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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ori
Provinz (+); sie öffnen uns neue Quellen des Ver-
gnügens und neue Minen, aus denen die zu Len-
kung der menschlichen Gemüther nöthige Mittel ge-
zogen werden.

Bald jeder Originalgeist verursachet in dem Reich
des Geschmaks beträchtliche Veränderung, die sich
auch wol bis auf die allgemeine sittliche Verfassung
seiner Zeit erstreken kann. Denn der große Hau-
fen wendet sich allemal dahin wo er die wenigen
kühneren Menschen sieht, die sich neue Bahnen er-
öffnet haben. Diese sind die eigentlichen Führer der
Menschen. So hat Luther, ein großer Original-
geist, viel Völker von der gewöhnlichen Bahn des
Glaubens und der gottesdienstlichen Verrichtungen
abgeleitet und eine neue Heerstraße errichtet. Jn
Sachen des Geschmaks sind dergleichen Veränderun-
gen noch viel leichter, weil da die Freyheit durch
nichts eingeschränkt ist. Diejenigen von unsern
Dichtern, die den Muth hatten, den deutschen Vers
von den Fesseln des Reims zu befreyen (*), haben
in unsrer Dichtkunst eine wichtige Revolution veran-
lasset; und Gleim, obgleich selbst ein Nachahmer
des Anakreons, aber genug original, hat eine ganz
neue Schule von Dichtern gestiftet. Bodmer und
Breitinger waren auch nur zufällige Originalkunst-
richter; aber sie haben dem Reich des Geschmaks
in Deutschland eine ganz neue Verfassung geben.
Was der Ruhm am glänzendsten hat, ist allemal
den Originalgeistern auf behalten; aber sein bestes
Kleinod gebühret denen, die in den wichtigsten Thei-
len der schönen Kunst Original sind.

Zwar hat jedes Original etwas, wodurch es ei-
nen Werth bekommt, den die fürtreff lichste Nach-
ahmung nicht hat; die Kunst selbst gewinnt dadurch:
aber die Nachahmung kann so seyn, daß die Errei-
chung des Zweks der Kunst dadurch besördert wird,
den nicht jedes Original erreicht. Es giebt in den
zeichnenden Künsten Kenner, die jedes Original-
werk, jeder Copey vorziehen; und sie haben recht
in so fern die Werke zum Studium der Kunst ge-
braucht werden: wenn aber die Frage darüber ist,
was man mit einem Werke, zur allgemeinen Ab-
sicht der Künste bewürken könne, so kann eine Nach-
[Spaltenumbruch]

Ori
ahmung unendlich mehr werth seyn, als ein Origi-
nal. Eben dieses muß man auch bey die Schäzung
der Originalgeister bedenken, wo der, welcher am
meisten Original ist, nicht allemal jedem andern
vorgezogen werden kann. La Fontaine ist in Er-
zählung der Fabel höchst original, Aesopus ist es
vornehmlich in der Anwendung, das ist, im wich-
tigsten Theile derselben. Es wäre gar wol möglich,
daß ein Fabeldichter, der ein bloßer Nachahmer des
Phrygiers wäre, an Werth den französischen Fabu-
listen weit überträfe. Jn Romanen sind Richardson
und Fielding Originale, der eine in einer, der an-
dre in einer andern Art; jener arbeitet immer auf
das Herz, dieser auf den Verstand und auf die Laune.
Vielleicht ist Fielding mehr Original in seiner Art,
als Nichardson in der seinigen; aber die Art des
lezteren ist wichtiger. (++) Eben so große Originale
sind Montesquieu und Roußeau in dem, was sie
über die Verfassungen der bürgerlichen Gesellschaften
geschrieben haben; jeder hat ein neues Feld, oder
neue Aussichten eröffnet: für den Staatsmann, den
das Wol oder Wehe der Menschen wenig rühret, ist
jener wichtig; der moralische Philosoph wird diesem
weit den Vorzug geben.

Seiten ist ein Künstler in allen zur Kunst gehöri-
gen Talenten so original, wie Klopstok in jedem
dichterischen Talent es ist. Einer ist blos durch die
Phantasie, oder blos durch Laune original; ein an-
drer ist es durch seine Art sittliche Gegenstände zu
empfinden, und ein dritter durch den Verstand, die
Wichtigkeit, oder die weite Ausdehnung des Ge-
sichtspunkts, aus dem er die Sachen betrachtet; und
denn kann das Originale mehrerer Talente vielfäl-
tig gemischt seyn. Swift und Buttler sind beyde
sehr Original durch Phantasie und Laune, die bey
jedem ihre eigenen Mischungen mit andern Gemüths-
gaben hatten. Die wichtigsten Originale sind ohne
Zweifel die, deren Erfindungen nicht blos den Künst-
lern in einzeln Theilen der Kunst vortheilhaft sind,
sondern dem Geschmak eines ganzen Volkes eine
neue und vortheilhafte Wendung geben; die neue
Quellen eines sich über ein ganzes Volk verbreiten-
des Vergnügens eröffnen; die den allgemeinen Ge-

müths-
(+) Gedanken über die Originalwerke. S. 16. nach
der zweyten Ausgabe der deutschen Uebersezung.
(*) S.
Lyr. Vers-
arten.
(++) [Spaltenumbruch]
Hier ist von der Art den Roman zur Bildung des
Herzens anzuwenden, überhaupt die Rede; denn was sich
[Spaltenumbruch] sonst gegen das Besondere der Richardsonischen Behan-
lung einwenden läßt, ist allerdings erheblich. Der Ver-
fasser des Agathons hat wichtige Erinnerungen dagegen
vorgebracht.

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Ori
Provinz (†); ſie oͤffnen uns neue Quellen des Ver-
gnuͤgens und neue Minen, aus denen die zu Len-
kung der menſchlichen Gemuͤther noͤthige Mittel ge-
zogen werden.

Bald jeder Originalgeiſt verurſachet in dem Reich
des Geſchmaks betraͤchtliche Veraͤnderung, die ſich
auch wol bis auf die allgemeine ſittliche Verfaſſung
ſeiner Zeit erſtreken kann. Denn der große Hau-
fen wendet ſich allemal dahin wo er die wenigen
kuͤhneren Menſchen ſieht, die ſich neue Bahnen er-
oͤffnet haben. Dieſe ſind die eigentlichen Fuͤhrer der
Menſchen. So hat Luther, ein großer Original-
geiſt, viel Voͤlker von der gewoͤhnlichen Bahn des
Glaubens und der gottesdienſtlichen Verrichtungen
abgeleitet und eine neue Heerſtraße errichtet. Jn
Sachen des Geſchmaks ſind dergleichen Veraͤnderun-
gen noch viel leichter, weil da die Freyheit durch
nichts eingeſchraͤnkt iſt. Diejenigen von unſern
Dichtern, die den Muth hatten, den deutſchen Vers
von den Feſſeln des Reims zu befreyen (*), haben
in unſrer Dichtkunſt eine wichtige Revolution veran-
laſſet; und Gleim, obgleich ſelbſt ein Nachahmer
des Anakreons, aber genug original, hat eine ganz
neue Schule von Dichtern geſtiftet. Bodmer und
Breitinger waren auch nur zufaͤllige Originalkunſt-
richter; aber ſie haben dem Reich des Geſchmaks
in Deutſchland eine ganz neue Verfaſſung geben.
Was der Ruhm am glaͤnzendſten hat, iſt allemal
den Originalgeiſtern auf behalten; aber ſein beſtes
Kleinod gebuͤhret denen, die in den wichtigſten Thei-
len der ſchoͤnen Kunſt Original ſind.

Zwar hat jedes Original etwas, wodurch es ei-
nen Werth bekommt, den die fuͤrtreff lichſte Nach-
ahmung nicht hat; die Kunſt ſelbſt gewinnt dadurch:
aber die Nachahmung kann ſo ſeyn, daß die Errei-
chung des Zweks der Kunſt dadurch beſoͤrdert wird,
den nicht jedes Original erreicht. Es giebt in den
zeichnenden Kuͤnſten Kenner, die jedes Original-
werk, jeder Copey vorziehen; und ſie haben recht
in ſo fern die Werke zum Studium der Kunſt ge-
braucht werden: wenn aber die Frage daruͤber iſt,
was man mit einem Werke, zur allgemeinen Ab-
ſicht der Kuͤnſte bewuͤrken koͤnne, ſo kann eine Nach-
[Spaltenumbruch]

Ori
ahmung unendlich mehr werth ſeyn, als ein Origi-
nal. Eben dieſes muß man auch bey die Schaͤzung
der Originalgeiſter bedenken, wo der, welcher am
meiſten Original iſt, nicht allemal jedem andern
vorgezogen werden kann. La Fontaine iſt in Er-
zaͤhlung der Fabel hoͤchſt original, Aeſopus iſt es
vornehmlich in der Anwendung, das iſt, im wich-
tigſten Theile derſelben. Es waͤre gar wol moͤglich,
daß ein Fabeldichter, der ein bloßer Nachahmer des
Phrygiers waͤre, an Werth den franzoͤſiſchen Fabu-
liſten weit uͤbertraͤfe. Jn Romanen ſind Richardſon
und Fielding Originale, der eine in einer, der an-
dre in einer andern Art; jener arbeitet immer auf
das Herz, dieſer auf den Verſtand und auf die Laune.
Vielleicht iſt Fielding mehr Original in ſeiner Art,
als Nichardſon in der ſeinigen; aber die Art des
lezteren iſt wichtiger. (††) Eben ſo große Originale
ſind Montesquieu und Roußeau in dem, was ſie
uͤber die Verfaſſungen der buͤrgerlichen Geſellſchaften
geſchrieben haben; jeder hat ein neues Feld, oder
neue Ausſichten eroͤffnet: fuͤr den Staatsmann, den
das Wol oder Wehe der Menſchen wenig ruͤhret, iſt
jener wichtig; der moraliſche Philoſoph wird dieſem
weit den Vorzug geben.

Seiten iſt ein Kuͤnſtler in allen zur Kunſt gehoͤri-
gen Talenten ſo original, wie Klopſtok in jedem
dichteriſchen Talent es iſt. Einer iſt blos durch die
Phantaſie, oder blos durch Laune original; ein an-
drer iſt es durch ſeine Art ſittliche Gegenſtaͤnde zu
empfinden, und ein dritter durch den Verſtand, die
Wichtigkeit, oder die weite Ausdehnung des Ge-
ſichtspunkts, aus dem er die Sachen betrachtet; und
denn kann das Originale mehrerer Talente vielfaͤl-
tig gemiſcht ſeyn. Swift und Buttler ſind beyde
ſehr Original durch Phantaſie und Laune, die bey
jedem ihre eigenen Miſchungen mit andern Gemuͤths-
gaben hatten. Die wichtigſten Originale ſind ohne
Zweifel die, deren Erfindungen nicht blos den Kuͤnſt-
lern in einzeln Theilen der Kunſt vortheilhaft ſind,
ſondern dem Geſchmak eines ganzen Volkes eine
neue und vortheilhafte Wendung geben; die neue
Quellen eines ſich uͤber ein ganzes Volk verbreiten-
des Vergnuͤgens eroͤffnen; die den allgemeinen Ge-

muͤths-
(†) Gedanken uͤber die Originalwerke. S. 16. nach
der zweyten Ausgabe der deutſchen Ueberſezung.
(*) S.
Lyr. Vers-
arten.
(††) [Spaltenumbruch]
Hier iſt von der Art den Roman zur Bildung des
Herzens anzuwenden, uͤberhaupt die Rede; denn was ſich
[Spaltenumbruch] ſonſt gegen das Beſondere der Richardſoniſchen Behan-
lung einwenden laͤßt, iſt allerdings erheblich. Der Ver-
faſſer des Agathons hat wichtige Erinnerungen dagegen
vorgebracht.
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[862[844]/0279] Ori Ori Provinz (†); ſie oͤffnen uns neue Quellen des Ver- gnuͤgens und neue Minen, aus denen die zu Len- kung der menſchlichen Gemuͤther noͤthige Mittel ge- zogen werden. Bald jeder Originalgeiſt verurſachet in dem Reich des Geſchmaks betraͤchtliche Veraͤnderung, die ſich auch wol bis auf die allgemeine ſittliche Verfaſſung ſeiner Zeit erſtreken kann. Denn der große Hau- fen wendet ſich allemal dahin wo er die wenigen kuͤhneren Menſchen ſieht, die ſich neue Bahnen er- oͤffnet haben. Dieſe ſind die eigentlichen Fuͤhrer der Menſchen. So hat Luther, ein großer Original- geiſt, viel Voͤlker von der gewoͤhnlichen Bahn des Glaubens und der gottesdienſtlichen Verrichtungen abgeleitet und eine neue Heerſtraße errichtet. Jn Sachen des Geſchmaks ſind dergleichen Veraͤnderun- gen noch viel leichter, weil da die Freyheit durch nichts eingeſchraͤnkt iſt. Diejenigen von unſern Dichtern, die den Muth hatten, den deutſchen Vers von den Feſſeln des Reims zu befreyen (*), haben in unſrer Dichtkunſt eine wichtige Revolution veran- laſſet; und Gleim, obgleich ſelbſt ein Nachahmer des Anakreons, aber genug original, hat eine ganz neue Schule von Dichtern geſtiftet. Bodmer und Breitinger waren auch nur zufaͤllige Originalkunſt- richter; aber ſie haben dem Reich des Geſchmaks in Deutſchland eine ganz neue Verfaſſung geben. Was der Ruhm am glaͤnzendſten hat, iſt allemal den Originalgeiſtern auf behalten; aber ſein beſtes Kleinod gebuͤhret denen, die in den wichtigſten Thei- len der ſchoͤnen Kunſt Original ſind. Zwar hat jedes Original etwas, wodurch es ei- nen Werth bekommt, den die fuͤrtreff lichſte Nach- ahmung nicht hat; die Kunſt ſelbſt gewinnt dadurch: aber die Nachahmung kann ſo ſeyn, daß die Errei- chung des Zweks der Kunſt dadurch beſoͤrdert wird, den nicht jedes Original erreicht. Es giebt in den zeichnenden Kuͤnſten Kenner, die jedes Original- werk, jeder Copey vorziehen; und ſie haben recht in ſo fern die Werke zum Studium der Kunſt ge- braucht werden: wenn aber die Frage daruͤber iſt, was man mit einem Werke, zur allgemeinen Ab- ſicht der Kuͤnſte bewuͤrken koͤnne, ſo kann eine Nach- ahmung unendlich mehr werth ſeyn, als ein Origi- nal. Eben dieſes muß man auch bey die Schaͤzung der Originalgeiſter bedenken, wo der, welcher am meiſten Original iſt, nicht allemal jedem andern vorgezogen werden kann. La Fontaine iſt in Er- zaͤhlung der Fabel hoͤchſt original, Aeſopus iſt es vornehmlich in der Anwendung, das iſt, im wich- tigſten Theile derſelben. Es waͤre gar wol moͤglich, daß ein Fabeldichter, der ein bloßer Nachahmer des Phrygiers waͤre, an Werth den franzoͤſiſchen Fabu- liſten weit uͤbertraͤfe. Jn Romanen ſind Richardſon und Fielding Originale, der eine in einer, der an- dre in einer andern Art; jener arbeitet immer auf das Herz, dieſer auf den Verſtand und auf die Laune. Vielleicht iſt Fielding mehr Original in ſeiner Art, als Nichardſon in der ſeinigen; aber die Art des lezteren iſt wichtiger. (††) Eben ſo große Originale ſind Montesquieu und Roußeau in dem, was ſie uͤber die Verfaſſungen der buͤrgerlichen Geſellſchaften geſchrieben haben; jeder hat ein neues Feld, oder neue Ausſichten eroͤffnet: fuͤr den Staatsmann, den das Wol oder Wehe der Menſchen wenig ruͤhret, iſt jener wichtig; der moraliſche Philoſoph wird dieſem weit den Vorzug geben. Seiten iſt ein Kuͤnſtler in allen zur Kunſt gehoͤri- gen Talenten ſo original, wie Klopſtok in jedem dichteriſchen Talent es iſt. Einer iſt blos durch die Phantaſie, oder blos durch Laune original; ein an- drer iſt es durch ſeine Art ſittliche Gegenſtaͤnde zu empfinden, und ein dritter durch den Verſtand, die Wichtigkeit, oder die weite Ausdehnung des Ge- ſichtspunkts, aus dem er die Sachen betrachtet; und denn kann das Originale mehrerer Talente vielfaͤl- tig gemiſcht ſeyn. Swift und Buttler ſind beyde ſehr Original durch Phantaſie und Laune, die bey jedem ihre eigenen Miſchungen mit andern Gemuͤths- gaben hatten. Die wichtigſten Originale ſind ohne Zweifel die, deren Erfindungen nicht blos den Kuͤnſt- lern in einzeln Theilen der Kunſt vortheilhaft ſind, ſondern dem Geſchmak eines ganzen Volkes eine neue und vortheilhafte Wendung geben; die neue Quellen eines ſich uͤber ein ganzes Volk verbreiten- des Vergnuͤgens eroͤffnen; die den allgemeinen Ge- muͤths- (†) Gedanken uͤber die Originalwerke. S. 16. nach der zweyten Ausgabe der deutſchen Ueberſezung. (*) S. Lyr. Vers- arten. (††) Hier iſt von der Art den Roman zur Bildung des Herzens anzuwenden, uͤberhaupt die Rede; denn was ſich ſonſt gegen das Beſondere der Richardſoniſchen Behan- lung einwenden laͤßt, iſt allerdings erheblich. Der Ver- faſſer des Agathons hat wichtige Erinnerungen dagegen vorgebracht.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 862[844]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/279>, abgerufen am 29.11.2024.