Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Lie
von der wahren Gestalt derselben dem Auge sichtbar,
welches ohne Schatten nicht könnte bemerkt werden.
So kommt der Mond, wegen Mangel der aus sei-
ner Rundung entstehenden Vermischung des Lichts
und Schattens, uns nicht, wie er würklich ist, als
eine Kugel, sondern blos als ein flacher Teller vor.

Deswegen ist die genaue Kenntnis des durch die
Form der Körper, bey gegebener Erleuchtung ver-
änderten Lichts und Schattens, ein Hauptstük der
Wissenschaft des Mahlers. Es hängt aber von völ-
lig bestimmten geometrischen und optischen Regeln
ab, welche auch gemeiniglich, wie wol nicht in der
erforderlichen Ausführlichkeit in den Anleitungen zur
Perspektio vorgetragen werden. Von der richtigen
Beobachtung des Lichts und Schattens hängt ein
großer Theil, sowol der Wahrheit, als der Annehm-
lichkeit des Gemäldes ab; aber dieses allein erfüllet,
wie der Herr von Hagedorn gründlich bemerkt hat,
das, was der Mahler in Absicht auf das Hell und
Dunkele zu beobachten hat, noch nicht ganz. (*)

Liebe.
(Schöne Künste.)

Diese allen Menschen gemeine, und an mannigfal-
tigen angenehmen und unangenehmen Empfindun-
gen so reiche Leidenschaft, wird in allen Gattun-
gen der Werke des Geschmaks vielfältig zum Haupt-
gegenstand; aber von keiner wird ein so vielfältiger
Mißbrauch gemacht. Damit wir im Stande seyen
dem Künstler über den Gebrauch und die Behand-
lung derselben gründliche Vorschläge zu thun, müssen
wir nothwendig einige Betrachtungen über ihre
wahre Natur voraus schiken.

Der erste Ursprung der Liebe liegt unstreitig in
der blos thierischen Natur des Menschen; aber man
müßte die bewundrungswürdigen Veranstaltungen
der Natur ganz verkennen, wenn man darin nichts
höheres, als thierische Regungen entdekte. Der
wahre Beobachter bemerket, daß diese Leidenschaft
ihre Wurzeln in dem Fleisch und Blut des thieri-
schen Körpers hat, aber ihre Aeste hoch über der
körperlichen Welt in der Sphäre höherer Wesen ver-
breitet, wo sie unvergängliche Früchte zur Reise
bringet.

Ob sie gleich in ihrer ersten Anlag eigennützig ist,
zeuget sie doch in rechtschaffenen Gemüthern die edel-
sten Triebe der Wolgewogenheit, der zärtlichsten
Freundschaft und einer alles eigene Jntresse verges-
[Spaltenumbruch]

Lie
senden Großmuth. Sie ziehlt im Grund auf Wol-
lust, und ist doch das kräftigste Mittel von der
Wollust ab- und auf seeligere Empfindungen zu
führen; ist furchtsam und ofte kleinmüthig, und kann
dennoch der Grund des höchsten Muthes seyn; ist
ein in ihrem Ursprung niedriges schaamrothmachen-
des Gefühl, und in ihren Folgen die Ursach einer
wahren Erhöhung des Gemüthes. Diejenigen, de-
nen dieses wiedersprechend, oder übertrieben vor-
kommt, sind zu beklagen, und würden durch weit-
läuftigere Entwiklung der Sachen doch nicht be-
lehrt werden.

Der Künstler muß die verschiedenen Gestalten,
die diese Leidenschaft annihmt und ihre verschiedenen
Würkungen genau unterscheiden, wenn er sie ohne
Tadel behandeln soll. Wir wollen also die Haupt-
formen derselben unterscheiden, und über jede einige
dem Künstler dienliche Anmerkungen beyfügen.

Liebe in rohen, oder durch Wollust verwilderten
Menschen, die blos auf eine wilde Befriedigung des
körperlichen Bedürfnisses abziehlt, kann nach Be-
schaffenheit der Umstände in eine höchst gefährliche
Leidenschaft ausbrechen und äußerst verderbliche
Folgen nach sich ziehen. Diese durch Hülfe der
schönen Künste noch mehr zu reizen, in das schon
verzehrende Feuer noch mehr Oel zu gießen, ist der
schändlichste Mißbrauch, dessen sich Mahler und
Dichter nur allzu ofte schuldig machen. Für Werke,
die blos zur niedrigen Wollust reizen, lassen sich
schlechterdings keine Entschuldigungen anführen, die
bey vernünftigen Menschen den geringsten Eindruk
machten. Die fleischlichen Triebe, so weit die Na-
tur ihrer bedärf, sind bey Menschen, die ihr Tem-
perament nicht durch Ausschweisungen zu Grunde
gerichtet haben, allezeit stark und lebhaft genug;
also ist es Narrheit sie über ihren Endzwek zu rei-
zen: aber für verworfene Wollüstlinge zu arbeiten,
erniedriget den Künstler. Wer sollte ohne Schaam
sich zum Diener solcher unter das Thier erniedrig-
ten Menschen machen, wenn sie auch von hohem
Stande wären?

Deswegen ist die Liebe, in so fern sie blos thieri-
sche Wollust ist, kein Gegenstand der Künste, als in so
fern diese dienen können, die schählichen Folgen der-
selben in ihrer ekelhaften Gestalt lebhaft vor Augen
zu legen. Dazu können Mahler, Dichter und
Schauspieler die höchste Kraft ihrer Talente sehr
nüzlich anwenden. Der berühinte berlinische Zeich-

ner,
(*) Be-
tracht. über
die Mahle-
rey S. 637.
Man sehe
auch den
Art. Hell-
dunkel.

[Spaltenumbruch]

Lie
von der wahren Geſtalt derſelben dem Auge ſichtbar,
welches ohne Schatten nicht koͤnnte bemerkt werden.
So kommt der Mond, wegen Mangel der aus ſei-
ner Rundung entſtehenden Vermiſchung des Lichts
und Schattens, uns nicht, wie er wuͤrklich iſt, als
eine Kugel, ſondern blos als ein flacher Teller vor.

Deswegen iſt die genaue Kenntnis des durch die
Form der Koͤrper, bey gegebener Erleuchtung ver-
aͤnderten Lichts und Schattens, ein Hauptſtuͤk der
Wiſſenſchaft des Mahlers. Es haͤngt aber von voͤl-
lig beſtimmten geometriſchen und optiſchen Regeln
ab, welche auch gemeiniglich, wie wol nicht in der
erforderlichen Ausfuͤhrlichkeit in den Anleitungen zur
Perſpektio vorgetragen werden. Von der richtigen
Beobachtung des Lichts und Schattens haͤngt ein
großer Theil, ſowol der Wahrheit, als der Annehm-
lichkeit des Gemaͤldes ab; aber dieſes allein erfuͤllet,
wie der Herr von Hagedorn gruͤndlich bemerkt hat,
das, was der Mahler in Abſicht auf das Hell und
Dunkele zu beobachten hat, noch nicht ganz. (*)

Liebe.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Dieſe allen Menſchen gemeine, und an mannigfal-
tigen angenehmen und unangenehmen Empfindun-
gen ſo reiche Leidenſchaft, wird in allen Gattun-
gen der Werke des Geſchmaks vielfaͤltig zum Haupt-
gegenſtand; aber von keiner wird ein ſo vielfaͤltiger
Mißbrauch gemacht. Damit wir im Stande ſeyen
dem Kuͤnſtler uͤber den Gebrauch und die Behand-
lung derſelben gruͤndliche Vorſchlaͤge zu thun, muͤſſen
wir nothwendig einige Betrachtungen uͤber ihre
wahre Natur voraus ſchiken.

Der erſte Urſprung der Liebe liegt unſtreitig in
der blos thieriſchen Natur des Menſchen; aber man
muͤßte die bewundrungswuͤrdigen Veranſtaltungen
der Natur ganz verkennen, wenn man darin nichts
hoͤheres, als thieriſche Regungen entdekte. Der
wahre Beobachter bemerket, daß dieſe Leidenſchaft
ihre Wurzeln in dem Fleiſch und Blut des thieri-
ſchen Koͤrpers hat, aber ihre Aeſte hoch uͤber der
koͤrperlichen Welt in der Sphaͤre hoͤherer Weſen ver-
breitet, wo ſie unvergaͤngliche Fruͤchte zur Reiſe
bringet.

Ob ſie gleich in ihrer erſten Anlag eigennuͤtzig iſt,
zeuget ſie doch in rechtſchaffenen Gemuͤthern die edel-
ſten Triebe der Wolgewogenheit, der zaͤrtlichſten
Freundſchaft und einer alles eigene Jntreſſe vergeſ-
[Spaltenumbruch]

Lie
ſenden Großmuth. Sie ziehlt im Grund auf Wol-
luſt, und iſt doch das kraͤftigſte Mittel von der
Wolluſt ab- und auf ſeeligere Empfindungen zu
fuͤhren; iſt furchtſam und ofte kleinmuͤthig, und kann
dennoch der Grund des hoͤchſten Muthes ſeyn; iſt
ein in ihrem Urſprung niedriges ſchaamrothmachen-
des Gefuͤhl, und in ihren Folgen die Urſach einer
wahren Erhoͤhung des Gemuͤthes. Diejenigen, de-
nen dieſes wiederſprechend, oder uͤbertrieben vor-
kommt, ſind zu beklagen, und wuͤrden durch weit-
laͤuftigere Entwiklung der Sachen doch nicht be-
lehrt werden.

Der Kuͤnſtler muß die verſchiedenen Geſtalten,
die dieſe Leidenſchaft annihmt und ihre verſchiedenen
Wuͤrkungen genau unterſcheiden, wenn er ſie ohne
Tadel behandeln ſoll. Wir wollen alſo die Haupt-
formen derſelben unterſcheiden, und uͤber jede einige
dem Kuͤnſtler dienliche Anmerkungen beyfuͤgen.

Liebe in rohen, oder durch Wolluſt verwilderten
Menſchen, die blos auf eine wilde Befriedigung des
koͤrperlichen Beduͤrfniſſes abziehlt, kann nach Be-
ſchaffenheit der Umſtaͤnde in eine hoͤchſt gefaͤhrliche
Leidenſchaft ausbrechen und aͤußerſt verderbliche
Folgen nach ſich ziehen. Dieſe durch Huͤlfe der
ſchoͤnen Kuͤnſte noch mehr zu reizen, in das ſchon
verzehrende Feuer noch mehr Oel zu gießen, iſt der
ſchaͤndlichſte Mißbrauch, deſſen ſich Mahler und
Dichter nur allzu ofte ſchuldig machen. Fuͤr Werke,
die blos zur niedrigen Wolluſt reizen, laſſen ſich
ſchlechterdings keine Entſchuldigungen anfuͤhren, die
bey vernuͤnftigen Menſchen den geringſten Eindruk
machten. Die fleiſchlichen Triebe, ſo weit die Na-
tur ihrer bedaͤrf, ſind bey Menſchen, die ihr Tem-
perament nicht durch Ausſchweiſungen zu Grunde
gerichtet haben, allezeit ſtark und lebhaft genug;
alſo iſt es Narrheit ſie uͤber ihren Endzwek zu rei-
zen: aber fuͤr verworfene Wolluͤſtlinge zu arbeiten,
erniedriget den Kuͤnſtler. Wer ſollte ohne Schaam
ſich zum Diener ſolcher unter das Thier erniedrig-
ten Menſchen machen, wenn ſie auch von hohem
Stande waͤren?

Deswegen iſt die Liebe, in ſo fern ſie blos thieri-
ſche Wolluſt iſt, kein Gegenſtand der Kuͤnſte, als in ſo
fern dieſe dienen koͤnnen, die ſchaͤhlichen Folgen der-
ſelben in ihrer ekelhaften Geſtalt lebhaft vor Augen
zu legen. Dazu koͤnnen Mahler, Dichter und
Schauſpieler die hoͤchſte Kraft ihrer Talente ſehr
nuͤzlich anwenden. Der beruͤhinte berliniſche Zeich-

ner,
(*) Be-
tracht. uͤber
die Mahle-
rey S. 637.
Man ſehe
auch den
Art. Hell-
dunkel.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0127" n="710[692]"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Lie</hi></fw><lb/>
von der wahren Ge&#x017F;talt der&#x017F;elben dem Auge &#x017F;ichtbar,<lb/>
welches ohne Schatten nicht ko&#x0364;nnte bemerkt werden.<lb/>
So kommt der Mond, wegen Mangel der aus &#x017F;ei-<lb/>
ner Rundung ent&#x017F;tehenden Vermi&#x017F;chung des Lichts<lb/>
und Schattens, uns nicht, wie er wu&#x0364;rklich i&#x017F;t, als<lb/>
eine Kugel, &#x017F;ondern blos als ein flacher Teller vor.</p><lb/>
          <p>Deswegen i&#x017F;t die genaue Kenntnis des durch die<lb/>
Form der Ko&#x0364;rper, bey gegebener Erleuchtung ver-<lb/>
a&#x0364;nderten Lichts und Schattens, ein Haupt&#x017F;tu&#x0364;k der<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft des Mahlers. Es ha&#x0364;ngt aber von vo&#x0364;l-<lb/>
lig be&#x017F;timmten geometri&#x017F;chen und opti&#x017F;chen Regeln<lb/>
ab, welche auch gemeiniglich, wie wol nicht in der<lb/>
erforderlichen Ausfu&#x0364;hrlichkeit in den Anleitungen zur<lb/>
Per&#x017F;pektio vorgetragen werden. Von der richtigen<lb/>
Beobachtung des Lichts und Schattens ha&#x0364;ngt ein<lb/>
großer Theil, &#x017F;owol der Wahrheit, als der Annehm-<lb/>
lichkeit des Gema&#x0364;ldes ab; aber die&#x017F;es allein erfu&#x0364;llet,<lb/>
wie der Herr von Hagedorn gru&#x0364;ndlich bemerkt hat,<lb/>
das, was der Mahler in Ab&#x017F;icht auf das Hell und<lb/>
Dunkele zu beobachten hat, noch nicht ganz. <note place="foot" n="(*)">Be-<lb/>
tracht. u&#x0364;ber<lb/>
die Mahle-<lb/>
rey S. 637.<lb/>
Man &#x017F;ehe<lb/>
auch den<lb/>
Art. <hi rendition="#fr">Hell-<lb/>
dunkel.</hi></note></p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Liebe.</hi></hi><lb/>
(Scho&#x0364;ne Ku&#x0364;n&#x017F;te.)</head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">D</hi>ie&#x017F;e allen Men&#x017F;chen gemeine, und an mannigfal-<lb/>
tigen angenehmen und unangenehmen Empfindun-<lb/>
gen &#x017F;o reiche Leiden&#x017F;chaft, wird in allen Gattun-<lb/>
gen der Werke des Ge&#x017F;chmaks vielfa&#x0364;ltig zum Haupt-<lb/>
gegen&#x017F;tand; aber von keiner wird ein &#x017F;o vielfa&#x0364;ltiger<lb/>
Mißbrauch gemacht. Damit wir im Stande &#x017F;eyen<lb/>
dem Ku&#x0364;n&#x017F;tler u&#x0364;ber den Gebrauch und die Behand-<lb/>
lung der&#x017F;elben gru&#x0364;ndliche Vor&#x017F;chla&#x0364;ge zu thun, mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en<lb/>
wir nothwendig einige Betrachtungen u&#x0364;ber ihre<lb/>
wahre Natur voraus &#x017F;chiken.</p><lb/>
          <p>Der er&#x017F;te Ur&#x017F;prung der Liebe liegt un&#x017F;treitig in<lb/>
der blos thieri&#x017F;chen Natur des Men&#x017F;chen; aber man<lb/>
mu&#x0364;ßte die bewundrungswu&#x0364;rdigen Veran&#x017F;taltungen<lb/>
der Natur ganz verkennen, wenn man darin nichts<lb/>
ho&#x0364;heres, als thieri&#x017F;che Regungen entdekte. Der<lb/>
wahre Beobachter bemerket, daß die&#x017F;e Leiden&#x017F;chaft<lb/>
ihre Wurzeln in dem Flei&#x017F;ch und Blut des thieri-<lb/>
&#x017F;chen Ko&#x0364;rpers hat, aber ihre Ae&#x017F;te hoch u&#x0364;ber der<lb/>
ko&#x0364;rperlichen Welt in der Spha&#x0364;re ho&#x0364;herer We&#x017F;en ver-<lb/>
breitet, wo &#x017F;ie unverga&#x0364;ngliche Fru&#x0364;chte zur Rei&#x017F;e<lb/>
bringet.</p><lb/>
          <p>Ob &#x017F;ie gleich in ihrer er&#x017F;ten Anlag eigennu&#x0364;tzig i&#x017F;t,<lb/>
zeuget &#x017F;ie doch in recht&#x017F;chaffenen Gemu&#x0364;thern die edel-<lb/>
&#x017F;ten Triebe der Wolgewogenheit, der za&#x0364;rtlich&#x017F;ten<lb/>
Freund&#x017F;chaft und einer alles eigene Jntre&#x017F;&#x017F;e verge&#x017F;-<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Lie</hi></fw><lb/>
&#x017F;enden Großmuth. Sie ziehlt im Grund auf Wol-<lb/>
lu&#x017F;t, und i&#x017F;t doch das kra&#x0364;ftig&#x017F;te Mittel von der<lb/>
Wollu&#x017F;t ab- und auf &#x017F;eeligere Empfindungen zu<lb/>
fu&#x0364;hren; i&#x017F;t furcht&#x017F;am und ofte kleinmu&#x0364;thig, und kann<lb/>
dennoch der Grund des ho&#x0364;ch&#x017F;ten Muthes &#x017F;eyn; i&#x017F;t<lb/>
ein in ihrem Ur&#x017F;prung niedriges &#x017F;chaamrothmachen-<lb/>
des Gefu&#x0364;hl, und in ihren Folgen die Ur&#x017F;ach einer<lb/>
wahren Erho&#x0364;hung des Gemu&#x0364;thes. Diejenigen, de-<lb/>
nen die&#x017F;es wieder&#x017F;prechend, oder u&#x0364;bertrieben vor-<lb/>
kommt, &#x017F;ind zu beklagen, und wu&#x0364;rden durch weit-<lb/>
la&#x0364;uftigere Entwiklung der Sachen doch nicht be-<lb/>
lehrt werden.</p><lb/>
          <p>Der Ku&#x0364;n&#x017F;tler muß die ver&#x017F;chiedenen Ge&#x017F;talten,<lb/>
die die&#x017F;e Leiden&#x017F;chaft annihmt und ihre ver&#x017F;chiedenen<lb/>
Wu&#x0364;rkungen genau unter&#x017F;cheiden, wenn er &#x017F;ie ohne<lb/>
Tadel behandeln &#x017F;oll. Wir wollen al&#x017F;o die Haupt-<lb/>
formen der&#x017F;elben unter&#x017F;cheiden, und u&#x0364;ber jede einige<lb/>
dem Ku&#x0364;n&#x017F;tler dienliche Anmerkungen beyfu&#x0364;gen.</p><lb/>
          <p>Liebe in rohen, oder durch Wollu&#x017F;t verwilderten<lb/>
Men&#x017F;chen, die blos auf eine wilde Befriedigung des<lb/>
ko&#x0364;rperlichen Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;es abziehlt, kann nach Be-<lb/>
&#x017F;chaffenheit der Um&#x017F;ta&#x0364;nde in eine ho&#x0364;ch&#x017F;t gefa&#x0364;hrliche<lb/>
Leiden&#x017F;chaft ausbrechen und a&#x0364;ußer&#x017F;t verderbliche<lb/>
Folgen nach &#x017F;ich ziehen. Die&#x017F;e durch Hu&#x0364;lfe der<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;nen Ku&#x0364;n&#x017F;te noch mehr zu reizen, in das &#x017F;chon<lb/>
verzehrende Feuer noch mehr Oel zu gießen, i&#x017F;t der<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;ndlich&#x017F;te Mißbrauch, de&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich Mahler und<lb/>
Dichter nur allzu ofte &#x017F;chuldig machen. Fu&#x0364;r Werke,<lb/>
die blos zur niedrigen Wollu&#x017F;t reizen, la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;chlechterdings keine Ent&#x017F;chuldigungen anfu&#x0364;hren, die<lb/>
bey vernu&#x0364;nftigen Men&#x017F;chen den gering&#x017F;ten Eindruk<lb/>
machten. Die flei&#x017F;chlichen Triebe, &#x017F;o weit die Na-<lb/>
tur ihrer beda&#x0364;rf, &#x017F;ind bey Men&#x017F;chen, die ihr Tem-<lb/>
perament nicht durch Aus&#x017F;chwei&#x017F;ungen zu Grunde<lb/>
gerichtet haben, allezeit &#x017F;tark und lebhaft genug;<lb/>
al&#x017F;o i&#x017F;t es Narrheit &#x017F;ie u&#x0364;ber ihren Endzwek zu rei-<lb/>
zen: aber fu&#x0364;r verworfene Wollu&#x0364;&#x017F;tlinge zu arbeiten,<lb/>
erniedriget den Ku&#x0364;n&#x017F;tler. Wer &#x017F;ollte ohne Schaam<lb/>
&#x017F;ich zum Diener &#x017F;olcher unter das Thier erniedrig-<lb/>
ten Men&#x017F;chen machen, wenn &#x017F;ie auch von hohem<lb/>
Stande wa&#x0364;ren?</p><lb/>
          <p>Deswegen i&#x017F;t die Liebe, in &#x017F;o fern &#x017F;ie blos thieri-<lb/>
&#x017F;che Wollu&#x017F;t i&#x017F;t, kein Gegen&#x017F;tand der Ku&#x0364;n&#x017F;te, als in &#x017F;o<lb/>
fern die&#x017F;e dienen ko&#x0364;nnen, die &#x017F;cha&#x0364;hlichen Folgen der-<lb/>
&#x017F;elben in ihrer ekelhaften Ge&#x017F;talt lebhaft vor Augen<lb/>
zu legen. Dazu ko&#x0364;nnen Mahler, Dichter und<lb/>
Schau&#x017F;pieler die ho&#x0364;ch&#x017F;te Kraft ihrer Talente &#x017F;ehr<lb/>
nu&#x0364;zlich anwenden. Der beru&#x0364;hinte berlini&#x017F;che Zeich-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ner,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[710[692]/0127] Lie Lie von der wahren Geſtalt derſelben dem Auge ſichtbar, welches ohne Schatten nicht koͤnnte bemerkt werden. So kommt der Mond, wegen Mangel der aus ſei- ner Rundung entſtehenden Vermiſchung des Lichts und Schattens, uns nicht, wie er wuͤrklich iſt, als eine Kugel, ſondern blos als ein flacher Teller vor. Deswegen iſt die genaue Kenntnis des durch die Form der Koͤrper, bey gegebener Erleuchtung ver- aͤnderten Lichts und Schattens, ein Hauptſtuͤk der Wiſſenſchaft des Mahlers. Es haͤngt aber von voͤl- lig beſtimmten geometriſchen und optiſchen Regeln ab, welche auch gemeiniglich, wie wol nicht in der erforderlichen Ausfuͤhrlichkeit in den Anleitungen zur Perſpektio vorgetragen werden. Von der richtigen Beobachtung des Lichts und Schattens haͤngt ein großer Theil, ſowol der Wahrheit, als der Annehm- lichkeit des Gemaͤldes ab; aber dieſes allein erfuͤllet, wie der Herr von Hagedorn gruͤndlich bemerkt hat, das, was der Mahler in Abſicht auf das Hell und Dunkele zu beobachten hat, noch nicht ganz. (*) Liebe. (Schoͤne Kuͤnſte.) Dieſe allen Menſchen gemeine, und an mannigfal- tigen angenehmen und unangenehmen Empfindun- gen ſo reiche Leidenſchaft, wird in allen Gattun- gen der Werke des Geſchmaks vielfaͤltig zum Haupt- gegenſtand; aber von keiner wird ein ſo vielfaͤltiger Mißbrauch gemacht. Damit wir im Stande ſeyen dem Kuͤnſtler uͤber den Gebrauch und die Behand- lung derſelben gruͤndliche Vorſchlaͤge zu thun, muͤſſen wir nothwendig einige Betrachtungen uͤber ihre wahre Natur voraus ſchiken. Der erſte Urſprung der Liebe liegt unſtreitig in der blos thieriſchen Natur des Menſchen; aber man muͤßte die bewundrungswuͤrdigen Veranſtaltungen der Natur ganz verkennen, wenn man darin nichts hoͤheres, als thieriſche Regungen entdekte. Der wahre Beobachter bemerket, daß dieſe Leidenſchaft ihre Wurzeln in dem Fleiſch und Blut des thieri- ſchen Koͤrpers hat, aber ihre Aeſte hoch uͤber der koͤrperlichen Welt in der Sphaͤre hoͤherer Weſen ver- breitet, wo ſie unvergaͤngliche Fruͤchte zur Reiſe bringet. Ob ſie gleich in ihrer erſten Anlag eigennuͤtzig iſt, zeuget ſie doch in rechtſchaffenen Gemuͤthern die edel- ſten Triebe der Wolgewogenheit, der zaͤrtlichſten Freundſchaft und einer alles eigene Jntreſſe vergeſ- ſenden Großmuth. Sie ziehlt im Grund auf Wol- luſt, und iſt doch das kraͤftigſte Mittel von der Wolluſt ab- und auf ſeeligere Empfindungen zu fuͤhren; iſt furchtſam und ofte kleinmuͤthig, und kann dennoch der Grund des hoͤchſten Muthes ſeyn; iſt ein in ihrem Urſprung niedriges ſchaamrothmachen- des Gefuͤhl, und in ihren Folgen die Urſach einer wahren Erhoͤhung des Gemuͤthes. Diejenigen, de- nen dieſes wiederſprechend, oder uͤbertrieben vor- kommt, ſind zu beklagen, und wuͤrden durch weit- laͤuftigere Entwiklung der Sachen doch nicht be- lehrt werden. Der Kuͤnſtler muß die verſchiedenen Geſtalten, die dieſe Leidenſchaft annihmt und ihre verſchiedenen Wuͤrkungen genau unterſcheiden, wenn er ſie ohne Tadel behandeln ſoll. Wir wollen alſo die Haupt- formen derſelben unterſcheiden, und uͤber jede einige dem Kuͤnſtler dienliche Anmerkungen beyfuͤgen. Liebe in rohen, oder durch Wolluſt verwilderten Menſchen, die blos auf eine wilde Befriedigung des koͤrperlichen Beduͤrfniſſes abziehlt, kann nach Be- ſchaffenheit der Umſtaͤnde in eine hoͤchſt gefaͤhrliche Leidenſchaft ausbrechen und aͤußerſt verderbliche Folgen nach ſich ziehen. Dieſe durch Huͤlfe der ſchoͤnen Kuͤnſte noch mehr zu reizen, in das ſchon verzehrende Feuer noch mehr Oel zu gießen, iſt der ſchaͤndlichſte Mißbrauch, deſſen ſich Mahler und Dichter nur allzu ofte ſchuldig machen. Fuͤr Werke, die blos zur niedrigen Wolluſt reizen, laſſen ſich ſchlechterdings keine Entſchuldigungen anfuͤhren, die bey vernuͤnftigen Menſchen den geringſten Eindruk machten. Die fleiſchlichen Triebe, ſo weit die Na- tur ihrer bedaͤrf, ſind bey Menſchen, die ihr Tem- perament nicht durch Ausſchweiſungen zu Grunde gerichtet haben, allezeit ſtark und lebhaft genug; alſo iſt es Narrheit ſie uͤber ihren Endzwek zu rei- zen: aber fuͤr verworfene Wolluͤſtlinge zu arbeiten, erniedriget den Kuͤnſtler. Wer ſollte ohne Schaam ſich zum Diener ſolcher unter das Thier erniedrig- ten Menſchen machen, wenn ſie auch von hohem Stande waͤren? Deswegen iſt die Liebe, in ſo fern ſie blos thieri- ſche Wolluſt iſt, kein Gegenſtand der Kuͤnſte, als in ſo fern dieſe dienen koͤnnen, die ſchaͤhlichen Folgen der- ſelben in ihrer ekelhaften Geſtalt lebhaft vor Augen zu legen. Dazu koͤnnen Mahler, Dichter und Schauſpieler die hoͤchſte Kraft ihrer Talente ſehr nuͤzlich anwenden. Der beruͤhinte berliniſche Zeich- ner, (*) Be- tracht. uͤber die Mahle- rey S. 637. Man ſehe auch den Art. Hell- dunkel.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/127
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 710[692]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/127>, abgerufen am 23.11.2024.