Dieses sagt Bryennius, den Wallis herausgegeben hat, mit klaren Worten.
Von der bloßen Declamation unterscheidet sich das Recitativ dadurch, daß es seine Töne aus einer Tonleiter der Musik nihmt, und eine den Regeln der Harmonie unterworfene Modulation beobachtet, und also in Noten kann gesezt und von einem die volle Harmonie anschlagenden Baße begleitet wer- den. Von dem eigentlichen Gesang unterscheidet es sich vornehmlich durch folgende Kennzeichen. Erstlich bindet er sich nicht so genau, als der Ge- sang, an die Bewegung. Jn derselben Taktart sind ganze Takte und einzele Zeiten nicht überall von glei- cher Dauer, und nicht selten wird eine Viertelnote geschwinder, als eine andere verlassen; dahingegen die genaueste Einförmigkeit der Bewegung, so lange der Takt derselbe bleibet, in dem eigentlichen Gesange nothwendig ist. Zweytens hat das Recitativ keinen so genau bestimmten Rhythmus. Seine größern und kleinern Einschnitte sind keiner andern Regel unterworfen, als der, den die Rede selbst beobachtet hat. Daher entstehet drittens auch der Unterschied, daß das Recitativ keine eigentliche melodische Ge- danken, keine würkliche Melodie hat, wenn gleich jeder einzele Ton eben so singend, als in dem wah- ren Gesang vorgetragen würde. Viertens bindet sich das Recitativ nicht an die Regelmäßigkeit der Modulation in andere Töne, die dem eigentlichen Gesaug vorgeschrieben ist. Endlich unterscheidet sich das Recitativ von dem wahren Gesang dadurch, daß nirgend, auch nicht einmal bey vollkommenen Ca- denzen, ein Ton merklich länger, als in der Decla- mation geschehen würde, ausgehalten wird. Es giebt zwar Arien und Lieder, die dieses mit dem Re- citativ gemein haben, daß ihre ganze Dauer ohnge- fehr eben die Zeit wegnihmt, die eine gute Declama- tion erfodern würde; aber man wird doch etwa ein- zele Sylben darin antreffen, wo der Ton länger und singend ausgehalten wird. Ueberhaupt werden in dem Vortrag des Recitativs die Töne zwar rein nach der Tonleiter, aber doch etwas kürzer abge- stoßen, als im Gefang, vorgetragen.
Das Recitativ kommt in Oratorien, Cantaten und in der Oper vor. Es unterscheidet sich von der Arie, dem Lied und andern zum förmlichen Ge- sang dienenden Texte dadurch, daß es nicht lyrisch ist. Der Vers ist frey, bald kurz, bald lang, ohne [Spaltenumbruch]
Rec
ein in der Folge sich gleichbleibendes Metrum. Die- ses scheinet zwar nur seinen äußerlichen Charakter zu bestimmen; aber er hat eben die besondere Art des Gesanges veranlasset.
Jndessen ist freylich auch der Jnhalt des Recitati- ves von dem Stoff der Arien und Lieder verschieden. Zwar immer leidenschaftlich, aber nicht in dem glei- chen, oder stäten Fluß desselben Tones, sondern mehr abgewechselt, mehr unterbrochen und abgesezt. Man muß sich den leidenschaftlichen Ausdruk in der Arie wie einen langsam oder schnell, sanft oder rau- schend, aber gleichförmig fortfließenden Strohm vorstellen, dessen Gang die Musik natürlich abbildet: das Recitativ hingegen kann man sich wie einen Bach vorstellen, der bald stille fortfließt, bald zwischen Stei- nen durchrauscht, bald über Klippen herabstürzt. Jn eben demselben Recitativ kommen bisweilen ruhige, blos erzählende Stellen vor; den Augenblik darauf aber heftige und höchstpathetische Stellen. Diese Ungleichheit hat in der Arie nicht statt.
Jndessen sollte der völlig gleichgültige Ton im Re- citativ gänzlich vermieden werden; weil es ungereimt ist, ganz gleichgültige Sachen in singenden Tönen vor- zutragen. Jch habe mich bereits im Artikel Oper weitläuftiger hierüber erkläret, und dort angemerkt, daß kalte Berathschlagungen, und solche Seenen, wo man ohne allen Affekt spricht, gar nicht musica- lisch sollten vorgetragen werden. Es ist so gar schon wiedrig, wenn eine völlig kaltsinnige Rede in Versen vorgetragen wird. Und eben deswegen habe ich dort den Vorschlag gethan, zu der Oper, wo durchaus alles musicalisch seyn soll, eine ihr eigene und durchaus leidenschaftliche Behandlung des Stoffs zu wählen, damit das Recitativ nirgend unschiklich werde. Denn welcher Mensch kann sich des La- chens enthalten, wenn, wie in der Opera Cato, die Aufschrift eines Briefes, (II senato a Catone) sin- gend und mit Harmonie begleitet, gelesen wird? Dergleichen abgeschmaktes Zeug kommt aber nur in zu viel Recitativen vor.
Wenn ich nun in diesem Artikel dem Tonsezer meine Gedanken über die Behandlung des Recitati- ves vortragen werde, so schließe ich ausdrüklich sol- che, die gar nichts leidenschaftliches an sich haben, aus; denn warum sollte man dem Künstler Vor- schläge thun, wie er etwas ungereimtes machen könne? Jch seze zum voraus, daß jedes Recitativ und jede
ein-
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Rec
Dieſes ſagt Bryennius, den Wallis herausgegeben hat, mit klaren Worten.
Von der bloßen Declamation unterſcheidet ſich das Recitativ dadurch, daß es ſeine Toͤne aus einer Tonleiter der Muſik nihmt, und eine den Regeln der Harmonie unterworfene Modulation beobachtet, und alſo in Noten kann geſezt und von einem die volle Harmonie anſchlagenden Baße begleitet wer- den. Von dem eigentlichen Geſang unterſcheidet es ſich vornehmlich durch folgende Kennzeichen. Erſtlich bindet er ſich nicht ſo genau, als der Ge- ſang, an die Bewegung. Jn derſelben Taktart ſind ganze Takte und einzele Zeiten nicht uͤberall von glei- cher Dauer, und nicht ſelten wird eine Viertelnote geſchwinder, als eine andere verlaſſen; dahingegen die genaueſte Einfoͤrmigkeit der Bewegung, ſo lange der Takt derſelbe bleibet, in dem eigentlichen Geſange nothwendig iſt. Zweytens hat das Recitativ keinen ſo genau beſtimmten Rhythmus. Seine groͤßern und kleinern Einſchnitte ſind keiner andern Regel unterworfen, als der, den die Rede ſelbſt beobachtet hat. Daher entſtehet drittens auch der Unterſchied, daß das Recitativ keine eigentliche melodiſche Ge- danken, keine wuͤrkliche Melodie hat, wenn gleich jeder einzele Ton eben ſo ſingend, als in dem wah- ren Geſang vorgetragen wuͤrde. Viertens bindet ſich das Recitativ nicht an die Regelmaͤßigkeit der Modulation in andere Toͤne, die dem eigentlichen Geſaug vorgeſchrieben iſt. Endlich unterſcheidet ſich das Recitativ von dem wahren Geſang dadurch, daß nirgend, auch nicht einmal bey vollkommenen Ca- denzen, ein Ton merklich laͤnger, als in der Decla- mation geſchehen wuͤrde, ausgehalten wird. Es giebt zwar Arien und Lieder, die dieſes mit dem Re- citativ gemein haben, daß ihre ganze Dauer ohnge- fehr eben die Zeit wegnihmt, die eine gute Declama- tion erfodern wuͤrde; aber man wird doch etwa ein- zele Sylben darin antreffen, wo der Ton laͤnger und ſingend ausgehalten wird. Ueberhaupt werden in dem Vortrag des Recitativs die Toͤne zwar rein nach der Tonleiter, aber doch etwas kuͤrzer abge- ſtoßen, als im Gefang, vorgetragen.
Das Recitativ kommt in Oratorien, Cantaten und in der Oper vor. Es unterſcheidet ſich von der Arie, dem Lied und andern zum foͤrmlichen Ge- ſang dienenden Texte dadurch, daß es nicht lyriſch iſt. Der Vers iſt frey, bald kurz, bald lang, ohne [Spaltenumbruch]
Rec
ein in der Folge ſich gleichbleibendes Metrum. Die- ſes ſcheinet zwar nur ſeinen aͤußerlichen Charakter zu beſtimmen; aber er hat eben die beſondere Art des Geſanges veranlaſſet.
Jndeſſen iſt freylich auch der Jnhalt des Recitati- ves von dem Stoff der Arien und Lieder verſchieden. Zwar immer leidenſchaftlich, aber nicht in dem glei- chen, oder ſtaͤten Fluß deſſelben Tones, ſondern mehr abgewechſelt, mehr unterbrochen und abgeſezt. Man muß ſich den leidenſchaftlichen Ausdruk in der Arie wie einen langſam oder ſchnell, ſanft oder rau- ſchend, aber gleichfoͤrmig fortfließenden Strohm vorſtellen, deſſen Gang die Muſik natuͤrlich abbildet: das Recitativ hingegen kann man ſich wie einen Bach vorſtellen, der bald ſtille fortfließt, bald zwiſchen Stei- nen durchrauſcht, bald uͤber Klippen herabſtuͤrzt. Jn eben demſelben Recitativ kommen bisweilen ruhige, blos erzaͤhlende Stellen vor; den Augenblik darauf aber heftige und hoͤchſtpathetiſche Stellen. Dieſe Ungleichheit hat in der Arie nicht ſtatt.
Jndeſſen ſollte der voͤllig gleichguͤltige Ton im Re- citativ gaͤnzlich vermieden werden; weil es ungereimt iſt, ganz gleichguͤltige Sachen in ſingenden Toͤnen vor- zutragen. Jch habe mich bereits im Artikel Oper weitlaͤuftiger hieruͤber erklaͤret, und dort angemerkt, daß kalte Berathſchlagungen, und ſolche Seenen, wo man ohne allen Affekt ſpricht, gar nicht muſica- liſch ſollten vorgetragen werden. Es iſt ſo gar ſchon wiedrig, wenn eine voͤllig kaltſinnige Rede in Verſen vorgetragen wird. Und eben deswegen habe ich dort den Vorſchlag gethan, zu der Oper, wo durchaus alles muſicaliſch ſeyn ſoll, eine ihr eigene und durchaus leidenſchaftliche Behandlung des Stoffs zu waͤhlen, damit das Recitativ nirgend unſchiklich werde. Denn welcher Menſch kann ſich des La- chens enthalten, wenn, wie in der Opera Cato, die Aufſchrift eines Briefes, (II ſenato à Catone) ſin- gend und mit Harmonie begleitet, geleſen wird? Dergleichen abgeſchmaktes Zeug kommt aber nur in zu viel Recitativen vor.
Wenn ich nun in dieſem Artikel dem Tonſezer meine Gedanken uͤber die Behandlung des Recitati- ves vortragen werde, ſo ſchließe ich ausdruͤklich ſol- che, die gar nichts leidenſchaftliches an ſich haben, aus; denn warum ſollte man dem Kuͤnſtler Vor- ſchlaͤge thun, wie er etwas ungereimtes machen koͤnne? Jch ſeze zum voraus, daß jedes Recitativ und jede
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[943[925]/0361]
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Dieſes ſagt Bryennius, den Wallis herausgegeben
hat, mit klaren Worten.
Von der bloßen Declamation unterſcheidet ſich
das Recitativ dadurch, daß es ſeine Toͤne aus einer
Tonleiter der Muſik nihmt, und eine den Regeln
der Harmonie unterworfene Modulation beobachtet,
und alſo in Noten kann geſezt und von einem die
volle Harmonie anſchlagenden Baße begleitet wer-
den. Von dem eigentlichen Geſang unterſcheidet
es ſich vornehmlich durch folgende Kennzeichen.
Erſtlich bindet er ſich nicht ſo genau, als der Ge-
ſang, an die Bewegung. Jn derſelben Taktart ſind
ganze Takte und einzele Zeiten nicht uͤberall von glei-
cher Dauer, und nicht ſelten wird eine Viertelnote
geſchwinder, als eine andere verlaſſen; dahingegen
die genaueſte Einfoͤrmigkeit der Bewegung, ſo lange
der Takt derſelbe bleibet, in dem eigentlichen Geſange
nothwendig iſt. Zweytens hat das Recitativ keinen
ſo genau beſtimmten Rhythmus. Seine groͤßern
und kleinern Einſchnitte ſind keiner andern Regel
unterworfen, als der, den die Rede ſelbſt beobachtet
hat. Daher entſtehet drittens auch der Unterſchied,
daß das Recitativ keine eigentliche melodiſche Ge-
danken, keine wuͤrkliche Melodie hat, wenn gleich
jeder einzele Ton eben ſo ſingend, als in dem wah-
ren Geſang vorgetragen wuͤrde. Viertens bindet
ſich das Recitativ nicht an die Regelmaͤßigkeit der
Modulation in andere Toͤne, die dem eigentlichen
Geſaug vorgeſchrieben iſt. Endlich unterſcheidet ſich
das Recitativ von dem wahren Geſang dadurch, daß
nirgend, auch nicht einmal bey vollkommenen Ca-
denzen, ein Ton merklich laͤnger, als in der Decla-
mation geſchehen wuͤrde, ausgehalten wird. Es
giebt zwar Arien und Lieder, die dieſes mit dem Re-
citativ gemein haben, daß ihre ganze Dauer ohnge-
fehr eben die Zeit wegnihmt, die eine gute Declama-
tion erfodern wuͤrde; aber man wird doch etwa ein-
zele Sylben darin antreffen, wo der Ton laͤnger
und ſingend ausgehalten wird. Ueberhaupt werden
in dem Vortrag des Recitativs die Toͤne zwar rein
nach der Tonleiter, aber doch etwas kuͤrzer abge-
ſtoßen, als im Gefang, vorgetragen.
Das Recitativ kommt in Oratorien, Cantaten
und in der Oper vor. Es unterſcheidet ſich von
der Arie, dem Lied und andern zum foͤrmlichen Ge-
ſang dienenden Texte dadurch, daß es nicht lyriſch
iſt. Der Vers iſt frey, bald kurz, bald lang, ohne
ein in der Folge ſich gleichbleibendes Metrum. Die-
ſes ſcheinet zwar nur ſeinen aͤußerlichen Charakter
zu beſtimmen; aber er hat eben die beſondere Art
des Geſanges veranlaſſet.
Jndeſſen iſt freylich auch der Jnhalt des Recitati-
ves von dem Stoff der Arien und Lieder verſchieden.
Zwar immer leidenſchaftlich, aber nicht in dem glei-
chen, oder ſtaͤten Fluß deſſelben Tones, ſondern
mehr abgewechſelt, mehr unterbrochen und abgeſezt.
Man muß ſich den leidenſchaftlichen Ausdruk in der
Arie wie einen langſam oder ſchnell, ſanft oder rau-
ſchend, aber gleichfoͤrmig fortfließenden Strohm
vorſtellen, deſſen Gang die Muſik natuͤrlich abbildet:
das Recitativ hingegen kann man ſich wie einen Bach
vorſtellen, der bald ſtille fortfließt, bald zwiſchen Stei-
nen durchrauſcht, bald uͤber Klippen herabſtuͤrzt. Jn
eben demſelben Recitativ kommen bisweilen ruhige,
blos erzaͤhlende Stellen vor; den Augenblik darauf
aber heftige und hoͤchſtpathetiſche Stellen. Dieſe
Ungleichheit hat in der Arie nicht ſtatt.
Jndeſſen ſollte der voͤllig gleichguͤltige Ton im Re-
citativ gaͤnzlich vermieden werden; weil es ungereimt
iſt, ganz gleichguͤltige Sachen in ſingenden Toͤnen vor-
zutragen. Jch habe mich bereits im Artikel Oper
weitlaͤuftiger hieruͤber erklaͤret, und dort angemerkt,
daß kalte Berathſchlagungen, und ſolche Seenen,
wo man ohne allen Affekt ſpricht, gar nicht muſica-
liſch ſollten vorgetragen werden. Es iſt ſo gar
ſchon wiedrig, wenn eine voͤllig kaltſinnige Rede in
Verſen vorgetragen wird. Und eben deswegen habe
ich dort den Vorſchlag gethan, zu der Oper, wo
durchaus alles muſicaliſch ſeyn ſoll, eine ihr eigene
und durchaus leidenſchaftliche Behandlung des Stoffs
zu waͤhlen, damit das Recitativ nirgend unſchiklich
werde. Denn welcher Menſch kann ſich des La-
chens enthalten, wenn, wie in der Opera Cato, die
Aufſchrift eines Briefes, (II ſenato à Catone) ſin-
gend und mit Harmonie begleitet, geleſen wird?
Dergleichen abgeſchmaktes Zeug kommt aber nur in
zu viel Recitativen vor.
Wenn ich nun in dieſem Artikel dem Tonſezer
meine Gedanken uͤber die Behandlung des Recitati-
ves vortragen werde, ſo ſchließe ich ausdruͤklich ſol-
che, die gar nichts leidenſchaftliches an ſich haben,
aus; denn warum ſollte man dem Kuͤnſtler Vor-
ſchlaͤge thun, wie er etwas ungereimtes machen koͤnne?
Jch ſeze zum voraus, daß jedes Recitativ und jede
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 943[925]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/361>, abgerufen am 28.11.2024.
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