in ein helles
Licht zu sezen.

Jn dieser Art des Trauerspiehls würde die Hand-
lung durch die Größe der Charaktere wichtig; und
sie ist deswegen schäzbar, weil sie dem Dichter die
Wahl der Handlung sehr erleichtert. Man findet
überall in der Geschichte der Völker große Charak-
tere; aber selten sind große Handlungen oder Bege-
benheiten, die zur Vorstellung auf der Schaubühne
schiklich wären. So sind z. B. der Tod des Cato,
oder die Entlassung der Berenice von dem Hofe des
Titus keine Begebenheiten, die, als solche, sich zur
Tragödie schikten, wenn sie nicht durch die Größe
der Charaktere des Cato und Titus, dazu erhoben
würden. Darin besteht also das Wesen dieser Art,
daß sie ihre Größe, oder Würde durch den Charak-
ter der Personen, der sich dabey in vollem Lichte
zeiget, erhalten. So ist der Prometheus des Ae-
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Tra
schylus; ein sonderbares Trauerspiehl, das blos
durch den erstaunlichen Charakter des Prometheus
merkwürdig wird. So könnten der Tod des So-
krates, des Cicero, des Seneka, Stoff zu Tragö-
dien dieser Art geben. Die Handlung, oder Begeben-
heit würde in keinem dieser drey Fällen für die tragi-
sche Bühne groß genug seyn; aber der Charakter
des Helden könnte so behandelt werden, daß das
Stük die Größe und das Pathos, die zum Trauer-
spiehl erfodert werden, dadurch erhielten.

Trauerspiehle von Leidenschaften, wären solche,
an denen man die fatale Würkung großer aber vor-
übergehender Leidenschaften vor Augen legte, des
Zorns, der Eyfersucht, der Rache, des Neides und
dergleichen. Auch hier ist die Begebenheit selbst
das wenigste, nur muß freylich bey schädlichen oder
gefährlichen Leidenschaften, die Fabel so eingerichtet
seyn, daß dieselben unglükliche Würkungen haben. Jn
dem Leben des Alexanders kommen verschiedene tra-
gische Ausbrüche vorübergehender Leidenschaften vor,
die für das Trauerspiehl sehr bequäm wären. Der
Zorn, der den Tod des Klitus verursachte; die Reue,
die darauf folgte; die Raserey, während welcher er
Persepolis in Brand stekte, und noch mehr derglei-
chen vorübergehende Ausbrüche heftiger Leidenschaf-
ten, könnten auf eine wahrhaftig tragische Art be-
handelt werden.

Zu Trauerspiehlen von Begebenheiten, müssen
wichtige Unglüksfälle zum Grund der Handlung ge-
legt werden, die schon an sich interessant genug sind,
und die der Dichter noch dadurch merkwürdiger
macht, daß er die verschiedene Würkungen derselben
auf Personen von hohem Stand, Rang, von merk-
würdigem Charakter zeiget. Dem Staat den Un-
tergang drohende Niederlagen der Kriegesheere,
Pest, Verwüstungen ganzer Länder, plözlich ein-
reißende allgemeine Noth, sind Begebenheiten, die
leicht zu behandeln sind, und wobey der Dichter die
an der Handlung theilnehmende Personen, in sehr
merkwürdigen Gemüthsfassungen zeigen kann.

Endlich hat man noch Unternehmungen, die zum
Grund der Handlung können gelegt werden. Ver-
änderungen im Staat, Unterdrükung eines Tyran-
nen, Hintertreibung eines großen Projekts und der-
gleichen. Diese Art ist vielleicht die schweerste sowol
in Behandlung der Charaktere, als in Ansehung des
Mechanischen der Kunst.

Dieses

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Tra
rin ein tragiſcher Charakter den Hauptſtoff aus-
macht; die zweyte Art wuͤrde eine tragiſche Leiden-
ſchaft; die dritte eine tragiſche Unternehmung, und
die vierte eine ſolche Begebenheit behandeln. Zwar
kommen Charaktere, Leidenſchaften, Begebenheiten
und Unternehmungen in jedem Trauerſpiehl vor;
dennoch aber unterſcheidet ſich eine Art von der an-
dern dadurch, daß eines, oder das andere dieſer
vier Dinge, das Fundament der ganzen Handlung
iſt, wie aus dem folgenden erhellen wird.

Es giebt Charaktere die verdienen vor einem gan-
zen Volk entweder zur Bewundrung und Verehrung,
oder zum Schreken, Abſcheu, oder Haß entwikelt
zu werden. Dies iſt ſo offenbar, daß es keiner
Ausfuͤhrung bedaͤrf. Hat ſich ein Dichter vorgeſezt
einen ſolchen Charakter im Trauerſpiehl zu behan-
deln, ſo kommt es auf eine kluge Wahl der Hand-
lung an. Dieſe muß nicht nothwendig groß ſeyn;
denn auch in geringern Handlungen kann ſich ein
ſehr wichtiger Charakter entwikeln. So hat So-
phokles den Charakter des Tyrannen Kreon in ſeiner
Antigone in einem wahrhaftig tragiſchen Licht gezei-
get, obgleich die Handlung des Stuͤks an ſich keine
vorzuͤgliche Groͤße hat. Eine geringſcheinende Sa-
che kann von wichtigen Folgen ſeyn; alſo koͤnnte
der Miniſter eines eigenſinnigen Monarchen das
Aeußerſte verſuchen, ſeinen Herren von einer an ſich
wenig ſcheinbaren Sache, wegen der ſchlimmen Fol-
gen, die er davon vorausſieht, abzuhalten, und da-
durch koͤnnte der Dichter ſich die Gelegenheit ma-
chen, einen ſehr großen Charakter in ein helles
Licht zu ſezen.

Jn dieſer Art des Trauerſpiehls wuͤrde die Hand-
lung durch die Groͤße der Charaktere wichtig; und
ſie iſt deswegen ſchaͤzbar, weil ſie dem Dichter die
Wahl der Handlung ſehr erleichtert. Man findet
uͤberall in der Geſchichte der Voͤlker große Charak-
tere; aber ſelten ſind große Handlungen oder Bege-
benheiten, die zur Vorſtellung auf der Schaubuͤhne
ſchiklich waͤren. So ſind z. B. der Tod des Cato,
oder die Entlaſſung der Berenice von dem Hofe des
Titus keine Begebenheiten, die, als ſolche, ſich zur
Tragoͤdie ſchikten, wenn ſie nicht durch die Groͤße
der Charaktere des Cato und Titus, dazu erhoben
wuͤrden. Darin beſteht alſo das Weſen dieſer Art,
daß ſie ihre Groͤße, oder Wuͤrde durch den Charak-
ter der Perſonen, der ſich dabey in vollem Lichte
zeiget, erhalten. So iſt der Prometheus des Ae-
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Tra
ſchylus; ein ſonderbares Trauerſpiehl, das blos
durch den erſtaunlichen Charakter des Prometheus
merkwuͤrdig wird. So koͤnnten der Tod des So-
krates, des Cicero, des Seneka, Stoff zu Tragoͤ-
dien dieſer Art geben. Die Handlung, oder Begeben-
heit wuͤrde in keinem dieſer drey Faͤllen fuͤr die tragi-
ſche Buͤhne groß genug ſeyn; aber der Charakter
des Helden koͤnnte ſo behandelt werden, daß das
Stuͤk die Groͤße und das Pathos, die zum Trauer-
ſpiehl erfodert werden, dadurch erhielten.

Trauerſpiehle von Leidenſchaften, waͤren ſolche,
an denen man die fatale Wuͤrkung großer aber vor-
uͤbergehender Leidenſchaften vor Augen legte, des
Zorns, der Eyferſucht, der Rache, des Neides und
dergleichen. Auch hier iſt die Begebenheit ſelbſt
das wenigſte, nur muß freylich bey ſchaͤdlichen oder
gefaͤhrlichen Leidenſchaften, die Fabel ſo eingerichtet
ſeyn, daß dieſelben ungluͤkliche Wuͤrkungen haben. Jn
dem Leben des Alexanders kommen verſchiedene tra-
giſche Ausbruͤche voruͤbergehender Leidenſchaften vor,
die fuͤr das Trauerſpiehl ſehr bequaͤm waͤren. Der
Zorn, der den Tod des Klitus verurſachte; die Reue,
die darauf folgte; die Raſerey, waͤhrend welcher er
Perſepolis in Brand ſtekte, und noch mehr derglei-
chen voruͤbergehende Ausbruͤche heftiger Leidenſchaf-
ten, koͤnnten auf eine wahrhaftig tragiſche Art be-
handelt werden.

Zu Trauerſpiehlen von Begebenheiten, muͤſſen
wichtige Ungluͤksfaͤlle zum Grund der Handlung ge-
legt werden, die ſchon an ſich intereſſant genug ſind,
und die der Dichter noch dadurch merkwuͤrdiger
macht, daß er die verſchiedene Wuͤrkungen derſelben
auf Perſonen von hohem Stand, Rang, von merk-
wuͤrdigem Charakter zeiget. Dem Staat den Un-
tergang drohende Niederlagen der Kriegesheere,
Peſt, Verwuͤſtungen ganzer Laͤnder, ploͤzlich ein-
reißende allgemeine Noth, ſind Begebenheiten, die
leicht zu behandeln ſind, und wobey der Dichter die
an der Handlung theilnehmende Perſonen, in ſehr
merkwuͤrdigen Gemuͤthsfaſſungen zeigen kann.

Endlich hat man noch Unternehmungen, die zum
Grund der Handlung koͤnnen gelegt werden. Ver-
aͤnderungen im Staat, Unterdruͤkung eines Tyran-
nen, Hintertreibung eines großen Projekts und der-
gleichen. Dieſe Art iſt vielleicht die ſchweerſte ſowol
in Behandlung der Charaktere, als in Anſehung des
Mechaniſchen der Kunſt.

Dieſes
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[1169[1151]/0598] Tra Tra rin ein tragiſcher Charakter den Hauptſtoff aus- macht; die zweyte Art wuͤrde eine tragiſche Leiden- ſchaft; die dritte eine tragiſche Unternehmung, und die vierte eine ſolche Begebenheit behandeln. Zwar kommen Charaktere, Leidenſchaften, Begebenheiten und Unternehmungen in jedem Trauerſpiehl vor; dennoch aber unterſcheidet ſich eine Art von der an- dern dadurch, daß eines, oder das andere dieſer vier Dinge, das Fundament der ganzen Handlung iſt, wie aus dem folgenden erhellen wird. Es giebt Charaktere die verdienen vor einem gan- zen Volk entweder zur Bewundrung und Verehrung, oder zum Schreken, Abſcheu, oder Haß entwikelt zu werden. Dies iſt ſo offenbar, daß es keiner Ausfuͤhrung bedaͤrf. Hat ſich ein Dichter vorgeſezt einen ſolchen Charakter im Trauerſpiehl zu behan- deln, ſo kommt es auf eine kluge Wahl der Hand- lung an. Dieſe muß nicht nothwendig groß ſeyn; denn auch in geringern Handlungen kann ſich ein ſehr wichtiger Charakter entwikeln. So hat So- phokles den Charakter des Tyrannen Kreon in ſeiner Antigone in einem wahrhaftig tragiſchen Licht gezei- get, obgleich die Handlung des Stuͤks an ſich keine vorzuͤgliche Groͤße hat. Eine geringſcheinende Sa- che kann von wichtigen Folgen ſeyn; alſo koͤnnte der Miniſter eines eigenſinnigen Monarchen das Aeußerſte verſuchen, ſeinen Herren von einer an ſich wenig ſcheinbaren Sache, wegen der ſchlimmen Fol- gen, die er davon vorausſieht, abzuhalten, und da- durch koͤnnte der Dichter ſich die Gelegenheit ma- chen, einen ſehr großen Charakter in ein helles Licht zu ſezen. Jn dieſer Art des Trauerſpiehls wuͤrde die Hand- lung durch die Groͤße der Charaktere wichtig; und ſie iſt deswegen ſchaͤzbar, weil ſie dem Dichter die Wahl der Handlung ſehr erleichtert. Man findet uͤberall in der Geſchichte der Voͤlker große Charak- tere; aber ſelten ſind große Handlungen oder Bege- benheiten, die zur Vorſtellung auf der Schaubuͤhne ſchiklich waͤren. So ſind z. B. der Tod des Cato, oder die Entlaſſung der Berenice von dem Hofe des Titus keine Begebenheiten, die, als ſolche, ſich zur Tragoͤdie ſchikten, wenn ſie nicht durch die Groͤße der Charaktere des Cato und Titus, dazu erhoben wuͤrden. Darin beſteht alſo das Weſen dieſer Art, daß ſie ihre Groͤße, oder Wuͤrde durch den Charak- ter der Perſonen, der ſich dabey in vollem Lichte zeiget, erhalten. So iſt der Prometheus des Ae- ſchylus; ein ſonderbares Trauerſpiehl, das blos durch den erſtaunlichen Charakter des Prometheus merkwuͤrdig wird. So koͤnnten der Tod des So- krates, des Cicero, des Seneka, Stoff zu Tragoͤ- dien dieſer Art geben. Die Handlung, oder Begeben- heit wuͤrde in keinem dieſer drey Faͤllen fuͤr die tragi- ſche Buͤhne groß genug ſeyn; aber der Charakter des Helden koͤnnte ſo behandelt werden, daß das Stuͤk die Groͤße und das Pathos, die zum Trauer- ſpiehl erfodert werden, dadurch erhielten. Trauerſpiehle von Leidenſchaften, waͤren ſolche, an denen man die fatale Wuͤrkung großer aber vor- uͤbergehender Leidenſchaften vor Augen legte, des Zorns, der Eyferſucht, der Rache, des Neides und dergleichen. Auch hier iſt die Begebenheit ſelbſt das wenigſte, nur muß freylich bey ſchaͤdlichen oder gefaͤhrlichen Leidenſchaften, die Fabel ſo eingerichtet ſeyn, daß dieſelben ungluͤkliche Wuͤrkungen haben. Jn dem Leben des Alexanders kommen verſchiedene tra- giſche Ausbruͤche voruͤbergehender Leidenſchaften vor, die fuͤr das Trauerſpiehl ſehr bequaͤm waͤren. Der Zorn, der den Tod des Klitus verurſachte; die Reue, die darauf folgte; die Raſerey, waͤhrend welcher er Perſepolis in Brand ſtekte, und noch mehr derglei- chen voruͤbergehende Ausbruͤche heftiger Leidenſchaf- ten, koͤnnten auf eine wahrhaftig tragiſche Art be- handelt werden. Zu Trauerſpiehlen von Begebenheiten, muͤſſen wichtige Ungluͤksfaͤlle zum Grund der Handlung ge- legt werden, die ſchon an ſich intereſſant genug ſind, und die der Dichter noch dadurch merkwuͤrdiger macht, daß er die verſchiedene Wuͤrkungen derſelben auf Perſonen von hohem Stand, Rang, von merk- wuͤrdigem Charakter zeiget. Dem Staat den Un- tergang drohende Niederlagen der Kriegesheere, Peſt, Verwuͤſtungen ganzer Laͤnder, ploͤzlich ein- reißende allgemeine Noth, ſind Begebenheiten, die leicht zu behandeln ſind, und wobey der Dichter die an der Handlung theilnehmende Perſonen, in ſehr merkwuͤrdigen Gemuͤthsfaſſungen zeigen kann. Endlich hat man noch Unternehmungen, die zum Grund der Handlung koͤnnen gelegt werden. Ver- aͤnderungen im Staat, Unterdruͤkung eines Tyran- nen, Hintertreibung eines großen Projekts und der- gleichen. Dieſe Art iſt vielleicht die ſchweerſte ſowol in Behandlung der Charaktere, als in Anſehung des Mechaniſchen der Kunſt. Dieſes

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1169[1151]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/598>, abgerufen am 24.11.2024.