Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Scha
behandeln wollte, fürtreflich, und zum Drama sehr
unschiklich seyn. Hier muß der wesentliche Theil
der Handlung, auf den das meiste ankommt, noth-
wendig vor unsern Augen vorgehen, und nicht blos
erzählet werden.

Diese Foderungen betreffen nur das Jnteressante
und Anlokende des Schauspiehles. Jn so fern es
nun zugleich ein den schönen Künsten würdiges und
nüzliches Werk seyn soll, muß es auch noch andern
Foderungen genug thun. Zwar muß man bey Ver-
fertigung des Schauspiehles nicht den unmittelbaren
moralischen Nuzen, sondern jene, als die wesentli-
chen Foderungen vorzüglich vor Augen haben. Der
Schauplaz ist vornehmlich ein Ort des lebhaften
Zeitvertreibes, nicht eine Schule der Sitten; er
nihmt diesen Charakter nur zufällig an. Aber das
ist wesentlich, daß der Zeitvertreib nicht zugleich
schädlich sey. Der dramatische Dichter kann sich
also dieses zur Maxime machen, daß er, um seinen
Beruf gemäß zu handeln, die versammelte Menge
unschädlich lebhaft zu belustigen, zugleich aber, so
weit dieses mit jenem bestehen kann, nüzlich zu un-
terhalten habe. Hier gilt vorzüglich die Regel des
Horaz. Omne tulit punctum qui miscuit utile dulci.

Unschädlich wird das Drama, wenn guter Ge-
schmak alles, was man dabey sieht und höret, beglei-
tet; wenn in Absicht auf die äußern Sitten, und
die innere Gemüthsbeschaffenheit, nichts unanstän-
diges, nichts unsittliches, nichts lasterhaftes, oder
schändliches, als belustigend, angenehm, oder vor-
theilhaft vorgestellt wird; wenn das, was den Zu-
schauer hauptsächlich ergözt, das, an dessen Vorstel-
lung er das größte Wolgefallen hat, weder unsitt-
lich, noch auf irgend eine Weise schädlich ist.

Es gehört viel Verstand, Kenntnis des Menschen,
und große Erfahrung dazu, diesen Foderungen ge-
nug zu thun. Denn viel Dinge, die sehr interes-
sant und unterhaltend sind, scheinen oft unschäd-
lich, und können es doch durch ganz natürliche Fol-
gen werden. So ist es nicht nur an sich gar nicht
schädlich, sondern für viele Gemüther nüzlich, durch
Mitleiden gerührt zu werden: Man intereßirt sich
mit ungemeiner Rührung für die leidende Tugend,
nihmt herzlichen Antheil an dem Unglük, oder wie-
drigen Schiksal unschuldiger Menschen. Wir se-
hen daher, daß die zärtlich rührenden Schauspiehle
durchgehends großen Beyfall finden. Aber es ge-
hört wahrhaftig Vorsichtigkeit dazu, wenn sie nicht
[Spaltenumbruch]

Scha
vielen schädlich werden sollen. Ein einziger beson-
derer Fall, wird die Wichtigkeit dieser Anmerkung
bestätigen. Gute, aber dabey etwas schwache Ge-
müther, finden die größte Wollust, an zärtlichem
Mitleiden, und man hat zu befürchten, daß junge
Personen von solchem Gemüthe, durch rührend trau-
rige Scenen, nicht nur von Vergehungen und Ue-
bereilungen, dadurch sie veranlasset worden, nicht
abgeschrekt, sondern so gar dazu verleitet werden.
Jch könnte mehr, als ein Beyspiehl anführen, da
schwache Menschen durch einen vermeintlich erbauli-
chen, und daher beneidungswürdigen Tod hingerich-
teter Missethäter, verleitet worden, sich einen sol-
chen auch zuzuziehen.

Auch hat man Beyspiehle, daß offenbare und
verabschenhungswürdige Laster blos aus Unvorsich-
tigkeit auf der Schaubühne etwas so lustiges ange-
nommen haben, daß unbedachtsame Menschen, nicht
nur keinen Abschen, sondern gar Reizung, oder An-
lokung dafür gefühlt haben. Hievon hat man ein
merkwürdiges Beyspiehl an der berühmten comischen
Oper, die unter dem Namen the Beggars Opera
bekannt ist; darin die Lebensart und der Charakter
des liederlichsten Räubergesindels auf eine sehr comi-
sche Art geschildert wird. Man will in London, wo
das Stük seit vielen Jahren ofte auf die Schau-
bühne kommt, zuverläßig erfahren haben, daß da-
durch viele zu dieser verworfenen Lebensart verleitet
worden. Deswegen ist es voriges Jahr in ernst-
liche Ueberlegung gekommen, dieses Lieblingsstük
der Einwohner in London durch ein Gesez von der
Schaubühne zu verbannen. Daran hat der Ver-
fasser des Stüks, der ganz andre Absichten dabey
hatte, wol nicht gedacht.

So sind nach meinem Bedenken alle listige und
mit Genie ausgedachte und ausgeführte Betrüge-
reyen der Bedienten, die so häufig in Comödien
vorkommen, auf ähnliche Weise für den zuschauen-
den Pöbel schädlich, wenn gleich der Dichter die
Vorsichtigkeit braucht, sie zulezt zu beschämen. Die-
ses beweiset nun hinlänglich, daß man große Vor-
sichtigkeit anwenden müsse, auch das mittelbar schäd-
liche zu vermeiden.

Wir haben vorher angemerkt, daß lebhafte, da-
bey unschädliche Belustigung die Haupteigenschaft
eines guten Schauspiehles sey, aber einen Vorzug
mehr dadurch bekomme, wenn es auch unmittelbar
nüzlich werde. Dieses kann es durch vielerley Mit-

tel

[Spaltenumbruch]

Scha
behandeln wollte, fuͤrtreflich, und zum Drama ſehr
unſchiklich ſeyn. Hier muß der weſentliche Theil
der Handlung, auf den das meiſte ankommt, noth-
wendig vor unſern Augen vorgehen, und nicht blos
erzaͤhlet werden.

Dieſe Foderungen betreffen nur das Jntereſſante
und Anlokende des Schauſpiehles. Jn ſo fern es
nun zugleich ein den ſchoͤnen Kuͤnſten wuͤrdiges und
nuͤzliches Werk ſeyn ſoll, muß es auch noch andern
Foderungen genug thun. Zwar muß man bey Ver-
fertigung des Schauſpiehles nicht den unmittelbaren
moraliſchen Nuzen, ſondern jene, als die weſentli-
chen Foderungen vorzuͤglich vor Augen haben. Der
Schauplaz iſt vornehmlich ein Ort des lebhaften
Zeitvertreibes, nicht eine Schule der Sitten; er
nihmt dieſen Charakter nur zufaͤllig an. Aber das
iſt weſentlich, daß der Zeitvertreib nicht zugleich
ſchaͤdlich ſey. Der dramatiſche Dichter kann ſich
alſo dieſes zur Maxime machen, daß er, um ſeinen
Beruf gemaͤß zu handeln, die verſammelte Menge
unſchaͤdlich lebhaft zu beluſtigen, zugleich aber, ſo
weit dieſes mit jenem beſtehen kann, nuͤzlich zu un-
terhalten habe. Hier gilt vorzuͤglich die Regel des
Horaz. Omne tulit punctum qui miscuit utile dulci.

Unſchaͤdlich wird das Drama, wenn guter Ge-
ſchmak alles, was man dabey ſieht und hoͤret, beglei-
tet; wenn in Abſicht auf die aͤußern Sitten, und
die innere Gemuͤthsbeſchaffenheit, nichts unanſtaͤn-
diges, nichts unſittliches, nichts laſterhaftes, oder
ſchaͤndliches, als beluſtigend, angenehm, oder vor-
theilhaft vorgeſtellt wird; wenn das, was den Zu-
ſchauer hauptſaͤchlich ergoͤzt, das, an deſſen Vorſtel-
lung er das groͤßte Wolgefallen hat, weder unſitt-
lich, noch auf irgend eine Weiſe ſchaͤdlich iſt.

Es gehoͤrt viel Verſtand, Kenntnis des Menſchen,
und große Erfahrung dazu, dieſen Foderungen ge-
nug zu thun. Denn viel Dinge, die ſehr intereſ-
ſant und unterhaltend ſind, ſcheinen oft unſchaͤd-
lich, und koͤnnen es doch durch ganz natuͤrliche Fol-
gen werden. So iſt es nicht nur an ſich gar nicht
ſchaͤdlich, ſondern fuͤr viele Gemuͤther nuͤzlich, durch
Mitleiden geruͤhrt zu werden: Man intereßirt ſich
mit ungemeiner Ruͤhrung fuͤr die leidende Tugend,
nihmt herzlichen Antheil an dem Ungluͤk, oder wie-
drigen Schikſal unſchuldiger Menſchen. Wir ſe-
hen daher, daß die zaͤrtlich ruͤhrenden Schauſpiehle
durchgehends großen Beyfall finden. Aber es ge-
hoͤrt wahrhaftig Vorſichtigkeit dazu, wenn ſie nicht
[Spaltenumbruch]

Scha
vielen ſchaͤdlich werden ſollen. Ein einziger beſon-
derer Fall, wird die Wichtigkeit dieſer Anmerkung
beſtaͤtigen. Gute, aber dabey etwas ſchwache Ge-
muͤther, finden die groͤßte Wolluſt, an zaͤrtlichem
Mitleiden, und man hat zu befuͤrchten, daß junge
Perſonen von ſolchem Gemuͤthe, durch ruͤhrend trau-
rige Scenen, nicht nur von Vergehungen und Ue-
bereilungen, dadurch ſie veranlaſſet worden, nicht
abgeſchrekt, ſondern ſo gar dazu verleitet werden.
Jch koͤnnte mehr, als ein Beyſpiehl anfuͤhren, da
ſchwache Menſchen durch einen vermeintlich erbauli-
chen, und daher beneidungswuͤrdigen Tod hingerich-
teter Miſſethaͤter, verleitet worden, ſich einen ſol-
chen auch zuzuziehen.

Auch hat man Beyſpiehle, daß offenbare und
verabſchenhungswuͤrdige Laſter blos aus Unvorſich-
tigkeit auf der Schaubuͤhne etwas ſo luſtiges ange-
nommen haben, daß unbedachtſame Menſchen, nicht
nur keinen Abſchen, ſondern gar Reizung, oder An-
lokung dafuͤr gefuͤhlt haben. Hievon hat man ein
merkwuͤrdiges Beyſpiehl an der beruͤhmten comiſchen
Oper, die unter dem Namen the Beggars Opera
bekannt iſt; darin die Lebensart und der Charakter
des liederlichſten Raͤubergeſindels auf eine ſehr comi-
ſche Art geſchildert wird. Man will in London, wo
das Stuͤk ſeit vielen Jahren ofte auf die Schau-
buͤhne kommt, zuverlaͤßig erfahren haben, daß da-
durch viele zu dieſer verworfenen Lebensart verleitet
worden. Deswegen iſt es voriges Jahr in ernſt-
liche Ueberlegung gekommen, dieſes Lieblingsſtuͤk
der Einwohner in London durch ein Geſez von der
Schaubuͤhne zu verbannen. Daran hat der Ver-
faſſer des Stuͤks, der ganz andre Abſichten dabey
hatte, wol nicht gedacht.

So ſind nach meinem Bedenken alle liſtige und
mit Genie ausgedachte und ausgefuͤhrte Betruͤge-
reyen der Bedienten, die ſo haͤufig in Comoͤdien
vorkommen, auf aͤhnliche Weiſe fuͤr den zuſchauen-
den Poͤbel ſchaͤdlich, wenn gleich der Dichter die
Vorſichtigkeit braucht, ſie zulezt zu beſchaͤmen. Die-
ſes beweiſet nun hinlaͤnglich, daß man große Vor-
ſichtigkeit anwenden muͤſſe, auch das mittelbar ſchaͤd-
liche zu vermeiden.

Wir haben vorher angemerkt, daß lebhafte, da-
bey unſchaͤdliche Beluſtigung die Haupteigenſchaft
eines guten Schauſpiehles ſey, aber einen Vorzug
mehr dadurch bekomme, wenn es auch unmittelbar
nuͤzlich werde. Dieſes kann es durch vielerley Mit-

tel
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0453" n="1024[1006]"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Scha</hi></fw><lb/>
behandeln wollte, fu&#x0364;rtreflich, und zum Drama &#x017F;ehr<lb/>
un&#x017F;chiklich &#x017F;eyn. Hier muß der we&#x017F;entliche Theil<lb/>
der Handlung, auf den das mei&#x017F;te ankommt, noth-<lb/>
wendig vor un&#x017F;ern Augen vorgehen, und nicht blos<lb/>
erza&#x0364;hlet werden.</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;e Foderungen betreffen nur das Jntere&#x017F;&#x017F;ante<lb/>
und Anlokende des Schau&#x017F;piehles. Jn &#x017F;o fern es<lb/>
nun zugleich ein den &#x017F;cho&#x0364;nen Ku&#x0364;n&#x017F;ten wu&#x0364;rdiges und<lb/>
nu&#x0364;zliches Werk &#x017F;eyn &#x017F;oll, muß es auch noch andern<lb/>
Foderungen genug thun. Zwar muß man bey Ver-<lb/>
fertigung des Schau&#x017F;piehles nicht den unmittelbaren<lb/>
morali&#x017F;chen Nuzen, &#x017F;ondern jene, als die we&#x017F;entli-<lb/>
chen Foderungen vorzu&#x0364;glich vor Augen haben. Der<lb/>
Schauplaz i&#x017F;t vornehmlich ein Ort des lebhaften<lb/>
Zeitvertreibes, nicht eine Schule der Sitten; er<lb/>
nihmt die&#x017F;en Charakter nur zufa&#x0364;llig an. Aber das<lb/>
i&#x017F;t we&#x017F;entlich, daß der Zeitvertreib nicht zugleich<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;dlich &#x017F;ey. Der dramati&#x017F;che Dichter kann &#x017F;ich<lb/>
al&#x017F;o die&#x017F;es zur Maxime machen, daß er, um &#x017F;einen<lb/>
Beruf gema&#x0364;ß zu handeln, die ver&#x017F;ammelte Menge<lb/>
un&#x017F;cha&#x0364;dlich lebhaft zu belu&#x017F;tigen, zugleich aber, &#x017F;o<lb/>
weit die&#x017F;es mit jenem be&#x017F;tehen kann, nu&#x0364;zlich zu un-<lb/>
terhalten habe. Hier gilt vorzu&#x0364;glich die Regel des<lb/>
Horaz. <hi rendition="#aq">Omne tulit punctum qui miscuit utile dulci.</hi></p><lb/>
          <p>Un&#x017F;cha&#x0364;dlich wird das Drama, wenn guter Ge-<lb/>
&#x017F;chmak alles, was man dabey &#x017F;ieht und ho&#x0364;ret, beglei-<lb/>
tet; wenn in Ab&#x017F;icht auf die a&#x0364;ußern Sitten, und<lb/>
die innere Gemu&#x0364;thsbe&#x017F;chaffenheit, nichts unan&#x017F;ta&#x0364;n-<lb/>
diges, nichts un&#x017F;ittliches, nichts la&#x017F;terhaftes, oder<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;ndliches, als belu&#x017F;tigend, angenehm, oder vor-<lb/>
theilhaft vorge&#x017F;tellt wird; wenn das, was den Zu-<lb/>
&#x017F;chauer haupt&#x017F;a&#x0364;chlich ergo&#x0364;zt, das, an de&#x017F;&#x017F;en Vor&#x017F;tel-<lb/>
lung er das gro&#x0364;ßte Wolgefallen hat, weder un&#x017F;itt-<lb/>
lich, noch auf irgend eine Wei&#x017F;e &#x017F;cha&#x0364;dlich i&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Es geho&#x0364;rt viel Ver&#x017F;tand, Kenntnis des Men&#x017F;chen,<lb/>
und große Erfahrung dazu, die&#x017F;en Foderungen ge-<lb/>
nug zu thun. Denn viel Dinge, die &#x017F;ehr intere&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ant und unterhaltend &#x017F;ind, &#x017F;cheinen oft un&#x017F;cha&#x0364;d-<lb/>
lich, und ko&#x0364;nnen es doch durch ganz natu&#x0364;rliche Fol-<lb/>
gen werden. So i&#x017F;t es nicht nur an &#x017F;ich gar nicht<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;dlich, &#x017F;ondern fu&#x0364;r viele Gemu&#x0364;ther nu&#x0364;zlich, durch<lb/>
Mitleiden geru&#x0364;hrt zu werden: Man intereßirt &#x017F;ich<lb/>
mit ungemeiner Ru&#x0364;hrung fu&#x0364;r die leidende Tugend,<lb/>
nihmt herzlichen Antheil an dem Unglu&#x0364;k, oder wie-<lb/>
drigen Schik&#x017F;al un&#x017F;chuldiger Men&#x017F;chen. Wir &#x017F;e-<lb/>
hen daher, daß die za&#x0364;rtlich ru&#x0364;hrenden Schau&#x017F;piehle<lb/>
durchgehends großen Beyfall finden. Aber es ge-<lb/>
ho&#x0364;rt wahrhaftig Vor&#x017F;ichtigkeit dazu, wenn &#x017F;ie nicht<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Scha</hi></fw><lb/>
vielen &#x017F;cha&#x0364;dlich werden &#x017F;ollen. Ein einziger be&#x017F;on-<lb/>
derer Fall, wird die Wichtigkeit die&#x017F;er Anmerkung<lb/>
be&#x017F;ta&#x0364;tigen. Gute, aber dabey etwas &#x017F;chwache Ge-<lb/>
mu&#x0364;ther, finden die gro&#x0364;ßte Wollu&#x017F;t, an za&#x0364;rtlichem<lb/>
Mitleiden, und man hat zu befu&#x0364;rchten, daß junge<lb/>
Per&#x017F;onen von &#x017F;olchem Gemu&#x0364;the, durch ru&#x0364;hrend trau-<lb/>
rige Scenen, nicht nur von Vergehungen und Ue-<lb/>
bereilungen, dadurch &#x017F;ie veranla&#x017F;&#x017F;et worden, nicht<lb/>
abge&#x017F;chrekt, &#x017F;ondern &#x017F;o gar dazu verleitet werden.<lb/>
Jch ko&#x0364;nnte mehr, als ein Bey&#x017F;piehl anfu&#x0364;hren, da<lb/>
&#x017F;chwache Men&#x017F;chen durch einen vermeintlich erbauli-<lb/>
chen, und daher beneidungswu&#x0364;rdigen Tod hingerich-<lb/>
teter Mi&#x017F;&#x017F;etha&#x0364;ter, verleitet worden, &#x017F;ich einen &#x017F;ol-<lb/>
chen auch zuzuziehen.</p><lb/>
          <p>Auch hat man Bey&#x017F;piehle, daß offenbare und<lb/>
verab&#x017F;chenhungswu&#x0364;rdige La&#x017F;ter blos aus Unvor&#x017F;ich-<lb/>
tigkeit auf der Schaubu&#x0364;hne etwas &#x017F;o lu&#x017F;tiges ange-<lb/>
nommen haben, daß unbedacht&#x017F;ame Men&#x017F;chen, nicht<lb/>
nur keinen Ab&#x017F;chen, &#x017F;ondern gar Reizung, oder An-<lb/>
lokung dafu&#x0364;r gefu&#x0364;hlt haben. Hievon hat man ein<lb/>
merkwu&#x0364;rdiges Bey&#x017F;piehl an der beru&#x0364;hmten comi&#x017F;chen<lb/>
Oper, die unter dem Namen <hi rendition="#aq">the Beggars Opera</hi><lb/>
bekannt i&#x017F;t; darin die Lebensart und der Charakter<lb/>
des liederlich&#x017F;ten Ra&#x0364;uberge&#x017F;indels auf eine &#x017F;ehr comi-<lb/>
&#x017F;che Art ge&#x017F;childert wird. Man will in London, wo<lb/>
das Stu&#x0364;k &#x017F;eit vielen Jahren ofte auf die Schau-<lb/>
bu&#x0364;hne kommt, zuverla&#x0364;ßig erfahren haben, daß da-<lb/>
durch viele zu die&#x017F;er verworfenen Lebensart verleitet<lb/>
worden. Deswegen i&#x017F;t es voriges Jahr in ern&#x017F;t-<lb/>
liche Ueberlegung gekommen, die&#x017F;es Lieblings&#x017F;tu&#x0364;k<lb/>
der Einwohner in London durch ein Ge&#x017F;ez von der<lb/>
Schaubu&#x0364;hne zu verbannen. Daran hat der Ver-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;er des Stu&#x0364;ks, der ganz andre Ab&#x017F;ichten dabey<lb/>
hatte, wol nicht gedacht.</p><lb/>
          <p>So &#x017F;ind nach meinem Bedenken alle li&#x017F;tige und<lb/>
mit Genie ausgedachte und ausgefu&#x0364;hrte Betru&#x0364;ge-<lb/>
reyen der Bedienten, die &#x017F;o ha&#x0364;ufig in Como&#x0364;dien<lb/>
vorkommen, auf a&#x0364;hnliche Wei&#x017F;e fu&#x0364;r den zu&#x017F;chauen-<lb/>
den Po&#x0364;bel &#x017F;cha&#x0364;dlich, wenn gleich der Dichter die<lb/>
Vor&#x017F;ichtigkeit braucht, &#x017F;ie zulezt zu be&#x017F;cha&#x0364;men. Die-<lb/>
&#x017F;es bewei&#x017F;et nun hinla&#x0364;nglich, daß man große Vor-<lb/>
&#x017F;ichtigkeit anwenden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, auch das mittelbar &#x017F;cha&#x0364;d-<lb/>
liche zu vermeiden.</p><lb/>
          <p>Wir haben vorher angemerkt, daß lebhafte, da-<lb/>
bey un&#x017F;cha&#x0364;dliche Belu&#x017F;tigung die Haupteigen&#x017F;chaft<lb/>
eines guten Schau&#x017F;piehles &#x017F;ey, aber einen Vorzug<lb/>
mehr dadurch bekomme, wenn es auch unmittelbar<lb/>
nu&#x0364;zlich werde. Die&#x017F;es kann es durch vielerley Mit-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">tel</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1024[1006]/0453] Scha Scha behandeln wollte, fuͤrtreflich, und zum Drama ſehr unſchiklich ſeyn. Hier muß der weſentliche Theil der Handlung, auf den das meiſte ankommt, noth- wendig vor unſern Augen vorgehen, und nicht blos erzaͤhlet werden. Dieſe Foderungen betreffen nur das Jntereſſante und Anlokende des Schauſpiehles. Jn ſo fern es nun zugleich ein den ſchoͤnen Kuͤnſten wuͤrdiges und nuͤzliches Werk ſeyn ſoll, muß es auch noch andern Foderungen genug thun. Zwar muß man bey Ver- fertigung des Schauſpiehles nicht den unmittelbaren moraliſchen Nuzen, ſondern jene, als die weſentli- chen Foderungen vorzuͤglich vor Augen haben. Der Schauplaz iſt vornehmlich ein Ort des lebhaften Zeitvertreibes, nicht eine Schule der Sitten; er nihmt dieſen Charakter nur zufaͤllig an. Aber das iſt weſentlich, daß der Zeitvertreib nicht zugleich ſchaͤdlich ſey. Der dramatiſche Dichter kann ſich alſo dieſes zur Maxime machen, daß er, um ſeinen Beruf gemaͤß zu handeln, die verſammelte Menge unſchaͤdlich lebhaft zu beluſtigen, zugleich aber, ſo weit dieſes mit jenem beſtehen kann, nuͤzlich zu un- terhalten habe. Hier gilt vorzuͤglich die Regel des Horaz. Omne tulit punctum qui miscuit utile dulci. Unſchaͤdlich wird das Drama, wenn guter Ge- ſchmak alles, was man dabey ſieht und hoͤret, beglei- tet; wenn in Abſicht auf die aͤußern Sitten, und die innere Gemuͤthsbeſchaffenheit, nichts unanſtaͤn- diges, nichts unſittliches, nichts laſterhaftes, oder ſchaͤndliches, als beluſtigend, angenehm, oder vor- theilhaft vorgeſtellt wird; wenn das, was den Zu- ſchauer hauptſaͤchlich ergoͤzt, das, an deſſen Vorſtel- lung er das groͤßte Wolgefallen hat, weder unſitt- lich, noch auf irgend eine Weiſe ſchaͤdlich iſt. Es gehoͤrt viel Verſtand, Kenntnis des Menſchen, und große Erfahrung dazu, dieſen Foderungen ge- nug zu thun. Denn viel Dinge, die ſehr intereſ- ſant und unterhaltend ſind, ſcheinen oft unſchaͤd- lich, und koͤnnen es doch durch ganz natuͤrliche Fol- gen werden. So iſt es nicht nur an ſich gar nicht ſchaͤdlich, ſondern fuͤr viele Gemuͤther nuͤzlich, durch Mitleiden geruͤhrt zu werden: Man intereßirt ſich mit ungemeiner Ruͤhrung fuͤr die leidende Tugend, nihmt herzlichen Antheil an dem Ungluͤk, oder wie- drigen Schikſal unſchuldiger Menſchen. Wir ſe- hen daher, daß die zaͤrtlich ruͤhrenden Schauſpiehle durchgehends großen Beyfall finden. Aber es ge- hoͤrt wahrhaftig Vorſichtigkeit dazu, wenn ſie nicht vielen ſchaͤdlich werden ſollen. Ein einziger beſon- derer Fall, wird die Wichtigkeit dieſer Anmerkung beſtaͤtigen. Gute, aber dabey etwas ſchwache Ge- muͤther, finden die groͤßte Wolluſt, an zaͤrtlichem Mitleiden, und man hat zu befuͤrchten, daß junge Perſonen von ſolchem Gemuͤthe, durch ruͤhrend trau- rige Scenen, nicht nur von Vergehungen und Ue- bereilungen, dadurch ſie veranlaſſet worden, nicht abgeſchrekt, ſondern ſo gar dazu verleitet werden. Jch koͤnnte mehr, als ein Beyſpiehl anfuͤhren, da ſchwache Menſchen durch einen vermeintlich erbauli- chen, und daher beneidungswuͤrdigen Tod hingerich- teter Miſſethaͤter, verleitet worden, ſich einen ſol- chen auch zuzuziehen. Auch hat man Beyſpiehle, daß offenbare und verabſchenhungswuͤrdige Laſter blos aus Unvorſich- tigkeit auf der Schaubuͤhne etwas ſo luſtiges ange- nommen haben, daß unbedachtſame Menſchen, nicht nur keinen Abſchen, ſondern gar Reizung, oder An- lokung dafuͤr gefuͤhlt haben. Hievon hat man ein merkwuͤrdiges Beyſpiehl an der beruͤhmten comiſchen Oper, die unter dem Namen the Beggars Opera bekannt iſt; darin die Lebensart und der Charakter des liederlichſten Raͤubergeſindels auf eine ſehr comi- ſche Art geſchildert wird. Man will in London, wo das Stuͤk ſeit vielen Jahren ofte auf die Schau- buͤhne kommt, zuverlaͤßig erfahren haben, daß da- durch viele zu dieſer verworfenen Lebensart verleitet worden. Deswegen iſt es voriges Jahr in ernſt- liche Ueberlegung gekommen, dieſes Lieblingsſtuͤk der Einwohner in London durch ein Geſez von der Schaubuͤhne zu verbannen. Daran hat der Ver- faſſer des Stuͤks, der ganz andre Abſichten dabey hatte, wol nicht gedacht. So ſind nach meinem Bedenken alle liſtige und mit Genie ausgedachte und ausgefuͤhrte Betruͤge- reyen der Bedienten, die ſo haͤufig in Comoͤdien vorkommen, auf aͤhnliche Weiſe fuͤr den zuſchauen- den Poͤbel ſchaͤdlich, wenn gleich der Dichter die Vorſichtigkeit braucht, ſie zulezt zu beſchaͤmen. Die- ſes beweiſet nun hinlaͤnglich, daß man große Vor- ſichtigkeit anwenden muͤſſe, auch das mittelbar ſchaͤd- liche zu vermeiden. Wir haben vorher angemerkt, daß lebhafte, da- bey unſchaͤdliche Beluſtigung die Haupteigenſchaft eines guten Schauſpiehles ſey, aber einen Vorzug mehr dadurch bekomme, wenn es auch unmittelbar nuͤzlich werde. Dieſes kann es durch vielerley Mit- tel

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/453
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 1024[1006]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/453>, abgerufen am 16.07.2024.