spektivisch durch eingestekte Pfähle würklich von 10 zu 10 Fuß eingetheilt sey. Da diese Linie in eben den Punkt D geht, dahin auch P D geht, so ist sie mit dieser perspektivisch parallel. Nun nehme man auf dieser Linie irgend einen Punkt H und ziehe durch denselben die Linie H K mit P D nicht perspektivisch, sondern würklich parallel, so stellt diese die Linie I D, in ihrer wahren Lage auf dem Grundriß vor.
Der Maaßstab auf dem Grundriß zur Ausmes- sung der Linie H K würde nun eben der seyn, den man brauchen müßte, um in der Entfernung des Punkts H aufrecht stehende, oder mit dem Horizont parallel laufende Linien auszumessen. Weil nun in der Zeichnung von H bis an den Horizont 50 Fuß sind, so wird diese Höhe in 50 Theile getheilt, und zum Maaßstab der Linie H K gebraucht, welche hier würklich von 10 zu 10 Fuß nach diesem Maaße eingetheilt ist.
Wäre nun die Linie I H D, oder die perspektivi- sche Zeichnung der Linie H K noch nicht eingetheilt, so brauchte man, um dieses zu verrichten, nur aus den Theilungspunkten der Linie H K gerade Linien nach P zu ziehen, wie es bey I i P geschehen ist. Diese Linien nun würden auch die Linie I H D per- perspektivisch eintheilen. Dieses ist daher klar, daß die Winkel bey P, z. B. o P I im Grundriß und der perspektivischen Zeichnung gleich groß sind, folglich gleich große Theile der würklichen Linie i H und ih- res Bildes i H abschneiden.
Auf eben diese Weise verfährt man mit jeder an- dern Linie, die man so wie I H D einzutheilen, und auszumessen verlanget. Hat man aber dieses mit einer gethan, so kann ihre Eintheilung auch zur Aus- messung aller mit ihr parallellaufenden Linien ge- braucht werden. Wir wollen z. B. sezen, man wolle die Voderseite des Hauses C messen. Weil diese ebenfalls in den Punkt D läuft, so ist sie mit I H D parallel. Wenn man also aus B durch die beyden Punkte d und e an den beyden vodern Eken des Hau- ses gerade Linien zieht, (oder auch nur ein Lineal ansezt, oder einen Faden spannt) so schneiden diese von der Linie I H D ein Stük, dessen Maaß und Ein- theilung auch daß Maaß und die Eintheilung der Voderseite des Hauses C giebt. So findet man hier, wenn man die Eintheilung der Linie I H D weiter fortsezte, daß die Linie B d auf I H D in den 60 Fuß, B e aber, auf den 140 Fuß trift. Des- [Spaltenumbruch]
Per
wegen ist die Breite des Hauses oder d e 140, we- niger 60, das ist 80 Fuß.
Dieses kann hinlänglich seyn, jedem Liebhaber, der die wahren Grundsäze der Perspektiv gefaßt hat, deren Anwendung auf die Beurtheilung der Ge- mählde und Zeichnungen zu zeigen.
Hat der Künstler die Regeln der Perspektiv nicht beobachtet, sondern gegen sie gefehlet, so lassen sich auch seine Vergehungen durch ein ähnliches Verfah- ren der Beurtheilung entdeken. Aber schlaue Künst- ler, die sich ihrer Schwäche in der Perspektiv be- wußt sind, hüten sich sehr, regulaire Gegenstände, aus denen Parallellinien und gewisse Winkel könn- ten erkennt werden, in ihre Zeichnungen zu bringen; weil man dadurch am leichtesten ihre Fehler entde- ken würde.
Wir können diesen Artikel nicht schließen, ohne die Frage berührt zu haben; ob die Alten die Per- spektiv in ihren Zeichnungen beobachtet haben, oder nicht. Es ist bekannt, daß über diesen Punkt viel- fältig gestritten worden. Vollkommen ausgemacht und unzweifelhaft ist es, sowol aus dem wenigen, was Euclides über die Perspektiv geschrieben, als aus dem, was Vitruvius an zwey Stellen (*) erwäh- net, daß die Alten die Linienperspektiv, als eine be- sondere Wissenschaft, die dem Mahler nüzlich sey, gekannt, und daß sie gewußt haben, daß ohne die- selbe gewisse Dinge nicht natürlich genug können gezeichnet werden. Daß sie es aber in dieser Wis- senschaft eben nicht weit gebracht haben, sieht man aus der schwachen Perspektiv des sonst wahrhaftig großen Euclides deutlich genug; und daß die Mah- ler, Bildhauer und Steinschneider sich an das we- nige, was man von der Perspektiv wußte, gar nicht, oder doch höchst selten gekehrt haben, beweisen alle aus dem Alterthum übrig gebliebenen Werke der zeichnenden Künste. Die vollständige Wissenschaft der Perspektiv ist darum gänzlich als ein Werk der Neueren anzusehen. Die ersten, die den Grund dazu scheinen gelegt zu haben, sind Leonh. da Vinci und unser Albrecht Dürer. Wer aber zu wissen verlanget, wie die Perspektiv von der Zeit dieser Männer allmählig zur Vollkommenheit gestiegen ist, der wird in der so eben herausgekommenen zweyten Auflage von Hrn. Lamberts freyer Perspektiv gleich im Anfange des zweyten Theiles, das nöthige hier- von beysammen finden.
Pe-
(*)Lib. VII. pro- em. Lib. l. c. 2.
Zweyter Theil. T t t t t
[Spaltenumbruch]
Per
ſpektiviſch durch eingeſtekte Pfaͤhle wuͤrklich von 10 zu 10 Fuß eingetheilt ſey. Da dieſe Linie in eben den Punkt D geht, dahin auch P D geht, ſo iſt ſie mit dieſer perſpektiviſch parallel. Nun nehme man auf dieſer Linie irgend einen Punkt H und ziehe durch denſelben die Linie H K mit P D nicht perſpektiviſch, ſondern wuͤrklich parallel, ſo ſtellt dieſe die Linie I D, in ihrer wahren Lage auf dem Grundriß vor.
Der Maaßſtab auf dem Grundriß zur Ausmeſ- ſung der Linie H K wuͤrde nun eben der ſeyn, den man brauchen muͤßte, um in der Entfernung des Punkts H aufrecht ſtehende, oder mit dem Horizont parallel laufende Linien auszumeſſen. Weil nun in der Zeichnung von H bis an den Horizont 50 Fuß ſind, ſo wird dieſe Hoͤhe in 50 Theile getheilt, und zum Maaßſtab der Linie H K gebraucht, welche hier wuͤrklich von 10 zu 10 Fuß nach dieſem Maaße eingetheilt iſt.
Waͤre nun die Linie I H D, oder die perſpektivi- ſche Zeichnung der Linie H K noch nicht eingetheilt, ſo brauchte man, um dieſes zu verrichten, nur aus den Theilungspunkten der Linie H K gerade Linien nach P zu ziehen, wie es bey I i P geſchehen iſt. Dieſe Linien nun wuͤrden auch die Linie I H D per- perſpektiviſch eintheilen. Dieſes iſt daher klar, daß die Winkel bey P, z. B. o P I im Grundriß und der perſpektiviſchen Zeichnung gleich groß ſind, folglich gleich große Theile der wuͤrklichen Linie i H und ih- res Bildes i H abſchneiden.
Auf eben dieſe Weiſe verfaͤhrt man mit jeder an- dern Linie, die man ſo wie I H D einzutheilen, und auszumeſſen verlanget. Hat man aber dieſes mit einer gethan, ſo kann ihre Eintheilung auch zur Aus- meſſung aller mit ihr parallellaufenden Linien ge- braucht werden. Wir wollen z. B. ſezen, man wolle die Voderſeite des Hauſes C meſſen. Weil dieſe ebenfalls in den Punkt D laͤuft, ſo iſt ſie mit I H D parallel. Wenn man alſo aus B durch die beyden Punkte d und e an den beyden vodern Eken des Hau- ſes gerade Linien zieht, (oder auch nur ein Lineal anſezt, oder einen Faden ſpannt) ſo ſchneiden dieſe von der Linie I H D ein Stuͤk, deſſen Maaß und Ein- theilung auch daß Maaß und die Eintheilung der Voderſeite des Hauſes C giebt. So findet man hier, wenn man die Eintheilung der Linie I H D weiter fortſezte, daß die Linie B d auf I H D in den 60 Fuß, B e aber, auf den 140 Fuß trift. Des- [Spaltenumbruch]
Per
wegen iſt die Breite des Hauſes oder d e 140, we- niger 60, das iſt 80 Fuß.
Dieſes kann hinlaͤnglich ſeyn, jedem Liebhaber, der die wahren Grundſaͤze der Perſpektiv gefaßt hat, deren Anwendung auf die Beurtheilung der Ge- maͤhlde und Zeichnungen zu zeigen.
Hat der Kuͤnſtler die Regeln der Perſpektiv nicht beobachtet, ſondern gegen ſie gefehlet, ſo laſſen ſich auch ſeine Vergehungen durch ein aͤhnliches Verfah- ren der Beurtheilung entdeken. Aber ſchlaue Kuͤnſt- ler, die ſich ihrer Schwaͤche in der Perſpektiv be- wußt ſind, huͤten ſich ſehr, regulaire Gegenſtaͤnde, aus denen Parallellinien und gewiſſe Winkel koͤnn- ten erkennt werden, in ihre Zeichnungen zu bringen; weil man dadurch am leichteſten ihre Fehler entde- ken wuͤrde.
Wir koͤnnen dieſen Artikel nicht ſchließen, ohne die Frage beruͤhrt zu haben; ob die Alten die Per- ſpektiv in ihren Zeichnungen beobachtet haben, oder nicht. Es iſt bekannt, daß uͤber dieſen Punkt viel- faͤltig geſtritten worden. Vollkommen ausgemacht und unzweifelhaft iſt es, ſowol aus dem wenigen, was Euclides uͤber die Perſpektiv geſchrieben, als aus dem, was Vitruvius an zwey Stellen (*) erwaͤh- net, daß die Alten die Linienperſpektiv, als eine be- ſondere Wiſſenſchaft, die dem Mahler nuͤzlich ſey, gekannt, und daß ſie gewußt haben, daß ohne die- ſelbe gewiſſe Dinge nicht natuͤrlich genug koͤnnen gezeichnet werden. Daß ſie es aber in dieſer Wiſ- ſenſchaft eben nicht weit gebracht haben, ſieht man aus der ſchwachen Perſpektiv des ſonſt wahrhaftig großen Euclides deutlich genug; und daß die Mah- ler, Bildhauer und Steinſchneider ſich an das we- nige, was man von der Perſpektiv wußte, gar nicht, oder doch hoͤchſt ſelten gekehrt haben, beweiſen alle aus dem Alterthum uͤbrig gebliebenen Werke der zeichnenden Kuͤnſte. Die vollſtaͤndige Wiſſenſchaft der Perſpektiv iſt darum gaͤnzlich als ein Werk der Neueren anzuſehen. Die erſten, die den Grund dazu ſcheinen gelegt zu haben, ſind Leonh. da Vinci und unſer Albrecht Duͤrer. Wer aber zu wiſſen verlanget, wie die Perſpektiv von der Zeit dieſer Maͤnner allmaͤhlig zur Vollkommenheit geſtiegen iſt, der wird in der ſo eben herausgekommenen zweyten Auflage von Hrn. Lamberts freyer Perſpektiv gleich im Anfange des zweyten Theiles, das noͤthige hier- von beyſammen finden.
Pe-
(*)Lib. VII. pro- em. Lib. l. c. 2.
Zweyter Theil. T t t t t
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[899[881]/0316]
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ſpektiviſch durch eingeſtekte Pfaͤhle wuͤrklich von 10
zu 10 Fuß eingetheilt ſey. Da dieſe Linie in eben
den Punkt D geht, dahin auch P D geht, ſo iſt ſie
mit dieſer perſpektiviſch parallel. Nun nehme man
auf dieſer Linie irgend einen Punkt H und ziehe durch
denſelben die Linie H K mit P D nicht perſpektiviſch,
ſondern wuͤrklich parallel, ſo ſtellt dieſe die Linie I D,
in ihrer wahren Lage auf dem Grundriß vor.
Der Maaßſtab auf dem Grundriß zur Ausmeſ-
ſung der Linie H K wuͤrde nun eben der ſeyn, den
man brauchen muͤßte, um in der Entfernung des
Punkts H aufrecht ſtehende, oder mit dem Horizont
parallel laufende Linien auszumeſſen. Weil nun in
der Zeichnung von H bis an den Horizont 50 Fuß
ſind, ſo wird dieſe Hoͤhe in 50 Theile getheilt, und
zum Maaßſtab der Linie H K gebraucht, welche hier
wuͤrklich von 10 zu 10 Fuß nach dieſem Maaße
eingetheilt iſt.
Waͤre nun die Linie I H D, oder die perſpektivi-
ſche Zeichnung der Linie H K noch nicht eingetheilt,
ſo brauchte man, um dieſes zu verrichten, nur aus
den Theilungspunkten der Linie H K gerade Linien
nach P zu ziehen, wie es bey I i P geſchehen iſt.
Dieſe Linien nun wuͤrden auch die Linie I H D per-
perſpektiviſch eintheilen. Dieſes iſt daher klar, daß
die Winkel bey P, z. B. o P I im Grundriß und der
perſpektiviſchen Zeichnung gleich groß ſind, folglich
gleich große Theile der wuͤrklichen Linie i H und ih-
res Bildes i H abſchneiden.
Auf eben dieſe Weiſe verfaͤhrt man mit jeder an-
dern Linie, die man ſo wie I H D einzutheilen, und
auszumeſſen verlanget. Hat man aber dieſes mit
einer gethan, ſo kann ihre Eintheilung auch zur Aus-
meſſung aller mit ihr parallellaufenden Linien ge-
braucht werden. Wir wollen z. B. ſezen, man
wolle die Voderſeite des Hauſes C meſſen. Weil
dieſe ebenfalls in den Punkt D laͤuft, ſo iſt ſie mit I H D
parallel. Wenn man alſo aus B durch die beyden
Punkte d und e an den beyden vodern Eken des Hau-
ſes gerade Linien zieht, (oder auch nur ein Lineal
anſezt, oder einen Faden ſpannt) ſo ſchneiden dieſe
von der Linie I H D ein Stuͤk, deſſen Maaß und Ein-
theilung auch daß Maaß und die Eintheilung der
Voderſeite des Hauſes C giebt. So findet man
hier, wenn man die Eintheilung der Linie I H D
weiter fortſezte, daß die Linie B d auf I H D in den
60 Fuß, B e aber, auf den 140 Fuß trift. Des-
wegen iſt die Breite des Hauſes oder d e 140, we-
niger 60, das iſt 80 Fuß.
Dieſes kann hinlaͤnglich ſeyn, jedem Liebhaber,
der die wahren Grundſaͤze der Perſpektiv gefaßt hat,
deren Anwendung auf die Beurtheilung der Ge-
maͤhlde und Zeichnungen zu zeigen.
Hat der Kuͤnſtler die Regeln der Perſpektiv nicht
beobachtet, ſondern gegen ſie gefehlet, ſo laſſen ſich
auch ſeine Vergehungen durch ein aͤhnliches Verfah-
ren der Beurtheilung entdeken. Aber ſchlaue Kuͤnſt-
ler, die ſich ihrer Schwaͤche in der Perſpektiv be-
wußt ſind, huͤten ſich ſehr, regulaire Gegenſtaͤnde,
aus denen Parallellinien und gewiſſe Winkel koͤnn-
ten erkennt werden, in ihre Zeichnungen zu bringen;
weil man dadurch am leichteſten ihre Fehler entde-
ken wuͤrde.
Wir koͤnnen dieſen Artikel nicht ſchließen, ohne
die Frage beruͤhrt zu haben; ob die Alten die Per-
ſpektiv in ihren Zeichnungen beobachtet haben, oder
nicht. Es iſt bekannt, daß uͤber dieſen Punkt viel-
faͤltig geſtritten worden. Vollkommen ausgemacht
und unzweifelhaft iſt es, ſowol aus dem wenigen,
was Euclides uͤber die Perſpektiv geſchrieben, als
aus dem, was Vitruvius an zwey Stellen (*) erwaͤh-
net, daß die Alten die Linienperſpektiv, als eine be-
ſondere Wiſſenſchaft, die dem Mahler nuͤzlich ſey,
gekannt, und daß ſie gewußt haben, daß ohne die-
ſelbe gewiſſe Dinge nicht natuͤrlich genug koͤnnen
gezeichnet werden. Daß ſie es aber in dieſer Wiſ-
ſenſchaft eben nicht weit gebracht haben, ſieht man
aus der ſchwachen Perſpektiv des ſonſt wahrhaftig
großen Euclides deutlich genug; und daß die Mah-
ler, Bildhauer und Steinſchneider ſich an das we-
nige, was man von der Perſpektiv wußte, gar nicht,
oder doch hoͤchſt ſelten gekehrt haben, beweiſen
alle aus dem Alterthum uͤbrig gebliebenen Werke der
zeichnenden Kuͤnſte. Die vollſtaͤndige Wiſſenſchaft
der Perſpektiv iſt darum gaͤnzlich als ein Werk der
Neueren anzuſehen. Die erſten, die den Grund
dazu ſcheinen gelegt zu haben, ſind Leonh. da Vinci
und unſer Albrecht Duͤrer. Wer aber zu wiſſen
verlanget, wie die Perſpektiv von der Zeit dieſer
Maͤnner allmaͤhlig zur Vollkommenheit geſtiegen iſt,
der wird in der ſo eben herausgekommenen zweyten
Auflage von Hrn. Lamberts freyer Perſpektiv gleich
im Anfange des zweyten Theiles, das noͤthige hier-
von beyſammen finden.
Pe-
(*) Lib.
VII. pro-
em. Lib.
l. c. 2.
Zweyter Theil. T t t t t
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 899[881]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/316>, abgerufen am 27.11.2024.
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