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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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den. Da kann man sich leichte vorstellen, was für
Zwang und Gewalt der Dichter seinem Stoff an-
thun müsse, um solchen Forderungen genug zu thun;
wie ofte er das Jnnere, Wesentliche der tragischen
Handlung, die Entwiklung großer Charakter und
Leidenschaften, einem mehr ins Aug fallenden Ge-
genstand aufopfern müsse. Deswegen trift man in
dem Plan der besten Opern, allemal unnatürliche,
erzwungene, oder gar abentheuerliche Dinge an.
Dies ist die erste Ungereimtheit zu der die Mode auch
den besten Dichter zwingt. Und wenn es nur auch
die einzige wäre!

Aber nun kommt die Anfoderung der Sänger.
Jn jeder Oper sollen die besten Sänger auch am öf-
tersten singen, aber auch jeder mittelmäßige und so
gar die schlechtesten, die einmal zum Schauspiehl
gedungen sind und bezahlt werden, müssen sich doch
ein oder ein paarmal in großen Arien hören lassen;
die beyden ersten Sänger, nämlich der beste Sän-
ger und die beste Sängerin, müssen nothwendig
ein oder mehrmal zugleich singen; also muß der Dich-
ter Duette in die Oper bringen; oft auch Terzette,
Quartette u. s. w. Noch mehr: die ersten Sänger
können ihre völlige Kunst insgemein nur in einerley
Charakter zeigen; der im zärtlichen Adagio, dieser
im feuerigen Allegro u. s. w. Darum muß der
Dichter seine Arien so einrichten, daß jeder in seiner
Art glänzen könne.

Die Mannigfaltigkeit der daraus entstehenden
Ungereimtheiten ist kaum zu übersehen. Eine
oder zwey Sängerinnen müssen nothwendig Haupt-
rolen haben, die Natur der Handlung mag es
zulassen, oder nicht. Wenn sich der Dichter nicht
anders zu helfen weiß, so verwikelt er sie in Liebes-
händel, wenn sie auch dem Jnhalt des Stüks noch
so sehr zuwieder wären. So mußte der beste Opern-
dichter Metastasto selbst, gegen alle Natur und Ver-
nunft in die Handlung, die sich in Utica mit Catos
Tod endigte, zwey Frauenzimmer einflechten; die
Wittwe des Pompejus und selbst die Marcia Catos
Tochter; und diese mußte so gar in Cäsar verliebt
seyn, und von einem Numidischen Prinzen geliebt
werden, damit zwey Sängerinnen Gelegenheit be-
kämen sich hören zu lassen. Wie abgeschmakt Lie-
beshändel in einer so finstern Handlung stehen, füh-
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let auch der, der sonst weder der Ueberlegung noch
des Nachdenkens gewohnt ist. Damit jeder Sän-
ger Gelegenheit habe sich hören zu lassen, müssen
gar ofte Sachen gesungen werden, bey denen kei-
nem Menschen, weder wachend noch träumend nur
die Vorstellung von Singen einfallen kann; fro-
stige, oder bedächtliche Anmerkungen und allge-
meine Maximen. Welchem verständigen oder ver-
rükten Menschen könnte es einfallen, die Anmer-
kung, daß ein alter versuchter Krieger nicht blind-
lings zuschlägt, sondern seinen Muth zurükhält,
bis er seinen Vortheil abgesehen,
singend vorzutra-
gen; (+) oder diese bey aufstoßenden Wiederwärtig-
keiten frostige Allegorie, daß der Weinstok durch
das Beschneiden besser treibt, und der wolriechende
Gummi nur aus verwundeten Bäumen, trieft?
(++)
Dergleichen kindisches Zeug kommt bald in jeder
Oper vor. Auch wird man selten eine sehen, wo
nicht die Ungereimtheit vorkomme, daß Personen,
die wegen bereits vorhandener großen Gefahr, oder
andrer wichtiger Ursachen halber, die höchste Eil in
ihren Unternehmungen nöthig haben, sich währen-
dem Ritornell sehr langsam und ernsthaft hinstellen,
erst recht aushusten, und denn einen Gesang anfan-
gen, in dem sie bald jedes Wort sechs und mehr-
mal wiederholen, und wobey man die Gefahr und
die dringensten Geschäfte völlig vergißt. Hat man
irgend anderswo mehr als hier Ursach mit Horaz
auszurufen:

Spectatum admissi risum teneatis amici!

Zu dem kommt noch das ewige Einerley gewisser
Materien. Wer eine oder zwey Opern gesehen hat,
der hat auch viele Scenen von hundert andern ge-
sehen. Verliebte Klagen, ein paar unglükliche
Liebhaber, davon einer ins Gefängnis und in Lebens-
gefahr kommt; denn ein zärtliches Abschiednehmen
in einem Duett und dergleichen, kommen beynahe
in gar allen Opern, vor.

Eben so mannigfaltig und so ausschweifend sind
die Ungereimtheiten in der Oper, die von der Musik
herrühren. Diese ist und kann ihrer Natur nach
nichts anders seyn, als ein Ausdruk der Leidenschaf-
ten, oder eine Schilderung der Empfindungen, eines
in Bewegung gesetzten, oder gelassenen Gemüthes.
Aber mit dieser Anwendung der Kunst auf den ein-

zigen
(+) S. Adriano di Metastasio. Att. II. s. 5. saggio guer-
riero antico.
&c.
(++) Ebendaselbst. Att. III. s. 2. Piu bella, al tempe
usato
&c.
Zweyter Theil. M m m m m

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Ope
den. Da kann man ſich leichte vorſtellen, was fuͤr
Zwang und Gewalt der Dichter ſeinem Stoff an-
thun muͤſſe, um ſolchen Forderungen genug zu thun;
wie ofte er das Jnnere, Weſentliche der tragiſchen
Handlung, die Entwiklung großer Charakter und
Leidenſchaften, einem mehr ins Aug fallenden Ge-
genſtand aufopfern muͤſſe. Deswegen trift man in
dem Plan der beſten Opern, allemal unnatuͤrliche,
erzwungene, oder gar abentheuerliche Dinge an.
Dies iſt die erſte Ungereimtheit zu der die Mode auch
den beſten Dichter zwingt. Und wenn es nur auch
die einzige waͤre!

Aber nun kommt die Anfoderung der Saͤnger.
Jn jeder Oper ſollen die beſten Saͤnger auch am oͤf-
terſten ſingen, aber auch jeder mittelmaͤßige und ſo
gar die ſchlechteſten, die einmal zum Schauſpiehl
gedungen ſind und bezahlt werden, muͤſſen ſich doch
ein oder ein paarmal in großen Arien hoͤren laſſen;
die beyden erſten Saͤnger, naͤmlich der beſte Saͤn-
ger und die beſte Saͤngerin, muͤſſen nothwendig
ein oder mehrmal zugleich ſingen; alſo muß der Dich-
ter Duette in die Oper bringen; oft auch Terzette,
Quartette u. ſ. w. Noch mehr: die erſten Saͤnger
koͤnnen ihre voͤllige Kunſt insgemein nur in einerley
Charakter zeigen; der im zaͤrtlichen Adagio, dieſer
im feuerigen Allegro u. ſ. w. Darum muß der
Dichter ſeine Arien ſo einrichten, daß jeder in ſeiner
Art glaͤnzen koͤnne.

Die Mannigfaltigkeit der daraus entſtehenden
Ungereimtheiten iſt kaum zu uͤberſehen. Eine
oder zwey Saͤngerinnen muͤſſen nothwendig Haupt-
rolen haben, die Natur der Handlung mag es
zulaſſen, oder nicht. Wenn ſich der Dichter nicht
anders zu helfen weiß, ſo verwikelt er ſie in Liebes-
haͤndel, wenn ſie auch dem Jnhalt des Stuͤks noch
ſo ſehr zuwieder waͤren. So mußte der beſte Opern-
dichter Metaſtaſto ſelbſt, gegen alle Natur und Ver-
nunft in die Handlung, die ſich in Utica mit Catos
Tod endigte, zwey Frauenzimmer einflechten; die
Wittwe des Pompejus und ſelbſt die Marcia Catos
Tochter; und dieſe mußte ſo gar in Caͤſar verliebt
ſeyn, und von einem Numidiſchen Prinzen geliebt
werden, damit zwey Saͤngerinnen Gelegenheit be-
kaͤmen ſich hoͤren zu laſſen. Wie abgeſchmakt Lie-
beshaͤndel in einer ſo finſtern Handlung ſtehen, fuͤh-
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let auch der, der ſonſt weder der Ueberlegung noch
des Nachdenkens gewohnt iſt. Damit jeder Saͤn-
ger Gelegenheit habe ſich hoͤren zu laſſen, muͤſſen
gar ofte Sachen geſungen werden, bey denen kei-
nem Menſchen, weder wachend noch traͤumend nur
die Vorſtellung von Singen einfallen kann; fro-
ſtige, oder bedaͤchtliche Anmerkungen und allge-
meine Maximen. Welchem verſtaͤndigen oder ver-
ruͤkten Menſchen koͤnnte es einfallen, die Anmer-
kung, daß ein alter verſuchter Krieger nicht blind-
lings zuſchlaͤgt, ſondern ſeinen Muth zuruͤkhaͤlt,
bis er ſeinen Vortheil abgeſehen,
ſingend vorzutra-
gen; (†) oder dieſe bey aufſtoßenden Wiederwaͤrtig-
keiten froſtige Allegorie, daß der Weinſtok durch
das Beſchneiden beſſer treibt, und der wolriechende
Gummi nur aus verwundeten Baͤumen, trieft?
(††)
Dergleichen kindiſches Zeug kommt bald in jeder
Oper vor. Auch wird man ſelten eine ſehen, wo
nicht die Ungereimtheit vorkomme, daß Perſonen,
die wegen bereits vorhandener großen Gefahr, oder
andrer wichtiger Urſachen halber, die hoͤchſte Eil in
ihren Unternehmungen noͤthig haben, ſich waͤhren-
dem Ritornell ſehr langſam und ernſthaft hinſtellen,
erſt recht aushuſten, und denn einen Geſang anfan-
gen, in dem ſie bald jedes Wort ſechs und mehr-
mal wiederholen, und wobey man die Gefahr und
die dringenſten Geſchaͤfte voͤllig vergißt. Hat man
irgend anderswo mehr als hier Urſach mit Horaz
auszurufen:

Spectatum admiſſi riſum teneatis amici!

Zu dem kommt noch das ewige Einerley gewiſſer
Materien. Wer eine oder zwey Opern geſehen hat,
der hat auch viele Scenen von hundert andern ge-
ſehen. Verliebte Klagen, ein paar ungluͤkliche
Liebhaber, davon einer ins Gefaͤngnis und in Lebens-
gefahr kommt; denn ein zaͤrtliches Abſchiednehmen
in einem Duett und dergleichen, kommen beynahe
in gar allen Opern, vor.

Eben ſo mannigfaltig und ſo ausſchweifend ſind
die Ungereimtheiten in der Oper, die von der Muſik
herruͤhren. Dieſe iſt und kann ihrer Natur nach
nichts anders ſeyn, als ein Ausdruk der Leidenſchaf-
ten, oder eine Schilderung der Empfindungen, eines
in Bewegung geſetzten, oder gelaſſenen Gemuͤthes.
Aber mit dieſer Anwendung der Kunſt auf den ein-

zigen
(†) S. Adriano di Metaſtaſio. Att. II. ſ. 5. ſaggio guer-
riero antico.
&c.
(††) Ebendaſelbſt. Att. III. ſ. 2. Piu bella, al tempe
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Zweyter Theil. M m m m m
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[843[825]/0260] Ope Ope den. Da kann man ſich leichte vorſtellen, was fuͤr Zwang und Gewalt der Dichter ſeinem Stoff an- thun muͤſſe, um ſolchen Forderungen genug zu thun; wie ofte er das Jnnere, Weſentliche der tragiſchen Handlung, die Entwiklung großer Charakter und Leidenſchaften, einem mehr ins Aug fallenden Ge- genſtand aufopfern muͤſſe. Deswegen trift man in dem Plan der beſten Opern, allemal unnatuͤrliche, erzwungene, oder gar abentheuerliche Dinge an. Dies iſt die erſte Ungereimtheit zu der die Mode auch den beſten Dichter zwingt. Und wenn es nur auch die einzige waͤre! Aber nun kommt die Anfoderung der Saͤnger. Jn jeder Oper ſollen die beſten Saͤnger auch am oͤf- terſten ſingen, aber auch jeder mittelmaͤßige und ſo gar die ſchlechteſten, die einmal zum Schauſpiehl gedungen ſind und bezahlt werden, muͤſſen ſich doch ein oder ein paarmal in großen Arien hoͤren laſſen; die beyden erſten Saͤnger, naͤmlich der beſte Saͤn- ger und die beſte Saͤngerin, muͤſſen nothwendig ein oder mehrmal zugleich ſingen; alſo muß der Dich- ter Duette in die Oper bringen; oft auch Terzette, Quartette u. ſ. w. Noch mehr: die erſten Saͤnger koͤnnen ihre voͤllige Kunſt insgemein nur in einerley Charakter zeigen; der im zaͤrtlichen Adagio, dieſer im feuerigen Allegro u. ſ. w. Darum muß der Dichter ſeine Arien ſo einrichten, daß jeder in ſeiner Art glaͤnzen koͤnne. Die Mannigfaltigkeit der daraus entſtehenden Ungereimtheiten iſt kaum zu uͤberſehen. Eine oder zwey Saͤngerinnen muͤſſen nothwendig Haupt- rolen haben, die Natur der Handlung mag es zulaſſen, oder nicht. Wenn ſich der Dichter nicht anders zu helfen weiß, ſo verwikelt er ſie in Liebes- haͤndel, wenn ſie auch dem Jnhalt des Stuͤks noch ſo ſehr zuwieder waͤren. So mußte der beſte Opern- dichter Metaſtaſto ſelbſt, gegen alle Natur und Ver- nunft in die Handlung, die ſich in Utica mit Catos Tod endigte, zwey Frauenzimmer einflechten; die Wittwe des Pompejus und ſelbſt die Marcia Catos Tochter; und dieſe mußte ſo gar in Caͤſar verliebt ſeyn, und von einem Numidiſchen Prinzen geliebt werden, damit zwey Saͤngerinnen Gelegenheit be- kaͤmen ſich hoͤren zu laſſen. Wie abgeſchmakt Lie- beshaͤndel in einer ſo finſtern Handlung ſtehen, fuͤh- let auch der, der ſonſt weder der Ueberlegung noch des Nachdenkens gewohnt iſt. Damit jeder Saͤn- ger Gelegenheit habe ſich hoͤren zu laſſen, muͤſſen gar ofte Sachen geſungen werden, bey denen kei- nem Menſchen, weder wachend noch traͤumend nur die Vorſtellung von Singen einfallen kann; fro- ſtige, oder bedaͤchtliche Anmerkungen und allge- meine Maximen. Welchem verſtaͤndigen oder ver- ruͤkten Menſchen koͤnnte es einfallen, die Anmer- kung, daß ein alter verſuchter Krieger nicht blind- lings zuſchlaͤgt, ſondern ſeinen Muth zuruͤkhaͤlt, bis er ſeinen Vortheil abgeſehen, ſingend vorzutra- gen; (†) oder dieſe bey aufſtoßenden Wiederwaͤrtig- keiten froſtige Allegorie, daß der Weinſtok durch das Beſchneiden beſſer treibt, und der wolriechende Gummi nur aus verwundeten Baͤumen, trieft? (††) Dergleichen kindiſches Zeug kommt bald in jeder Oper vor. Auch wird man ſelten eine ſehen, wo nicht die Ungereimtheit vorkomme, daß Perſonen, die wegen bereits vorhandener großen Gefahr, oder andrer wichtiger Urſachen halber, die hoͤchſte Eil in ihren Unternehmungen noͤthig haben, ſich waͤhren- dem Ritornell ſehr langſam und ernſthaft hinſtellen, erſt recht aushuſten, und denn einen Geſang anfan- gen, in dem ſie bald jedes Wort ſechs und mehr- mal wiederholen, und wobey man die Gefahr und die dringenſten Geſchaͤfte voͤllig vergißt. Hat man irgend anderswo mehr als hier Urſach mit Horaz auszurufen: Spectatum admiſſi riſum teneatis amici! Zu dem kommt noch das ewige Einerley gewiſſer Materien. Wer eine oder zwey Opern geſehen hat, der hat auch viele Scenen von hundert andern ge- ſehen. Verliebte Klagen, ein paar ungluͤkliche Liebhaber, davon einer ins Gefaͤngnis und in Lebens- gefahr kommt; denn ein zaͤrtliches Abſchiednehmen in einem Duett und dergleichen, kommen beynahe in gar allen Opern, vor. Eben ſo mannigfaltig und ſo ausſchweifend ſind die Ungereimtheiten in der Oper, die von der Muſik herruͤhren. Dieſe iſt und kann ihrer Natur nach nichts anders ſeyn, als ein Ausdruk der Leidenſchaf- ten, oder eine Schilderung der Empfindungen, eines in Bewegung geſetzten, oder gelaſſenen Gemuͤthes. Aber mit dieſer Anwendung der Kunſt auf den ein- zigen (†) S. Adriano di Metaſtaſio. Att. II. ſ. 5. ſaggio guer- riero antico. &c. (††) Ebendaſelbſt. Att. III. ſ. 2. Piu bella, al tempe uſato &c. Zweyter Theil. M m m m m

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 843[825]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/260>, abgerufen am 27.11.2024.