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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Red
mancherley auf einen wichtigen Zwek abziehlende
Gedanken kunstmäßig verbunden, und mit Feyerlich-
keit vorgetragen werden. Also handelt dieser Arti-
kel von förmlich veranstalteten Reden, die durch
ihren Jnhalt, durch den Ort und die Zeit, da sie
gehalten werden, wichtig genug sind mit warmen
Jnteresse gehalten und angehört zu werden. Eine
solche Rede ist das Meisterstük, das Hauptwerk der
Beredsamkeit. Weder die Reden, die ohne einen
wichtigen Zwek zum Grunde zu haben, blos zur
Parade gehalten werden, und die Quintilian sehr
wol, ostentationes declamatorias nennt, noch die
kurzen laconischen Reden, wodurch auch bisweilen
bey sehr wichtigen Gelegenheiten mehr ausgerichtet
wird, als durch lange Reden, kommen hier in Be-
trachtung.

Nämlich, wir untersuchen hier nicht, in welchen
Fällen förmliche und ausführliche Reden zu halten
seyen; sondern wir sezen zum voraus, daß eine sol-
che Rede zu halten sey. Es giebt freylich Fälle,
wo ein ganzes Volk durch wenig Worte, die nichts,
als ein plözlicher Einfall sind, auf einen Entschluß
gebracht wird, der vielleicht durch die gründlichste,
ausführliche Rede nicht wäre bewürkt worden. Plu-
tarch (wo ich nicht irre) hat uns eine Anekdote auf-
behalten, die dieses in ein helles Licht sezet.

Als König Philip in Macedonien anfieng den
Griechen und andern benachbarten Staaten furcht-
bar zu werden, schikten die Byzantiner einen Ge-
sandten nach Athen, der das Volk bereden sollte,
sich mit ihnen gegen den Macedonier in ein Bündnis
einzulassen. Kaum war der Gesandte, der ein klei-
ner, sehr unansehnlicher Mann war, vor dem Volk
aufgetreten, um seine lange, vermuthlich mit gros-
sen Nachdenken verfertigte Rede zu halten, als plöz-
lich unter diesem höchst leichtsinnigen Volk ein großes
Gelächter über die Figur des kleinen Gesandten ent-
stund. Dies war eine üble Vorbedeutung über den
Erfolg seiner Rede; darum änderte er mit großer
Gegenwart des Geistes den Vorsaz eine förmliche
Rede an eine so leichtsinnige Versammlung zu hal-
ten, und sagte nur folgendes:

"Jhr Männer von Athen! ihr sehet, was für
eine elende Figur ich mache, und ich habe eine Frau,
die nicht ansehnlicher ist, als ich. Aber wenn wir
beyde uns zanken, so ist die große Stadt Byzanz
noch zu klein für uns. Nun bedenket einmal, was
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Red
für Händel und Verwüstnng ein so unruhiger und
herrschsüchtiger Mann, als Philip ist, unter den
Griechen machen würde, wenn man ihn nicht ein-
schränkte."

Dieser spaßhafte Einfall that die gewünschte Wür-
kung, die vielleicht durch die lange Rede, die der
kluge Mann für dieses Geschäft ausgearbeitet hatte,
nicht würde gethan haben.

So mag auch der Römer Pontius Pilatus ganz
richtig geurtheilet haben, daß die rasenden Juden
durch bloße Vorzeigung des unschuldig gegeiselten
Christus und die dabey gesprochenen zwey Worte
Ecce homo! von ihrem blutgierigen Vorhaben, ihn
gekreuziget zu sehen, leichter abzubringen wären,
als durch eine lange Rede über seine Unschuld.

Von dergleichen Reden, die plözliche Würkungen
des Genies sind, ist hier nicht die Frage; weil man
dem Redner nicht sagen kann, wenn und wie er
durch solche glükliche Einfälle seinen Zwek erreichen
könne. Wir wollen, ohne zu untersuchen, wo
förmliche Reden nöthig sind, die Betrachtung hier
blos darauf einschränken, wie sie müssen beschaffen
seyn.

Man kann aber von der Vollkommenheit einer
Sache nicht urtheilen, bevor man nicht ihren Zwek
und ihre Art gefaßt hat. Also müssen wir zuvo-
derst den verschiedenen Zwek solcher Reden betrach-
ten, und daraus ihre Arten bestimmen.

Man sagt insgemein der Zwek des Redners sey
seine Zuhörer von etwas zu überzeugen: dennoch ist die-
ses nicht der einzige Zwek, den er sich vorsezen kann.
Ofte sucht er blos zu rühren, eine gewisse Leiden-
schaft rege zu machen, oder die Gemüther blos zu
besänftigen. Wir können uns die verschiedenen
Gattungen der Reden, in Ansehung ihres Zweks
am deutlichsten durch die verschiedene Beschaffenheit
der einfachesten Redesäze vorstellen. Nicht jeder
Saz der Rede enthält ein Urtheil, das wahr oder
falsch seyn muß, es giebt auch Säze, die einen
Wunsch, einen Befehl, eine bloße Ausrufung ent-
halten. Selbst die Säze, die man in der Vernunft-
lehre Urtheile nennt, sind von zwey sehr verschiedenen
Gattungen. Die eigentlich urtheilenden Säze, wie
diese: Gott ist weise; die Tugend macht glüklich;
sind Säze von ganz anderer Art, als die blos erklä-
renden oder beschreibenden
Säze, dergleichen die
sogenannten Definitiones sind. Nun kann jede Art
des einfachen Redesazes der Jnhalt einer großen und

aus-

[Spaltenumbruch]

Red
mancherley auf einen wichtigen Zwek abziehlende
Gedanken kunſtmaͤßig verbunden, und mit Feyerlich-
keit vorgetragen werden. Alſo handelt dieſer Arti-
kel von foͤrmlich veranſtalteten Reden, die durch
ihren Jnhalt, durch den Ort und die Zeit, da ſie
gehalten werden, wichtig genug ſind mit warmen
Jntereſſe gehalten und angehoͤrt zu werden. Eine
ſolche Rede iſt das Meiſterſtuͤk, das Hauptwerk der
Beredſamkeit. Weder die Reden, die ohne einen
wichtigen Zwek zum Grunde zu haben, blos zur
Parade gehalten werden, und die Quintilian ſehr
wol, oſtentationes declamatorias nennt, noch die
kurzen laconiſchen Reden, wodurch auch bisweilen
bey ſehr wichtigen Gelegenheiten mehr ausgerichtet
wird, als durch lange Reden, kommen hier in Be-
trachtung.

Naͤmlich, wir unterſuchen hier nicht, in welchen
Faͤllen foͤrmliche und ausfuͤhrliche Reden zu halten
ſeyen; ſondern wir ſezen zum voraus, daß eine ſol-
che Rede zu halten ſey. Es giebt freylich Faͤlle,
wo ein ganzes Volk durch wenig Worte, die nichts,
als ein ploͤzlicher Einfall ſind, auf einen Entſchluß
gebracht wird, der vielleicht durch die gruͤndlichſte,
ausfuͤhrliche Rede nicht waͤre bewuͤrkt worden. Plu-
tarch (wo ich nicht irre) hat uns eine Anekdote auf-
behalten, die dieſes in ein helles Licht ſezet.

Als Koͤnig Philip in Macedonien anfieng den
Griechen und andern benachbarten Staaten furcht-
bar zu werden, ſchikten die Byzantiner einen Ge-
ſandten nach Athen, der das Volk bereden ſollte,
ſich mit ihnen gegen den Macedonier in ein Buͤndnis
einzulaſſen. Kaum war der Geſandte, der ein klei-
ner, ſehr unanſehnlicher Mann war, vor dem Volk
aufgetreten, um ſeine lange, vermuthlich mit groſ-
ſen Nachdenken verfertigte Rede zu halten, als ploͤz-
lich unter dieſem hoͤchſt leichtſinnigen Volk ein großes
Gelaͤchter uͤber die Figur des kleinen Geſandten ent-
ſtund. Dies war eine uͤble Vorbedeutung uͤber den
Erfolg ſeiner Rede; darum aͤnderte er mit großer
Gegenwart des Geiſtes den Vorſaz eine foͤrmliche
Rede an eine ſo leichtſinnige Verſammlung zu hal-
ten, und ſagte nur folgendes:

„Jhr Maͤnner von Athen! ihr ſehet, was fuͤr
eine elende Figur ich mache, und ich habe eine Frau,
die nicht anſehnlicher iſt, als ich. Aber wenn wir
beyde uns zanken, ſo iſt die große Stadt Byzanz
noch zu klein fuͤr uns. Nun bedenket einmal, was
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Red
fuͤr Haͤndel und Verwuͤſtnng ein ſo unruhiger und
herrſchſuͤchtiger Mann, als Philip iſt, unter den
Griechen machen wuͤrde, wenn man ihn nicht ein-
ſchraͤnkte.“

Dieſer ſpaßhafte Einfall that die gewuͤnſchte Wuͤr-
kung, die vielleicht durch die lange Rede, die der
kluge Mann fuͤr dieſes Geſchaͤft ausgearbeitet hatte,
nicht wuͤrde gethan haben.

So mag auch der Roͤmer Pontius Pilatus ganz
richtig geurtheilet haben, daß die raſenden Juden
durch bloße Vorzeigung des unſchuldig gegeiſelten
Chriſtus und die dabey geſprochenen zwey Worte
Ecce homo! von ihrem blutgierigen Vorhaben, ihn
gekreuziget zu ſehen, leichter abzubringen waͤren,
als durch eine lange Rede uͤber ſeine Unſchuld.

Von dergleichen Reden, die ploͤzliche Wuͤrkungen
des Genies ſind, iſt hier nicht die Frage; weil man
dem Redner nicht ſagen kann, wenn und wie er
durch ſolche gluͤkliche Einfaͤlle ſeinen Zwek erreichen
koͤnne. Wir wollen, ohne zu unterſuchen, wo
foͤrmliche Reden noͤthig ſind, die Betrachtung hier
blos darauf einſchraͤnken, wie ſie muͤſſen beſchaffen
ſeyn.

Man kann aber von der Vollkommenheit einer
Sache nicht urtheilen, bevor man nicht ihren Zwek
und ihre Art gefaßt hat. Alſo muͤſſen wir zuvo-
derſt den verſchiedenen Zwek ſolcher Reden betrach-
ten, und daraus ihre Arten beſtimmen.

Man ſagt insgemein der Zwek des Redners ſey
ſeine Zuhoͤrer von etwas zu uͤberzeugen: dennoch iſt die-
ſes nicht der einzige Zwek, den er ſich vorſezen kann.
Ofte ſucht er blos zu ruͤhren, eine gewiſſe Leiden-
ſchaft rege zu machen, oder die Gemuͤther blos zu
beſaͤnftigen. Wir koͤnnen uns die verſchiedenen
Gattungen der Reden, in Anſehung ihres Zweks
am deutlichſten durch die verſchiedene Beſchaffenheit
der einfacheſten Redeſaͤze vorſtellen. Nicht jeder
Saz der Rede enthaͤlt ein Urtheil, das wahr oder
falſch ſeyn muß, es giebt auch Saͤze, die einen
Wunſch, einen Befehl, eine bloße Ausrufung ent-
halten. Selbſt die Saͤze, die man in der Vernunft-
lehre Urtheile nennt, ſind von zwey ſehr verſchiedenen
Gattungen. Die eigentlich urtheilenden Saͤze, wie
dieſe: Gott iſt weiſe; die Tugend macht gluͤklich;
ſind Saͤze von ganz anderer Art, als die blos erklaͤ-
renden oder beſchreibenden
Saͤze, dergleichen die
ſogenannten Definitiones ſind. Nun kann jede Art
des einfachen Redeſazes der Jnhalt einer großen und

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[954[936]/0383] Red Red mancherley auf einen wichtigen Zwek abziehlende Gedanken kunſtmaͤßig verbunden, und mit Feyerlich- keit vorgetragen werden. Alſo handelt dieſer Arti- kel von foͤrmlich veranſtalteten Reden, die durch ihren Jnhalt, durch den Ort und die Zeit, da ſie gehalten werden, wichtig genug ſind mit warmen Jntereſſe gehalten und angehoͤrt zu werden. Eine ſolche Rede iſt das Meiſterſtuͤk, das Hauptwerk der Beredſamkeit. Weder die Reden, die ohne einen wichtigen Zwek zum Grunde zu haben, blos zur Parade gehalten werden, und die Quintilian ſehr wol, oſtentationes declamatorias nennt, noch die kurzen laconiſchen Reden, wodurch auch bisweilen bey ſehr wichtigen Gelegenheiten mehr ausgerichtet wird, als durch lange Reden, kommen hier in Be- trachtung. Naͤmlich, wir unterſuchen hier nicht, in welchen Faͤllen foͤrmliche und ausfuͤhrliche Reden zu halten ſeyen; ſondern wir ſezen zum voraus, daß eine ſol- che Rede zu halten ſey. Es giebt freylich Faͤlle, wo ein ganzes Volk durch wenig Worte, die nichts, als ein ploͤzlicher Einfall ſind, auf einen Entſchluß gebracht wird, der vielleicht durch die gruͤndlichſte, ausfuͤhrliche Rede nicht waͤre bewuͤrkt worden. Plu- tarch (wo ich nicht irre) hat uns eine Anekdote auf- behalten, die dieſes in ein helles Licht ſezet. Als Koͤnig Philip in Macedonien anfieng den Griechen und andern benachbarten Staaten furcht- bar zu werden, ſchikten die Byzantiner einen Ge- ſandten nach Athen, der das Volk bereden ſollte, ſich mit ihnen gegen den Macedonier in ein Buͤndnis einzulaſſen. Kaum war der Geſandte, der ein klei- ner, ſehr unanſehnlicher Mann war, vor dem Volk aufgetreten, um ſeine lange, vermuthlich mit groſ- ſen Nachdenken verfertigte Rede zu halten, als ploͤz- lich unter dieſem hoͤchſt leichtſinnigen Volk ein großes Gelaͤchter uͤber die Figur des kleinen Geſandten ent- ſtund. Dies war eine uͤble Vorbedeutung uͤber den Erfolg ſeiner Rede; darum aͤnderte er mit großer Gegenwart des Geiſtes den Vorſaz eine foͤrmliche Rede an eine ſo leichtſinnige Verſammlung zu hal- ten, und ſagte nur folgendes: „Jhr Maͤnner von Athen! ihr ſehet, was fuͤr eine elende Figur ich mache, und ich habe eine Frau, die nicht anſehnlicher iſt, als ich. Aber wenn wir beyde uns zanken, ſo iſt die große Stadt Byzanz noch zu klein fuͤr uns. Nun bedenket einmal, was fuͤr Haͤndel und Verwuͤſtnng ein ſo unruhiger und herrſchſuͤchtiger Mann, als Philip iſt, unter den Griechen machen wuͤrde, wenn man ihn nicht ein- ſchraͤnkte.“ Dieſer ſpaßhafte Einfall that die gewuͤnſchte Wuͤr- kung, die vielleicht durch die lange Rede, die der kluge Mann fuͤr dieſes Geſchaͤft ausgearbeitet hatte, nicht wuͤrde gethan haben. So mag auch der Roͤmer Pontius Pilatus ganz richtig geurtheilet haben, daß die raſenden Juden durch bloße Vorzeigung des unſchuldig gegeiſelten Chriſtus und die dabey geſprochenen zwey Worte Ecce homo! von ihrem blutgierigen Vorhaben, ihn gekreuziget zu ſehen, leichter abzubringen waͤren, als durch eine lange Rede uͤber ſeine Unſchuld. Von dergleichen Reden, die ploͤzliche Wuͤrkungen des Genies ſind, iſt hier nicht die Frage; weil man dem Redner nicht ſagen kann, wenn und wie er durch ſolche gluͤkliche Einfaͤlle ſeinen Zwek erreichen koͤnne. Wir wollen, ohne zu unterſuchen, wo foͤrmliche Reden noͤthig ſind, die Betrachtung hier blos darauf einſchraͤnken, wie ſie muͤſſen beſchaffen ſeyn. Man kann aber von der Vollkommenheit einer Sache nicht urtheilen, bevor man nicht ihren Zwek und ihre Art gefaßt hat. Alſo muͤſſen wir zuvo- derſt den verſchiedenen Zwek ſolcher Reden betrach- ten, und daraus ihre Arten beſtimmen. Man ſagt insgemein der Zwek des Redners ſey ſeine Zuhoͤrer von etwas zu uͤberzeugen: dennoch iſt die- ſes nicht der einzige Zwek, den er ſich vorſezen kann. Ofte ſucht er blos zu ruͤhren, eine gewiſſe Leiden- ſchaft rege zu machen, oder die Gemuͤther blos zu beſaͤnftigen. Wir koͤnnen uns die verſchiedenen Gattungen der Reden, in Anſehung ihres Zweks am deutlichſten durch die verſchiedene Beſchaffenheit der einfacheſten Redeſaͤze vorſtellen. Nicht jeder Saz der Rede enthaͤlt ein Urtheil, das wahr oder falſch ſeyn muß, es giebt auch Saͤze, die einen Wunſch, einen Befehl, eine bloße Ausrufung ent- halten. Selbſt die Saͤze, die man in der Vernunft- lehre Urtheile nennt, ſind von zwey ſehr verſchiedenen Gattungen. Die eigentlich urtheilenden Saͤze, wie dieſe: Gott iſt weiſe; die Tugend macht gluͤklich; ſind Saͤze von ganz anderer Art, als die blos erklaͤ- renden oder beſchreibenden Saͤze, dergleichen die ſogenannten Definitiones ſind. Nun kann jede Art des einfachen Redeſazes der Jnhalt einer großen und aus-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 954[936]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/383>, abgerufen am 28.11.2024.