Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Nat
Sie müssen uns täuschen, daß wir ihre Würklich-
keit zu empfinden vermeinen. Kinder kann man
dadurch rühren, daß man die Hände vor das Ge-
sicht hält, und sich anstellt, als ob man weinte;
aber erwachsene Menschen würden dabey den Betrug
bald merken. Diese zu täuschen erfodert eine ge-
nauere Nachahmung des Weinens.

Daher geschieht es gar ofte, besonders im Schau-
spiel, daß der Mangel des Natürlichen, er komme
von dem Dichter, oder von der schlechten Vorstellung
des Schauspiehlers, eine der abgeziehlten gerad ent-
gegenstehende Würkung thut, daß man lacht, wo
man weinen sollte, und verdrießlich wird, wo man
sollte lustig seyn. So sehr kann der Mangel des
Natürlichen die gute Würkung der künstlichen Ge-
genstände vernichten. Es geschiehet in dem Leben
nicht selten, daß bey einer betrübten Scene ein ein-
ziger unschiklicher und unnatürlicher Umstand Lachen
erwekt: wieviel leichter muß dieses bey blos nach-
geahmten Scenen dieser Art geschehen? Darum er-
fodert das Drama, vornehmlich die höchste Natur
sowol in der Handlung selbst, als in der Vorstel-
lung, da der geringste unnatürliche Umstand alles
so leicht verderbt.

Aber auch ohne Rüksicht auf die der Natur des
Gegenstandes angemessene Würkung, hat das Na-
türliche an sich eine ästhetische Kraft, wegen der
vollkommenen Aehnlichkeit. Ein Gegenstand der
in der Natur keines Menschen Aufmerksamkeit nach
sich ziehen würde, kann durch die Vollkommenheit
der Nachahmung in der Kunst ausnehmend Vergnü-
gen, wovon wir anderswo den Grund angezeiget
haben. (*) Da das Jnteresse des Künstlers erfodert,
daß sein Werk gefalle, so muß er es auch deswegen
natürlich machen.

Aber höchst schweer ist dieser Theil der Kunst:
denn in den meisten Fällen hänget das, was eigent-
lich dazu gehört, von so kleinen und in einzeln bey-
nahe so unmerklichen Umständen ab, daß der Künst-
ler selbst nicht recht weiß, wie er zu verfahren hat.
So wußte jener griechische Mahler nach vielen ver-
geblichen Versuchen nicht, wie das Schäumen eines
in Wuth gesezten Pferdes natürlich vorzustellen sey,
und der Zufall, da er aus Verdruß den Pensel ge-
gen das Gemählde warf, bewürkte, was er durch
kein Nachdenken zu erreichen vermögend gewesen.
Die völlige Erreichung des Natürlichen scheinet aller-
dings das schweereste der Kunst zu seyn.

[Spaltenumbruch]
Nat

Jn Handlungen die sich zur epischen und drama-
tischen Poesie schiken, wird die Verwiklung und all-
mählige Auflösung ofte durch eine Menge kleiner
Umstände bestimmt, die zusammengenommen, das
Ganze bewürken. Läßt der Dichter einen davon
weg, oder sezet er einen falschen, an die Stell eines
wahrhaften, so wird alles unnatürlich. Oft aber,
wenn er alles, was zur Natur der Sache gehöret,
anbringen will, wird er schweerfällig, oder verwor-
ren. Darum ist es so sehr schweer im Drama das
Natürliche in Anlegung der Fabel und Entwiklung
der Handlung zu erreichen. Eine Menge franzö-
sischer Schauspiele werden gleich vom Anfang schweer
und verdrießlich; weil man die Bemühung des
Dichters gewahr wird, uns verschiedenes bemerken
zu lassen, wodurch das folgende natürlich werden
sollte. Es ist nicht genug, daß im Drama alles da
sey, was die Folge der Handlung bestimmt; es muß
auf eine ungezwungene Weise da seyn. Dieses wuß-
ten Sophokles und Terenz am vollkommensten zu
veranstalten. Euripides aber wird nicht selten
durch die Ankündigung des Jnhalts in den ersten
Scenen unnatürlich.

Auch in den Charakteren, Sitten und Leiden-
schaften ist das Natürliche oft ungemein schweer zu
erreichen. Entweder sind gewisse charakteristische
Züge für sich schweer zu bemerken, oder es ist schweer
sie, ohne steif zu werden, zu schildern. Darum
gelingen auch vollkommen natürliche Schilderungen
dieser Art nur großen Meistern. Unter unsern ein-
heimischen Dichtern kenne ich außer Wielanden kei-
nen, dem die natürliche Schilderung dieser sittlichen
Gegenstände so vollkommen gelinget; doch will ich
weder Hagedorn noch Klopstoken noch Geßnern ihr
Verdienst hierin streitig machen. Jn Leidenschaften
ist Schakespear vielleicht von allen Dichtern der glük-
lichste Schilderer. Ueberhaupt aber können in Ab-
sicht auf das Natürliche in allen Arten der dichteri-
schen Schilderungen die Alten, vornehmlich Homer
und Sophokles als vollkommene Muster vorgestellt
werden. Jn zärtlichen Leidenschaften aber steht
Euripides keinem nach.

Wir können diesen Artikel nicht schließen, ohne
vorher eine wichtige hier einschlagende Materie zu
berühren. Jn sittlichen Gegenständen giebt es eine
rohere und eine feinere Natur; jene herrscht unter
Völkern bey denen die Vernunft sich noch wenig
entwikelt hat; diese zeiget sich in sehr verschiedenen

Gra-
(*) S.
Aehnlich-
keit.
H h h h h 2

[Spaltenumbruch]

Nat
Sie muͤſſen uns taͤuſchen, daß wir ihre Wuͤrklich-
keit zu empfinden vermeinen. Kinder kann man
dadurch ruͤhren, daß man die Haͤnde vor das Ge-
ſicht haͤlt, und ſich anſtellt, als ob man weinte;
aber erwachſene Menſchen wuͤrden dabey den Betrug
bald merken. Dieſe zu taͤuſchen erfodert eine ge-
nauere Nachahmung des Weinens.

Daher geſchieht es gar ofte, beſonders im Schau-
ſpiel, daß der Mangel des Natuͤrlichen, er komme
von dem Dichter, oder von der ſchlechten Vorſtellung
des Schauſpiehlers, eine der abgeziehlten gerad ent-
gegenſtehende Wuͤrkung thut, daß man lacht, wo
man weinen ſollte, und verdrießlich wird, wo man
ſollte luſtig ſeyn. So ſehr kann der Mangel des
Natuͤrlichen die gute Wuͤrkung der kuͤnſtlichen Ge-
genſtaͤnde vernichten. Es geſchiehet in dem Leben
nicht ſelten, daß bey einer betruͤbten Scene ein ein-
ziger unſchiklicher und unnatuͤrlicher Umſtand Lachen
erwekt: wieviel leichter muß dieſes bey blos nach-
geahmten Scenen dieſer Art geſchehen? Darum er-
fodert das Drama, vornehmlich die hoͤchſte Natur
ſowol in der Handlung ſelbſt, als in der Vorſtel-
lung, da der geringſte unnatuͤrliche Umſtand alles
ſo leicht verderbt.

Aber auch ohne Ruͤkſicht auf die der Natur des
Gegenſtandes angemeſſene Wuͤrkung, hat das Na-
tuͤrliche an ſich eine aͤſthetiſche Kraft, wegen der
vollkommenen Aehnlichkeit. Ein Gegenſtand der
in der Natur keines Menſchen Aufmerkſamkeit nach
ſich ziehen wuͤrde, kann durch die Vollkommenheit
der Nachahmung in der Kunſt ausnehmend Vergnuͤ-
gen, wovon wir anderswo den Grund angezeiget
haben. (*) Da das Jntereſſe des Kuͤnſtlers erfodert,
daß ſein Werk gefalle, ſo muß er es auch deswegen
natuͤrlich machen.

Aber hoͤchſt ſchweer iſt dieſer Theil der Kunſt:
denn in den meiſten Faͤllen haͤnget das, was eigent-
lich dazu gehoͤrt, von ſo kleinen und in einzeln bey-
nahe ſo unmerklichen Umſtaͤnden ab, daß der Kuͤnſt-
ler ſelbſt nicht recht weiß, wie er zu verfahren hat.
So wußte jener griechiſche Mahler nach vielen ver-
geblichen Verſuchen nicht, wie das Schaͤumen eines
in Wuth geſezten Pferdes natuͤrlich vorzuſtellen ſey,
und der Zufall, da er aus Verdruß den Penſel ge-
gen das Gemaͤhlde warf, bewuͤrkte, was er durch
kein Nachdenken zu erreichen vermoͤgend geweſen.
Die voͤllige Erreichung des Natuͤrlichen ſcheinet aller-
dings das ſchweereſte der Kunſt zu ſeyn.

[Spaltenumbruch]
Nat

Jn Handlungen die ſich zur epiſchen und drama-
tiſchen Poeſie ſchiken, wird die Verwiklung und all-
maͤhlige Aufloͤſung ofte durch eine Menge kleiner
Umſtaͤnde beſtimmt, die zuſammengenommen, das
Ganze bewuͤrken. Laͤßt der Dichter einen davon
weg, oder ſezet er einen falſchen, an die Stell eines
wahrhaften, ſo wird alles unnatuͤrlich. Oft aber,
wenn er alles, was zur Natur der Sache gehoͤret,
anbringen will, wird er ſchweerfaͤllig, oder verwor-
ren. Darum iſt es ſo ſehr ſchweer im Drama das
Natuͤrliche in Anlegung der Fabel und Entwiklung
der Handlung zu erreichen. Eine Menge franzoͤ-
ſiſcher Schauſpiele werden gleich vom Anfang ſchweer
und verdrießlich; weil man die Bemuͤhung des
Dichters gewahr wird, uns verſchiedenes bemerken
zu laſſen, wodurch das folgende natuͤrlich werden
ſollte. Es iſt nicht genug, daß im Drama alles da
ſey, was die Folge der Handlung beſtimmt; es muß
auf eine ungezwungene Weiſe da ſeyn. Dieſes wuß-
ten Sophokles und Terenz am vollkommenſten zu
veranſtalten. Euripides aber wird nicht ſelten
durch die Ankuͤndigung des Jnhalts in den erſten
Scenen unnatuͤrlich.

Auch in den Charakteren, Sitten und Leiden-
ſchaften iſt das Natuͤrliche oft ungemein ſchweer zu
erreichen. Entweder ſind gewiſſe charakteriſtiſche
Zuͤge fuͤr ſich ſchweer zu bemerken, oder es iſt ſchweer
ſie, ohne ſteif zu werden, zu ſchildern. Darum
gelingen auch vollkommen natuͤrliche Schilderungen
dieſer Art nur großen Meiſtern. Unter unſern ein-
heimiſchen Dichtern kenne ich außer Wielanden kei-
nen, dem die natuͤrliche Schilderung dieſer ſittlichen
Gegenſtaͤnde ſo vollkommen gelinget; doch will ich
weder Hagedorn noch Klopſtoken noch Geßnern ihr
Verdienſt hierin ſtreitig machen. Jn Leidenſchaften
iſt Schakeſpear vielleicht von allen Dichtern der gluͤk-
lichſte Schilderer. Ueberhaupt aber koͤnnen in Ab-
ſicht auf das Natuͤrliche in allen Arten der dichteri-
ſchen Schilderungen die Alten, vornehmlich Homer
und Sophokles als vollkommene Muſter vorgeſtellt
werden. Jn zaͤrtlichen Leidenſchaften aber ſteht
Euripides keinem nach.

Wir koͤnnen dieſen Artikel nicht ſchließen, ohne
vorher eine wichtige hier einſchlagende Materie zu
beruͤhren. Jn ſittlichen Gegenſtaͤnden giebt es eine
rohere und eine feinere Natur; jene herrſcht unter
Voͤlkern bey denen die Vernunft ſich noch wenig
entwikelt hat; dieſe zeiget ſich in ſehr verſchiedenen

Gra-
(*) S.
Aehnlich-
keit.
H h h h h 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0230" n="813[795]"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Nat</hi></fw><lb/>
Sie mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en uns ta&#x0364;u&#x017F;chen, daß wir ihre Wu&#x0364;rklich-<lb/>
keit zu empfinden vermeinen. Kinder kann man<lb/>
dadurch ru&#x0364;hren, daß man die Ha&#x0364;nde vor das Ge-<lb/>
&#x017F;icht ha&#x0364;lt, und &#x017F;ich an&#x017F;tellt, als ob man weinte;<lb/>
aber erwach&#x017F;ene Men&#x017F;chen wu&#x0364;rden dabey den Betrug<lb/>
bald merken. Die&#x017F;e zu ta&#x0364;u&#x017F;chen erfodert eine ge-<lb/>
nauere Nachahmung des Weinens.</p><lb/>
          <p>Daher ge&#x017F;chieht es gar ofte, be&#x017F;onders im Schau-<lb/>
&#x017F;piel, daß der Mangel des Natu&#x0364;rlichen, er komme<lb/>
von dem Dichter, oder von der &#x017F;chlechten Vor&#x017F;tellung<lb/>
des Schau&#x017F;piehlers, eine der abgeziehlten gerad ent-<lb/>
gegen&#x017F;tehende Wu&#x0364;rkung thut, daß man lacht, wo<lb/>
man weinen &#x017F;ollte, und verdrießlich wird, wo man<lb/>
&#x017F;ollte lu&#x017F;tig &#x017F;eyn. So &#x017F;ehr kann der Mangel des<lb/>
Natu&#x0364;rlichen die gute Wu&#x0364;rkung der ku&#x0364;n&#x017F;tlichen Ge-<lb/>
gen&#x017F;ta&#x0364;nde vernichten. Es ge&#x017F;chiehet in dem Leben<lb/>
nicht &#x017F;elten, daß bey einer betru&#x0364;bten Scene ein ein-<lb/>
ziger un&#x017F;chiklicher und unnatu&#x0364;rlicher Um&#x017F;tand Lachen<lb/>
erwekt: wieviel leichter muß die&#x017F;es bey blos nach-<lb/>
geahmten Scenen die&#x017F;er Art ge&#x017F;chehen? Darum er-<lb/>
fodert das Drama, vornehmlich die ho&#x0364;ch&#x017F;te Natur<lb/>
&#x017F;owol in der Handlung &#x017F;elb&#x017F;t, als in der Vor&#x017F;tel-<lb/>
lung, da der gering&#x017F;te unnatu&#x0364;rliche Um&#x017F;tand alles<lb/>
&#x017F;o leicht verderbt.</p><lb/>
          <p>Aber auch ohne Ru&#x0364;k&#x017F;icht auf die der Natur des<lb/>
Gegen&#x017F;tandes angeme&#x017F;&#x017F;ene Wu&#x0364;rkung, hat das Na-<lb/>
tu&#x0364;rliche an &#x017F;ich eine a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;che Kraft, wegen der<lb/>
vollkommenen Aehnlichkeit. Ein Gegen&#x017F;tand der<lb/>
in der Natur keines Men&#x017F;chen Aufmerk&#x017F;amkeit nach<lb/>
&#x017F;ich ziehen wu&#x0364;rde, kann durch die Vollkommenheit<lb/>
der Nachahmung in der Kun&#x017F;t ausnehmend Vergnu&#x0364;-<lb/>
gen, wovon wir anderswo den Grund angezeiget<lb/>
haben. <note place="foot" n="(*)">S.<lb/>
Aehnlich-<lb/>
keit.</note> Da das Jntere&#x017F;&#x017F;e des Ku&#x0364;n&#x017F;tlers erfodert,<lb/>
daß &#x017F;ein Werk gefalle, &#x017F;o muß er es auch deswegen<lb/>
natu&#x0364;rlich machen.</p><lb/>
          <p>Aber ho&#x0364;ch&#x017F;t &#x017F;chweer i&#x017F;t die&#x017F;er Theil der Kun&#x017F;t:<lb/>
denn in den mei&#x017F;ten Fa&#x0364;llen ha&#x0364;nget das, was eigent-<lb/>
lich dazu geho&#x0364;rt, von &#x017F;o kleinen und in einzeln bey-<lb/>
nahe &#x017F;o unmerklichen Um&#x017F;ta&#x0364;nden ab, daß der Ku&#x0364;n&#x017F;t-<lb/>
ler &#x017F;elb&#x017F;t nicht recht weiß, wie er zu verfahren hat.<lb/>
So wußte jener griechi&#x017F;che Mahler nach vielen ver-<lb/>
geblichen Ver&#x017F;uchen nicht, wie das Scha&#x0364;umen eines<lb/>
in Wuth ge&#x017F;ezten Pferdes natu&#x0364;rlich vorzu&#x017F;tellen &#x017F;ey,<lb/>
und der Zufall, da er aus Verdruß den Pen&#x017F;el ge-<lb/>
gen das Gema&#x0364;hlde warf, bewu&#x0364;rkte, was er durch<lb/>
kein Nachdenken zu erreichen vermo&#x0364;gend gewe&#x017F;en.<lb/>
Die vo&#x0364;llige Erreichung des Natu&#x0364;rlichen &#x017F;cheinet aller-<lb/>
dings das &#x017F;chweere&#x017F;te der Kun&#x017F;t zu &#x017F;eyn.</p><lb/>
          <cb/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">Nat</hi> </fw><lb/>
          <p>Jn Handlungen die &#x017F;ich zur epi&#x017F;chen und drama-<lb/>
ti&#x017F;chen Poe&#x017F;ie &#x017F;chiken, wird die Verwiklung und all-<lb/>
ma&#x0364;hlige Auflo&#x0364;&#x017F;ung ofte durch eine Menge kleiner<lb/>
Um&#x017F;ta&#x0364;nde be&#x017F;timmt, die zu&#x017F;ammengenommen, das<lb/>
Ganze bewu&#x0364;rken. La&#x0364;ßt der Dichter einen davon<lb/>
weg, oder &#x017F;ezet er einen fal&#x017F;chen, an die Stell eines<lb/>
wahrhaften, &#x017F;o wird alles unnatu&#x0364;rlich. Oft aber,<lb/>
wenn er alles, was zur Natur der Sache geho&#x0364;ret,<lb/>
anbringen will, wird er &#x017F;chweerfa&#x0364;llig, oder verwor-<lb/>
ren. Darum i&#x017F;t es &#x017F;o &#x017F;ehr &#x017F;chweer im Drama das<lb/>
Natu&#x0364;rliche in Anlegung der Fabel und Entwiklung<lb/>
der Handlung zu erreichen. Eine Menge franzo&#x0364;-<lb/>
&#x017F;i&#x017F;cher Schau&#x017F;piele werden gleich vom Anfang &#x017F;chweer<lb/>
und verdrießlich; weil man die Bemu&#x0364;hung des<lb/>
Dichters gewahr wird, uns ver&#x017F;chiedenes bemerken<lb/>
zu la&#x017F;&#x017F;en, wodurch das folgende natu&#x0364;rlich werden<lb/>
&#x017F;ollte. Es i&#x017F;t nicht genug, daß im Drama alles da<lb/>
&#x017F;ey, was die Folge der Handlung be&#x017F;timmt; es muß<lb/>
auf eine ungezwungene Wei&#x017F;e da &#x017F;eyn. Die&#x017F;es wuß-<lb/>
ten Sophokles und Terenz am vollkommen&#x017F;ten zu<lb/>
veran&#x017F;talten. Euripides aber wird nicht &#x017F;elten<lb/>
durch die Anku&#x0364;ndigung des Jnhalts in den er&#x017F;ten<lb/>
Scenen unnatu&#x0364;rlich.</p><lb/>
          <p>Auch in den Charakteren, Sitten und Leiden-<lb/>
&#x017F;chaften i&#x017F;t das Natu&#x0364;rliche oft ungemein &#x017F;chweer zu<lb/>
erreichen. Entweder &#x017F;ind gewi&#x017F;&#x017F;e charakteri&#x017F;ti&#x017F;che<lb/>
Zu&#x0364;ge fu&#x0364;r &#x017F;ich &#x017F;chweer zu bemerken, oder es i&#x017F;t &#x017F;chweer<lb/>
&#x017F;ie, ohne &#x017F;teif zu werden, zu &#x017F;childern. Darum<lb/>
gelingen auch vollkommen natu&#x0364;rliche Schilderungen<lb/>
die&#x017F;er Art nur großen Mei&#x017F;tern. Unter un&#x017F;ern ein-<lb/>
heimi&#x017F;chen Dichtern kenne ich außer Wielanden kei-<lb/>
nen, dem die natu&#x0364;rliche Schilderung die&#x017F;er &#x017F;ittlichen<lb/>
Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde &#x017F;o vollkommen gelinget; doch will ich<lb/>
weder Hagedorn noch Klop&#x017F;token noch Geßnern ihr<lb/>
Verdien&#x017F;t hierin &#x017F;treitig machen. Jn Leiden&#x017F;chaften<lb/>
i&#x017F;t Schake&#x017F;pear vielleicht von allen Dichtern der glu&#x0364;k-<lb/>
lich&#x017F;te Schilderer. Ueberhaupt aber ko&#x0364;nnen in Ab-<lb/>
&#x017F;icht auf das Natu&#x0364;rliche in allen Arten der dichteri-<lb/>
&#x017F;chen Schilderungen die Alten, vornehmlich Homer<lb/>
und Sophokles als vollkommene Mu&#x017F;ter vorge&#x017F;tellt<lb/>
werden. Jn za&#x0364;rtlichen Leiden&#x017F;chaften aber &#x017F;teht<lb/>
Euripides keinem nach.</p><lb/>
          <p>Wir ko&#x0364;nnen die&#x017F;en Artikel nicht &#x017F;chließen, ohne<lb/>
vorher eine wichtige hier ein&#x017F;chlagende Materie zu<lb/>
beru&#x0364;hren. Jn &#x017F;ittlichen Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden giebt es eine<lb/>
rohere und eine feinere Natur; jene herr&#x017F;cht unter<lb/>
Vo&#x0364;lkern bey denen die Vernunft &#x017F;ich noch wenig<lb/>
entwikelt hat; die&#x017F;e zeiget &#x017F;ich in &#x017F;ehr ver&#x017F;chiedenen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H h h h h 2</fw><fw place="bottom" type="catch">Gra-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[813[795]/0230] Nat Nat Sie muͤſſen uns taͤuſchen, daß wir ihre Wuͤrklich- keit zu empfinden vermeinen. Kinder kann man dadurch ruͤhren, daß man die Haͤnde vor das Ge- ſicht haͤlt, und ſich anſtellt, als ob man weinte; aber erwachſene Menſchen wuͤrden dabey den Betrug bald merken. Dieſe zu taͤuſchen erfodert eine ge- nauere Nachahmung des Weinens. Daher geſchieht es gar ofte, beſonders im Schau- ſpiel, daß der Mangel des Natuͤrlichen, er komme von dem Dichter, oder von der ſchlechten Vorſtellung des Schauſpiehlers, eine der abgeziehlten gerad ent- gegenſtehende Wuͤrkung thut, daß man lacht, wo man weinen ſollte, und verdrießlich wird, wo man ſollte luſtig ſeyn. So ſehr kann der Mangel des Natuͤrlichen die gute Wuͤrkung der kuͤnſtlichen Ge- genſtaͤnde vernichten. Es geſchiehet in dem Leben nicht ſelten, daß bey einer betruͤbten Scene ein ein- ziger unſchiklicher und unnatuͤrlicher Umſtand Lachen erwekt: wieviel leichter muß dieſes bey blos nach- geahmten Scenen dieſer Art geſchehen? Darum er- fodert das Drama, vornehmlich die hoͤchſte Natur ſowol in der Handlung ſelbſt, als in der Vorſtel- lung, da der geringſte unnatuͤrliche Umſtand alles ſo leicht verderbt. Aber auch ohne Ruͤkſicht auf die der Natur des Gegenſtandes angemeſſene Wuͤrkung, hat das Na- tuͤrliche an ſich eine aͤſthetiſche Kraft, wegen der vollkommenen Aehnlichkeit. Ein Gegenſtand der in der Natur keines Menſchen Aufmerkſamkeit nach ſich ziehen wuͤrde, kann durch die Vollkommenheit der Nachahmung in der Kunſt ausnehmend Vergnuͤ- gen, wovon wir anderswo den Grund angezeiget haben. (*) Da das Jntereſſe des Kuͤnſtlers erfodert, daß ſein Werk gefalle, ſo muß er es auch deswegen natuͤrlich machen. Aber hoͤchſt ſchweer iſt dieſer Theil der Kunſt: denn in den meiſten Faͤllen haͤnget das, was eigent- lich dazu gehoͤrt, von ſo kleinen und in einzeln bey- nahe ſo unmerklichen Umſtaͤnden ab, daß der Kuͤnſt- ler ſelbſt nicht recht weiß, wie er zu verfahren hat. So wußte jener griechiſche Mahler nach vielen ver- geblichen Verſuchen nicht, wie das Schaͤumen eines in Wuth geſezten Pferdes natuͤrlich vorzuſtellen ſey, und der Zufall, da er aus Verdruß den Penſel ge- gen das Gemaͤhlde warf, bewuͤrkte, was er durch kein Nachdenken zu erreichen vermoͤgend geweſen. Die voͤllige Erreichung des Natuͤrlichen ſcheinet aller- dings das ſchweereſte der Kunſt zu ſeyn. Jn Handlungen die ſich zur epiſchen und drama- tiſchen Poeſie ſchiken, wird die Verwiklung und all- maͤhlige Aufloͤſung ofte durch eine Menge kleiner Umſtaͤnde beſtimmt, die zuſammengenommen, das Ganze bewuͤrken. Laͤßt der Dichter einen davon weg, oder ſezet er einen falſchen, an die Stell eines wahrhaften, ſo wird alles unnatuͤrlich. Oft aber, wenn er alles, was zur Natur der Sache gehoͤret, anbringen will, wird er ſchweerfaͤllig, oder verwor- ren. Darum iſt es ſo ſehr ſchweer im Drama das Natuͤrliche in Anlegung der Fabel und Entwiklung der Handlung zu erreichen. Eine Menge franzoͤ- ſiſcher Schauſpiele werden gleich vom Anfang ſchweer und verdrießlich; weil man die Bemuͤhung des Dichters gewahr wird, uns verſchiedenes bemerken zu laſſen, wodurch das folgende natuͤrlich werden ſollte. Es iſt nicht genug, daß im Drama alles da ſey, was die Folge der Handlung beſtimmt; es muß auf eine ungezwungene Weiſe da ſeyn. Dieſes wuß- ten Sophokles und Terenz am vollkommenſten zu veranſtalten. Euripides aber wird nicht ſelten durch die Ankuͤndigung des Jnhalts in den erſten Scenen unnatuͤrlich. Auch in den Charakteren, Sitten und Leiden- ſchaften iſt das Natuͤrliche oft ungemein ſchweer zu erreichen. Entweder ſind gewiſſe charakteriſtiſche Zuͤge fuͤr ſich ſchweer zu bemerken, oder es iſt ſchweer ſie, ohne ſteif zu werden, zu ſchildern. Darum gelingen auch vollkommen natuͤrliche Schilderungen dieſer Art nur großen Meiſtern. Unter unſern ein- heimiſchen Dichtern kenne ich außer Wielanden kei- nen, dem die natuͤrliche Schilderung dieſer ſittlichen Gegenſtaͤnde ſo vollkommen gelinget; doch will ich weder Hagedorn noch Klopſtoken noch Geßnern ihr Verdienſt hierin ſtreitig machen. Jn Leidenſchaften iſt Schakeſpear vielleicht von allen Dichtern der gluͤk- lichſte Schilderer. Ueberhaupt aber koͤnnen in Ab- ſicht auf das Natuͤrliche in allen Arten der dichteri- ſchen Schilderungen die Alten, vornehmlich Homer und Sophokles als vollkommene Muſter vorgeſtellt werden. Jn zaͤrtlichen Leidenſchaften aber ſteht Euripides keinem nach. Wir koͤnnen dieſen Artikel nicht ſchließen, ohne vorher eine wichtige hier einſchlagende Materie zu beruͤhren. Jn ſittlichen Gegenſtaͤnden giebt es eine rohere und eine feinere Natur; jene herrſcht unter Voͤlkern bey denen die Vernunft ſich noch wenig entwikelt hat; dieſe zeiget ſich in ſehr verſchiedenen Gra- (*) S. Aehnlich- keit. H h h h h 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/230
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 813[795]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/230>, abgerufen am 25.11.2024.