Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.[Spaltenumbruch] Kno zeige. Hat er dieses vergeblich versucht, so bleibtihm nichts übrig, als blos pathetisch und affektvoll zu seyn. Diese Arten des Knotens kommen nicht nur in Jn Ansehung der Knüpfung und Auflösung des Das vornehmste Beyspiel eines wolgeknüpften Kno die Hauptschwierigkeit. Auf der einen Seite ver-bindet sie Ehre, Nationalstolz, heftige Feindschaft, den ihnen angethanen Schimpf durch Trojas Um- sturz zu rächen; auf der andern Seite zeiget sich ihr Unvermögen das Vorhaben auszuführen. Sie versuchen das Aeusserste; aber die Gefahr wird immer grösser; jederman erkennet, daß Achilles wieder versöhnt werden, und zum Heer zurükkehren müsse. Aber sein unüberwindlicher Zorn und Eigensinn ver- eitelt alle Bemühungen, die man zur Aussöhnung anwendet. Man hat das Aeusserste versucht; die Gefahr des Unterganges der Griechen ist nahe, und wie sollen sie sich nun heraushelfen? Hier scheint der Knoten unauflößlich. Aber nun fängt er an sich zu entwiklen, und auf eine sehr natürliche, und völlig ungezwungene Weise. Achilles hat einen Freund, der so gefällig und nachgebend, als er trotzig und eigensinnig ist. Dieser erhält von ihm die Erlaubnis, sich der bedrängten Griechen anzu- nehmen; aber er fällt im Streit. Und nun wird der heftige Achilles durch den Verlust seines Freun- des auf das Aeusserste aufgebracht; jeder Nerve sei- ner Seele wird zur Rache gespannt; und itzt macht er den Untergang der Trojaner, wenigstens den Tod des heldenmüthigen Hektors, des vornehmsten Be- schützers der Angegriffenen, zu seiner eigenen Ange- legenheit. Er kehrt wüthend in dem Streit zurüke, und ihm gelinget es itzt, was er vorher so lange vergeblich gesucht hatte; er erlegt den Hektor, die Griechen bekommen die Oberhand, und die Haupt- schwierigkeiten sind gehoben. Eigentlich besteht die mechanische Vollkommen- Diese Behandlung des Knotens hat dem Dichter Ge-
[Spaltenumbruch] Kno zeige. Hat er dieſes vergeblich verſucht, ſo bleibtihm nichts uͤbrig, als blos pathetiſch und affektvoll zu ſeyn. Dieſe Arten des Knotens kommen nicht nur in Jn Anſehung der Knuͤpfung und Aufloͤſung des Das vornehmſte Beyſpiel eines wolgeknuͤpften Kno die Hauptſchwierigkeit. Auf der einen Seite ver-bindet ſie Ehre, Nationalſtolz, heftige Feindſchaft, den ihnen angethanen Schimpf durch Trojas Um- ſturz zu raͤchen; auf der andern Seite zeiget ſich ihr Unvermoͤgen das Vorhaben auszufuͤhren. Sie verſuchen das Aeuſſerſte; aber die Gefahr wird immer groͤſſer; jederman erkennet, daß Achilles wieder verſoͤhnt werden, und zum Heer zuruͤkkehren muͤſſe. Aber ſein unuͤberwindlicher Zorn und Eigenſinn ver- eitelt alle Bemuͤhungen, die man zur Ausſoͤhnung anwendet. Man hat das Aeuſſerſte verſucht; die Gefahr des Unterganges der Griechen iſt nahe, und wie ſollen ſie ſich nun heraushelfen? Hier ſcheint der Knoten unaufloͤßlich. Aber nun faͤngt er an ſich zu entwiklen, und auf eine ſehr natuͤrliche, und voͤllig ungezwungene Weiſe. Achilles hat einen Freund, der ſo gefaͤllig und nachgebend, als er trotzig und eigenſinnig iſt. Dieſer erhaͤlt von ihm die Erlaubnis, ſich der bedraͤngten Griechen anzu- nehmen; aber er faͤllt im Streit. Und nun wird der heftige Achilles durch den Verluſt ſeines Freun- des auf das Aeuſſerſte aufgebracht; jeder Nerve ſei- ner Seele wird zur Rache geſpannt; und itzt macht er den Untergang der Trojaner, wenigſtens den Tod des heldenmuͤthigen Hektors, des vornehmſten Be- ſchuͤtzers der Angegriffenen, zu ſeiner eigenen Ange- legenheit. Er kehrt wuͤthend in dem Streit zuruͤke, und ihm gelinget es itzt, was er vorher ſo lange vergeblich geſucht hatte; er erlegt den Hektor, die Griechen bekommen die Oberhand, und die Haupt- ſchwierigkeiten ſind gehoben. Eigentlich beſteht die mechaniſche Vollkommen- Dieſe Behandlung des Knotens hat dem Dichter Ge-
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Kno
Kno
zeige. Hat er dieſes vergeblich verſucht, ſo bleibt
ihm nichts uͤbrig, als blos pathetiſch und affektvoll
zu ſeyn.
Dieſe Arten des Knotens kommen nicht nur in
der Hauptſache vor, in welchem Falle man ſie Haupt-
knoten nennen kann, ſondern auch in einzelen Thei-
len; aber ihrer Natur nach ſind ſie immer einerley.
Jn der Jlias kommen hundert einzele Begebenhei-
ten vor, deren jede ihren beſondern Knoten, von
der einen oder der andern Art hat; und eben dieſes
macht das Gedicht ſo durchaus intreſſant.
Jn Anſehung der Knuͤpfung und Aufloͤſung des
Knotens kommt die Hauptſache darauf an, daß alle
wuͤrkenden Urſachen, es ſey, daß ſie Schwierigkeiten
veranlaſſen, oder ſie uͤberwinden, natuͤrlich und
wahrſcheinlich ſeyen. Die Schwierigkeiten muͤſſen
nicht willkuͤhrlich erdichtet werden, wo keine ſind,
ſie muͤſſen keine große Hindrung machen, wo es
leicht iſt, ihnen aus dem Wege zu gehen; große
Wuͤrkungen muͤſſen nicht aus kleinen Urſachen ent-
ſtehen, es ſey denn, daß man deutlich ſehe, wie
dieſe kleinen Urſachen, auſſerordentliche Staͤrke be-
kommen haben. Da muß vorzuͤglich ſich der Ver-
ſtand und die ſcharfe Beurtheilung des Kuͤnſtlers,
ſeine tiefe Kenntnis des Menſchen und menſchlicher
Dinge zeigen. Er muß nichts geſchehen laſſen,
ohne uns deutlich merken zu laſſen, daß es noth-
wendig hat geſchehen muͤſſen, oder daß es aus der
Lage der Sachen und dem Charakter der Perſonen
natuͤrlich erfolget. Es iſt der Muͤhe werth hieruͤber
einige beſondere Beyſpiele zur Erlaͤuterung dieſer
wichtigen Sache, zu betrachten.
Das vornehmſte Beyſpiel eines wolgeknuͤpften
und gluͤklich aufgeloͤßten Knotens, haben wir in der
Jlias. Der Hauptknoten, iſt die Trennung des
Achilles von dem Heer der Griechen. Sie entſteht
auf eine ſehr natuͤrliche Weiſe, aus den Zwiſtigkei-
ten zwiſchen dem hochmuͤthigen und gebietheriſchen
Oberbefehlhaber Agamemnon und dem aͤuſſerſt hitzi-
gen, trotzigen und hoͤchſteigenſinnigen Achilles, auf
deſſen Tapferkeit das meiſte ankam. Die Entzwey-
ung entſtehet aus einer natuͤrlichen Veranlaſſung,
wird dem Charakter der Perſonen gemaͤß, auf das
aͤuſſerſte getrieben; keiner will nachgeben und Achil-
les, der dem Range nach weit unter dem Agamem-
non iſt, trennet ſich von dem Heere. Dadurch
werden die Griechen ſo ſehr geſchwaͤcht, daß ſie nichts
mehr gegen die Trojaner vermoͤgen. Nun entſteht
die Hauptſchwierigkeit. Auf der einen Seite ver-
bindet ſie Ehre, Nationalſtolz, heftige Feindſchaft,
den ihnen angethanen Schimpf durch Trojas Um-
ſturz zu raͤchen; auf der andern Seite zeiget ſich
ihr Unvermoͤgen das Vorhaben auszufuͤhren. Sie
verſuchen das Aeuſſerſte; aber die Gefahr wird immer
groͤſſer; jederman erkennet, daß Achilles wieder
verſoͤhnt werden, und zum Heer zuruͤkkehren muͤſſe.
Aber ſein unuͤberwindlicher Zorn und Eigenſinn ver-
eitelt alle Bemuͤhungen, die man zur Ausſoͤhnung
anwendet. Man hat das Aeuſſerſte verſucht; die
Gefahr des Unterganges der Griechen iſt nahe, und
wie ſollen ſie ſich nun heraushelfen? Hier ſcheint
der Knoten unaufloͤßlich. Aber nun faͤngt er an
ſich zu entwiklen, und auf eine ſehr natuͤrliche, und
voͤllig ungezwungene Weiſe. Achilles hat einen
Freund, der ſo gefaͤllig und nachgebend, als er
trotzig und eigenſinnig iſt. Dieſer erhaͤlt von ihm
die Erlaubnis, ſich der bedraͤngten Griechen anzu-
nehmen; aber er faͤllt im Streit. Und nun wird
der heftige Achilles durch den Verluſt ſeines Freun-
des auf das Aeuſſerſte aufgebracht; jeder Nerve ſei-
ner Seele wird zur Rache geſpannt; und itzt macht
er den Untergang der Trojaner, wenigſtens den Tod
des heldenmuͤthigen Hektors, des vornehmſten Be-
ſchuͤtzers der Angegriffenen, zu ſeiner eigenen Ange-
legenheit. Er kehrt wuͤthend in dem Streit zuruͤke,
und ihm gelinget es itzt, was er vorher ſo lange
vergeblich geſucht hatte; er erlegt den Hektor, die
Griechen bekommen die Oberhand, und die Haupt-
ſchwierigkeiten ſind gehoben.
Eigentlich beſteht die mechaniſche Vollkommen-
heit der Epopoͤe und des Trauerſpiels eben darin,
daß gleich von Anfang der Handlung der Knoten
allmaͤhlig geknuͤpft, und nach und nach immer feſter
werde; daß dadurch eine allgemeine Anſtrengung
aller wuͤrkenden Kraͤfte entſtehe, auf der einen
Seite die Schwierigkeiten zu vermehren, auf der
andern, ſie zu uͤberwinden, bis endlich aus natuͤr-
lichen, ſchon in der Handlung oder in dem Charak-
ter der Perſonen liegenden, aber vorher nicht ge-
nugſam erkannten Kraͤften, der Ausſchlag ſich auf
die eine Seite wendet, wodurch die ganze Handlung
beendiget wird.
Dieſe Behandlung des Knotens hat dem Dichter
Gelegenheit gegeben, die handelnden Perſonen, jeden
nach ſeinem Charakter und nach ſeiner Sinnesart,
in vollem Lichte zu zeigen, ſeine Verſtandes- und
Ge-
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