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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Per
die Perspektiv nennt. Wenn gleich der Mahler nach
der Natur, oder nach dem Leben zeichnet; so kann
er diese Wissenschaft nicht wol missen. Denn es ist
eine sehr unsichere Sach um das Augenmaaß, das
durch die Einbildung gar ofte verfälscht wird. Ob-
gleich, zum Beyspiehl, wenn wir einen Menschen
vor uns stehen sehen, die Hand, die unserm Aug am
nächsten liegt, größer scheinet, als die andere, die
weiter weg ist, so bemerkt das Aug des Mahlers
dieses nicht allemal klar genug, und wenn er die
Perspektiv dabey vergißt, so wird er durch die Ein-
bildung immer verleitet, beyde Hände gleich groß
zu zeichnen. Also ist die Kenntnis der Perspektiv
in jedem Falle dem Zeichner nöthig; in gar viel
Fällen aber, besonders wenn er ein historisches Stük
aus der Phantasie zeichnet, wird er in der Stellung
der Figuren, in den Formen und in den Schlagschat-
ten gewiß schweere Fehler begehen, wenn er nicht
genau nach den Regeln der Perspektiv verfährt.

Es ist hier der Ort nicht diese Materie ganz abzu-
handeln. Jch werde mich begnügen die Fundamen-
talbegriffe der Perspektiv deutlich vorzutragen, und
hernach in einer Probe die Anwendung derselben zu
zeigen.

[Abbildung]

Man stelle sich vor A B C D sey ein ebener Boden,
wie der Fußboden eines Zimmers, und auf diesem
Boden, oder dieser Grundfläche, sey eine Figur e f g h
gezeichnet, welche von einem in i stehenden Aug ge-
[Spaltenumbruch]

Per
sehen wird. Ferner bilde man sich ein o p q r sey
eine Tafel, welche perpendicular sowol auf der Grund-
fläche als auf der Linie s i, nach welcher das Aug hin-
sieht, steht. Endlich stelle man sich vor, daß von
den vier Ekpunkten e, f, g, h, des auf dem Bo-
den gezeichneten Vierekes die geraden Linien e i, f i,
g i, h i,
gezogen werden, daß diese in den Punkten
k, l, m, n, durch die Tafel gehen, und daß endlich
die Linien k l, l m, m n, n k, auf der Tafel sichthar
gezogen werden, so wird man sehr leicht begreifen,
daß die Figur n k l m gerade so in das Aug falle, als
die Figur e f g h in dasselbe fallen würde, wenn die
Tafel nicht da wäre. Deswegen ist für diese Lage
des Auges und der übrigen Dinge die Figur n k l m
die richtige perspektivische Zeichnung des Viereks
e f g h.

Wären auf der Grundfläche noch mehr Figuren,
so würde jede auf eine ähnliche Weise ihre besondere
Lage und ihre besondere Figur auf der Tafel be-
kommen. Eben dieselbe Beschaffenheit hat es mit
solchen Gegenständen, die auf der Grundsläche in
die Höhe stehen, deren Lage, Größe und Figur auf
der Tafel so können gezeichnet werden, daß sie von
der Tafel aus, so in das Aug fallen, wie man sie
ohne die Tafel auf dem Grund würde gesehen haben.

Dieses ist die Art der Zeichnung, die die Perspek-
tiv lehret. Die Zeichner sind gewohnt, wenn sie
viele auf einer Grundfläche neben und hintereinan-
der stehende Gegenstände perspektivisch zeichnen wol-
len, zuerst einen Grundriß davon zu entwerfen,
der den eigentlichen Ort eines jeden auf dem Grunde,
und die Figur die jeder Gegenstand auf demselben
durch seine aufstehende Fläche zeichnet, enthält, und
aus diesem Grundriße zeichnen sie denn, nach den Re-
geln der Perspektiv den Aufriß. Dieses Verfahren ist
mühesam, und Hr. Lambert hat gezeiget, daß der
Grundriß allenfalls, wenigstens in sehr viel Fällen
entbehrlich sey. Er hat in einem sehr gründlichen
Werk, das unter dem Titel die freye Perspektiv her-
ausgekommen (*) sehr sinnreiche dabey doch leichte
Regeln für diese perspektivische Zeichnungen ohne
Grundriß gegeben. Und hiervon will ich hier einen
Begriff geben, nachdem ich vorher die Hauptbegriffe,
worauf es bey der Perspektiv überhaupt ankommt,
werde deutlich erklärt haben.

Aus dem was kurz vorher von der perspektivischen
Zeichnung überhaupt gesagt worden, kann jeder leicht
sehen, daß sie allemal anders ausfallen, und sowol

in
(*) Zürich
1759. 8.
Zweyter Theil. S s s s s

[Spaltenumbruch]

Per
die Perſpektiv nennt. Wenn gleich der Mahler nach
der Natur, oder nach dem Leben zeichnet; ſo kann
er dieſe Wiſſenſchaft nicht wol miſſen. Denn es iſt
eine ſehr unſichere Sach um das Augenmaaß, das
durch die Einbildung gar ofte verfaͤlſcht wird. Ob-
gleich, zum Beyſpiehl, wenn wir einen Menſchen
vor uns ſtehen ſehen, die Hand, die unſerm Aug am
naͤchſten liegt, groͤßer ſcheinet, als die andere, die
weiter weg iſt, ſo bemerkt das Aug des Mahlers
dieſes nicht allemal klar genug, und wenn er die
Perſpektiv dabey vergißt, ſo wird er durch die Ein-
bildung immer verleitet, beyde Haͤnde gleich groß
zu zeichnen. Alſo iſt die Kenntnis der Perſpektiv
in jedem Falle dem Zeichner noͤthig; in gar viel
Faͤllen aber, beſonders wenn er ein hiſtoriſches Stuͤk
aus der Phantaſie zeichnet, wird er in der Stellung
der Figuren, in den Formen und in den Schlagſchat-
ten gewiß ſchweere Fehler begehen, wenn er nicht
genau nach den Regeln der Perſpektiv verfaͤhrt.

Es iſt hier der Ort nicht dieſe Materie ganz abzu-
handeln. Jch werde mich begnuͤgen die Fundamen-
talbegriffe der Perſpektiv deutlich vorzutragen, und
hernach in einer Probe die Anwendung derſelben zu
zeigen.

[Abbildung]

Man ſtelle ſich vor A B C D ſey ein ebener Boden,
wie der Fußboden eines Zimmers, und auf dieſem
Boden, oder dieſer Grundflaͤche, ſey eine Figur e f g h
gezeichnet, welche von einem in i ſtehenden Aug ge-
[Spaltenumbruch]

Per
ſehen wird. Ferner bilde man ſich ein o p q r ſey
eine Tafel, welche perpendicular ſowol auf der Grund-
flaͤche als auf der Linie s i, nach welcher das Aug hin-
ſieht, ſteht. Endlich ſtelle man ſich vor, daß von
den vier Ekpunkten e, f, g, h, des auf dem Bo-
den gezeichneten Vierekes die geraden Linien e i, f i,
g i, h i,
gezogen werden, daß dieſe in den Punkten
k, l, m, n, durch die Tafel gehen, und daß endlich
die Linien k l, l m, m n, n k, auf der Tafel ſichthar
gezogen werden, ſo wird man ſehr leicht begreifen,
daß die Figur n k l m gerade ſo in das Aug falle, als
die Figur e f g h in daſſelbe fallen wuͤrde, wenn die
Tafel nicht da waͤre. Deswegen iſt fuͤr dieſe Lage
des Auges und der uͤbrigen Dinge die Figur n k l m
die richtige perſpektiviſche Zeichnung des Viereks
e f g h.

Waͤren auf der Grundflaͤche noch mehr Figuren,
ſo wuͤrde jede auf eine aͤhnliche Weiſe ihre beſondere
Lage und ihre beſondere Figur auf der Tafel be-
kommen. Eben dieſelbe Beſchaffenheit hat es mit
ſolchen Gegenſtaͤnden, die auf der Grundſlaͤche in
die Hoͤhe ſtehen, deren Lage, Groͤße und Figur auf
der Tafel ſo koͤnnen gezeichnet werden, daß ſie von
der Tafel aus, ſo in das Aug fallen, wie man ſie
ohne die Tafel auf dem Grund wuͤrde geſehen haben.

Dieſes iſt die Art der Zeichnung, die die Perſpek-
tiv lehret. Die Zeichner ſind gewohnt, wenn ſie
viele auf einer Grundflaͤche neben und hintereinan-
der ſtehende Gegenſtaͤnde perſpektiviſch zeichnen wol-
len, zuerſt einen Grundriß davon zu entwerfen,
der den eigentlichen Ort eines jeden auf dem Grunde,
und die Figur die jeder Gegenſtand auf demſelben
durch ſeine aufſtehende Flaͤche zeichnet, enthaͤlt, und
aus dieſem Grundriße zeichnen ſie denn, nach den Re-
geln der Perſpektiv den Aufriß. Dieſes Verfahren iſt
muͤheſam, und Hr. Lambert hat gezeiget, daß der
Grundriß allenfalls, wenigſtens in ſehr viel Faͤllen
entbehrlich ſey. Er hat in einem ſehr gruͤndlichen
Werk, das unter dem Titel die freye Perſpektiv her-
ausgekommen (*) ſehr ſinnreiche dabey doch leichte
Regeln fuͤr dieſe perſpektiviſche Zeichnungen ohne
Grundriß gegeben. Und hiervon will ich hier einen
Begriff geben, nachdem ich vorher die Hauptbegriffe,
worauf es bey der Perſpektiv uͤberhaupt ankommt,
werde deutlich erklaͤrt haben.

Aus dem was kurz vorher von der perſpektiviſchen
Zeichnung uͤberhaupt geſagt worden, kann jeder leicht
ſehen, daß ſie allemal anders ausfallen, und ſowol

in
(*) Zuͤrich
1759. 8.
Zweyter Theil. S s s s s
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[891[873]/0308] Per Per die Perſpektiv nennt. Wenn gleich der Mahler nach der Natur, oder nach dem Leben zeichnet; ſo kann er dieſe Wiſſenſchaft nicht wol miſſen. Denn es iſt eine ſehr unſichere Sach um das Augenmaaß, das durch die Einbildung gar ofte verfaͤlſcht wird. Ob- gleich, zum Beyſpiehl, wenn wir einen Menſchen vor uns ſtehen ſehen, die Hand, die unſerm Aug am naͤchſten liegt, groͤßer ſcheinet, als die andere, die weiter weg iſt, ſo bemerkt das Aug des Mahlers dieſes nicht allemal klar genug, und wenn er die Perſpektiv dabey vergißt, ſo wird er durch die Ein- bildung immer verleitet, beyde Haͤnde gleich groß zu zeichnen. Alſo iſt die Kenntnis der Perſpektiv in jedem Falle dem Zeichner noͤthig; in gar viel Faͤllen aber, beſonders wenn er ein hiſtoriſches Stuͤk aus der Phantaſie zeichnet, wird er in der Stellung der Figuren, in den Formen und in den Schlagſchat- ten gewiß ſchweere Fehler begehen, wenn er nicht genau nach den Regeln der Perſpektiv verfaͤhrt. Es iſt hier der Ort nicht dieſe Materie ganz abzu- handeln. Jch werde mich begnuͤgen die Fundamen- talbegriffe der Perſpektiv deutlich vorzutragen, und hernach in einer Probe die Anwendung derſelben zu zeigen. [Abbildung] Man ſtelle ſich vor A B C D ſey ein ebener Boden, wie der Fußboden eines Zimmers, und auf dieſem Boden, oder dieſer Grundflaͤche, ſey eine Figur e f g h gezeichnet, welche von einem in i ſtehenden Aug ge- ſehen wird. Ferner bilde man ſich ein o p q r ſey eine Tafel, welche perpendicular ſowol auf der Grund- flaͤche als auf der Linie s i, nach welcher das Aug hin- ſieht, ſteht. Endlich ſtelle man ſich vor, daß von den vier Ekpunkten e, f, g, h, des auf dem Bo- den gezeichneten Vierekes die geraden Linien e i, f i, g i, h i, gezogen werden, daß dieſe in den Punkten k, l, m, n, durch die Tafel gehen, und daß endlich die Linien k l, l m, m n, n k, auf der Tafel ſichthar gezogen werden, ſo wird man ſehr leicht begreifen, daß die Figur n k l m gerade ſo in das Aug falle, als die Figur e f g h in daſſelbe fallen wuͤrde, wenn die Tafel nicht da waͤre. Deswegen iſt fuͤr dieſe Lage des Auges und der uͤbrigen Dinge die Figur n k l m die richtige perſpektiviſche Zeichnung des Viereks e f g h. Waͤren auf der Grundflaͤche noch mehr Figuren, ſo wuͤrde jede auf eine aͤhnliche Weiſe ihre beſondere Lage und ihre beſondere Figur auf der Tafel be- kommen. Eben dieſelbe Beſchaffenheit hat es mit ſolchen Gegenſtaͤnden, die auf der Grundſlaͤche in die Hoͤhe ſtehen, deren Lage, Groͤße und Figur auf der Tafel ſo koͤnnen gezeichnet werden, daß ſie von der Tafel aus, ſo in das Aug fallen, wie man ſie ohne die Tafel auf dem Grund wuͤrde geſehen haben. Dieſes iſt die Art der Zeichnung, die die Perſpek- tiv lehret. Die Zeichner ſind gewohnt, wenn ſie viele auf einer Grundflaͤche neben und hintereinan- der ſtehende Gegenſtaͤnde perſpektiviſch zeichnen wol- len, zuerſt einen Grundriß davon zu entwerfen, der den eigentlichen Ort eines jeden auf dem Grunde, und die Figur die jeder Gegenſtand auf demſelben durch ſeine aufſtehende Flaͤche zeichnet, enthaͤlt, und aus dieſem Grundriße zeichnen ſie denn, nach den Re- geln der Perſpektiv den Aufriß. Dieſes Verfahren iſt muͤheſam, und Hr. Lambert hat gezeiget, daß der Grundriß allenfalls, wenigſtens in ſehr viel Faͤllen entbehrlich ſey. Er hat in einem ſehr gruͤndlichen Werk, das unter dem Titel die freye Perſpektiv her- ausgekommen (*) ſehr ſinnreiche dabey doch leichte Regeln fuͤr dieſe perſpektiviſche Zeichnungen ohne Grundriß gegeben. Und hiervon will ich hier einen Begriff geben, nachdem ich vorher die Hauptbegriffe, worauf es bey der Perſpektiv uͤberhaupt ankommt, werde deutlich erklaͤrt haben. Aus dem was kurz vorher von der perſpektiviſchen Zeichnung uͤberhaupt geſagt worden, kann jeder leicht ſehen, daß ſie allemal anders ausfallen, und ſowol in (*) Zuͤrich 1759. 8. Zweyter Theil. S s s s s

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 891[873]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/308>, abgerufen am 28.11.2024.