drüken können. Unter allen Künsten aber scheinet die Musik hiezu die größte Kraft zu haben, weil sie das körperliche Gefühl und das System der Nerven am stärksten angreift. Was kann fürchterlicher seyn, als ein rechtes Angstgeschrey, das die Ver- zweiflung aus einem Menschen erpreßt? Dieses kann die Musik nicht nur vollkommen nachahmen, son- dern durch die Harmonie und erschreklich ins Ge- hör reißende Töne der Jnstrumente noch verstärken. Man hat deswegen zu allen Zeiten und mit Recht der Musik vorzügliche Kraft zur Erwekung der Lei- denschaften, durch den starken Ausdruk derselben zugeschrieben. Eine überwiegende Kraft aber kann das Schauspiel haben, wenn es mit so guter Ueber- legung eingerichtet ist, daß alle Künste zugleich ihre Würkung darin thun.
Die beyden Mittel die Leidenschaften zu erweken, können durch Nebenumstände, wodurch die Einbil- dungskraft recht erhizt wird, einen besondern Nach- druk bekommen. Es kommt wie bereits angemerkt worden, zur Verstärkung der Leidenschaften sehr viel hierauf an; denn auch ein an sich schwacher Gegen- stand bekommt durch die Mitwürkung einer lebhaf- ten Phantasie oft eine bewundrungswürdige Stärke. Ein gewisser Virtuose hat mir gestanden, daß er in seinem Leben nie so stark gerührt worden, als da- mals, da er in Rom in der Peterskirche ein sogenan- tes Miserere mit aller möglichen Feyerlichkeit hat singen gehört; obgleich die Musik in Absicht auf den Ausdruk gar nichts vorzügliches gehabt; die größte Kraft kam von der Menge der Stimmen, von der Feyerlichkeit der Versammlung und andern außer der Musik liegenden Umständen. Man wird alle- mal merken, daß ein Schauspiel weit stärker rühret, wenn Logen und Parterre recht angefüllt, als wenn sie halb leer sind; und gar ofte kann eine Kleinig- keit, die einen einzeln Menschen wenig rühren würde, in einer großen Versammlung erstaunliche Bewegung machen. Der an sich geringe Umstand, daß M. Antonius bey der Leichenrede auf den Cäsar das blutige Gewand des ermordeten Diktators dem Volke vorzeigte, hat Rom um seine Freyheit gebracht. Es wäre aber unmöglich alle Veranlassungen und Um- stände, wodurch die Phantasie der Empfindung zu Hülfe kömmt, zu beschreiben. Der Künstler muß ein Kenner der Menschen seyn, und bey jeder Gele- genheit dessen schwache Seite zu finden wissen.
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Dieses ist sowol bey der Bearbeitung der Werke der Kunst, als bey der Gelegenheit, wo sie gebraucht werden, in Betrachtung zu ziehen. Der Redner muß nicht nur darauf sehen, daß seine Materie zu Erwe- kung der Leidenschaften richtig gewählt sey, das be- sondere des Ausdruks, die Figuren der Rede, ihr Ton, und der mündliche Vortrag, dies alles muß durchgehens leidenschaftlich seyn: kann nun mit die- sem noch bey Haltung der Rede jeder Umstand mit Feyerlichkeit verbunden, und die Menge der Zuhörer zum voraus in besondere Erwartung gesezt werden; so hat der Redner sich eine völlige Würkung von seiner Rede zu versprechen. Jn Absicht auf das Lei- denschaftliche im Ton, im Ausdruk und in den Figu- ren der Rede, kann Cicero als ein vollkommenes Muster vorgestellt werden. Will er Mitleiden er- weken, so stimmt in seinem Vortrag alles auf Rüh- rung überein; er weiß allemal die zärtlichsten und kläglichsten Ausdrüke zu wählen, und braucht sehr rührende Figuren; will er Zorn erregen, so ist gleich alles dieses umgekehrt; er spricht mit Entrüstung, weiß den Personen und Sachen, gegen die er den Zuhörer aufbringen will, die verhaßtesten Namen zu geben, und Figuren der Rede, die geschikt sind die Gemüther aufzubringen, am rechten Ort aufzu- häufen.
Auf eine ähnliche Weise muß jeder Künstler ver- fahren. Bey dem Mahler müssen die Behandlung, der Ton der Farben, die Anordnung, und vornehm- lich die Wahl der zufälligen Umstände, mit der Art des leidenschaftlichen im Jnhalt genau übereinstim- men. Ein trauriger Jnhalt muß auch mit trauri- gen Farben gemahlt werden, und die Anordnung muß schon etwas finsters haben. Jch habe irgend- wo ein Gemählde gesehen, worauf die Andromeda mit fürchterlichen und schon Schauder erwekenden Felsen umgeben war; aber zwischen denselben war eine Aussicht auf das Land, da man ein paar Figu- ren in sehr jammernder Stellung erblikte, welches die Vorstellung des Unglüks, das diese Person be- troffen, um ein merkliches verstärkte.
So muß auch in der Musik der klägliche, oder fröhliche Gesang von einer schweeren und eindrin- genden, oder von einer reizenden Harmonie unter- stüzt, und von Jnstrumenten, die sich zum Ausdruk am besten schiken, aufgeführt werden. Und die Spie- ler müssen sanft, lebhaft, oder wild spielen, so wie der Jnhalt es erfodert.
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druͤken koͤnnen. Unter allen Kuͤnſten aber ſcheinet die Muſik hiezu die groͤßte Kraft zu haben, weil ſie das koͤrperliche Gefuͤhl und das Syſtem der Nerven am ſtaͤrkſten angreift. Was kann fuͤrchterlicher ſeyn, als ein rechtes Angſtgeſchrey, das die Ver- zweiflung aus einem Menſchen erpreßt? Dieſes kann die Muſik nicht nur vollkommen nachahmen, ſon- dern durch die Harmonie und erſchreklich ins Ge- hoͤr reißende Toͤne der Jnſtrumente noch verſtaͤrken. Man hat deswegen zu allen Zeiten und mit Recht der Muſik vorzuͤgliche Kraft zur Erwekung der Lei- denſchaften, durch den ſtarken Ausdruk derſelben zugeſchrieben. Eine uͤberwiegende Kraft aber kann das Schauſpiel haben, wenn es mit ſo guter Ueber- legung eingerichtet iſt, daß alle Kuͤnſte zugleich ihre Wuͤrkung darin thun.
Die beyden Mittel die Leidenſchaften zu erweken, koͤnnen durch Nebenumſtaͤnde, wodurch die Einbil- dungskraft recht erhizt wird, einen beſondern Nach- druk bekommen. Es kommt wie bereits angemerkt worden, zur Verſtaͤrkung der Leidenſchaften ſehr viel hierauf an; denn auch ein an ſich ſchwacher Gegen- ſtand bekommt durch die Mitwuͤrkung einer lebhaf- ten Phantaſie oft eine bewundrungswuͤrdige Staͤrke. Ein gewiſſer Virtuoſe hat mir geſtanden, daß er in ſeinem Leben nie ſo ſtark geruͤhrt worden, als da- mals, da er in Rom in der Peterskirche ein ſogenan- tes Miſerere mit aller moͤglichen Feyerlichkeit hat ſingen gehoͤrt; obgleich die Muſik in Abſicht auf den Ausdruk gar nichts vorzuͤgliches gehabt; die groͤßte Kraft kam von der Menge der Stimmen, von der Feyerlichkeit der Verſammlung und andern außer der Muſik liegenden Umſtaͤnden. Man wird alle- mal merken, daß ein Schauſpiel weit ſtaͤrker ruͤhret, wenn Logen und Parterre recht angefuͤllt, als wenn ſie halb leer ſind; und gar ofte kann eine Kleinig- keit, die einen einzeln Menſchen wenig ruͤhren wuͤrde, in einer großen Verſammlung erſtaunliche Bewegung machen. Der an ſich geringe Umſtand, daß M. Antonius bey der Leichenrede auf den Caͤſar das blutige Gewand des ermordeten Diktators dem Volke vorzeigte, hat Rom um ſeine Freyheit gebracht. Es waͤre aber unmoͤglich alle Veranlaſſungen und Um- ſtaͤnde, wodurch die Phantaſie der Empfindung zu Huͤlfe koͤmmt, zu beſchreiben. Der Kuͤnſtler muß ein Kenner der Menſchen ſeyn, und bey jeder Gele- genheit deſſen ſchwache Seite zu finden wiſſen.
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Dieſes iſt ſowol bey der Bearbeitung der Werke der Kunſt, als bey der Gelegenheit, wo ſie gebraucht werden, in Betrachtung zu ziehen. Der Redner muß nicht nur darauf ſehen, daß ſeine Materie zu Erwe- kung der Leidenſchaften richtig gewaͤhlt ſey, das be- ſondere des Ausdruks, die Figuren der Rede, ihr Ton, und der muͤndliche Vortrag, dies alles muß durchgehens leidenſchaftlich ſeyn: kann nun mit die- ſem noch bey Haltung der Rede jeder Umſtand mit Feyerlichkeit verbunden, und die Menge der Zuhoͤrer zum voraus in beſondere Erwartung geſezt werden; ſo hat der Redner ſich eine voͤllige Wuͤrkung von ſeiner Rede zu verſprechen. Jn Abſicht auf das Lei- denſchaftliche im Ton, im Ausdruk und in den Figu- ren der Rede, kann Cicero als ein vollkommenes Muſter vorgeſtellt werden. Will er Mitleiden er- weken, ſo ſtimmt in ſeinem Vortrag alles auf Ruͤh- rung uͤberein; er weiß allemal die zaͤrtlichſten und klaͤglichſten Ausdruͤke zu waͤhlen, und braucht ſehr ruͤhrende Figuren; will er Zorn erregen, ſo iſt gleich alles dieſes umgekehrt; er ſpricht mit Entruͤſtung, weiß den Perſonen und Sachen, gegen die er den Zuhoͤrer aufbringen will, die verhaßteſten Namen zu geben, und Figuren der Rede, die geſchikt ſind die Gemuͤther aufzubringen, am rechten Ort aufzu- haͤufen.
Auf eine aͤhnliche Weiſe muß jeder Kuͤnſtler ver- fahren. Bey dem Mahler muͤſſen die Behandlung, der Ton der Farben, die Anordnung, und vornehm- lich die Wahl der zufaͤlligen Umſtaͤnde, mit der Art des leidenſchaftlichen im Jnhalt genau uͤbereinſtim- men. Ein trauriger Jnhalt muß auch mit trauri- gen Farben gemahlt werden, und die Anordnung muß ſchon etwas finſters haben. Jch habe irgend- wo ein Gemaͤhlde geſehen, worauf die Andromeda mit fuͤrchterlichen und ſchon Schauder erwekenden Felſen umgeben war; aber zwiſchen denſelben war eine Ausſicht auf das Land, da man ein paar Figu- ren in ſehr jammernder Stellung erblikte, welches die Vorſtellung des Ungluͤks, das dieſe Perſon be- troffen, um ein merkliches verſtaͤrkte.
So muß auch in der Muſik der klaͤgliche, oder froͤhliche Geſang von einer ſchweeren und eindrin- genden, oder von einer reizenden Harmonie unter- ſtuͤzt, und von Jnſtrumenten, die ſich zum Ausdruk am beſten ſchiken, aufgefuͤhrt werden. Und die Spie- ler muͤſſen ſanft, lebhaft, oder wild ſpielen, ſo wie der Jnhalt es erfodert.
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[695[677]/0112]
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druͤken koͤnnen. Unter allen Kuͤnſten aber ſcheinet
die Muſik hiezu die groͤßte Kraft zu haben, weil ſie
das koͤrperliche Gefuͤhl und das Syſtem der Nerven
am ſtaͤrkſten angreift. Was kann fuͤrchterlicher
ſeyn, als ein rechtes Angſtgeſchrey, das die Ver-
zweiflung aus einem Menſchen erpreßt? Dieſes kann
die Muſik nicht nur vollkommen nachahmen, ſon-
dern durch die Harmonie und erſchreklich ins Ge-
hoͤr reißende Toͤne der Jnſtrumente noch verſtaͤrken.
Man hat deswegen zu allen Zeiten und mit Recht
der Muſik vorzuͤgliche Kraft zur Erwekung der Lei-
denſchaften, durch den ſtarken Ausdruk derſelben
zugeſchrieben. Eine uͤberwiegende Kraft aber kann
das Schauſpiel haben, wenn es mit ſo guter Ueber-
legung eingerichtet iſt, daß alle Kuͤnſte zugleich ihre
Wuͤrkung darin thun.
Die beyden Mittel die Leidenſchaften zu erweken,
koͤnnen durch Nebenumſtaͤnde, wodurch die Einbil-
dungskraft recht erhizt wird, einen beſondern Nach-
druk bekommen. Es kommt wie bereits angemerkt
worden, zur Verſtaͤrkung der Leidenſchaften ſehr viel
hierauf an; denn auch ein an ſich ſchwacher Gegen-
ſtand bekommt durch die Mitwuͤrkung einer lebhaf-
ten Phantaſie oft eine bewundrungswuͤrdige Staͤrke.
Ein gewiſſer Virtuoſe hat mir geſtanden, daß er in
ſeinem Leben nie ſo ſtark geruͤhrt worden, als da-
mals, da er in Rom in der Peterskirche ein ſogenan-
tes Miſerere mit aller moͤglichen Feyerlichkeit hat
ſingen gehoͤrt; obgleich die Muſik in Abſicht auf den
Ausdruk gar nichts vorzuͤgliches gehabt; die groͤßte
Kraft kam von der Menge der Stimmen, von der
Feyerlichkeit der Verſammlung und andern außer
der Muſik liegenden Umſtaͤnden. Man wird alle-
mal merken, daß ein Schauſpiel weit ſtaͤrker ruͤhret,
wenn Logen und Parterre recht angefuͤllt, als wenn
ſie halb leer ſind; und gar ofte kann eine Kleinig-
keit, die einen einzeln Menſchen wenig ruͤhren wuͤrde,
in einer großen Verſammlung erſtaunliche Bewegung
machen. Der an ſich geringe Umſtand, daß M.
Antonius bey der Leichenrede auf den Caͤſar das
blutige Gewand des ermordeten Diktators dem Volke
vorzeigte, hat Rom um ſeine Freyheit gebracht. Es
waͤre aber unmoͤglich alle Veranlaſſungen und Um-
ſtaͤnde, wodurch die Phantaſie der Empfindung zu
Huͤlfe koͤmmt, zu beſchreiben. Der Kuͤnſtler muß
ein Kenner der Menſchen ſeyn, und bey jeder Gele-
genheit deſſen ſchwache Seite zu finden wiſſen.
Dieſes iſt ſowol bey der Bearbeitung der Werke
der Kunſt, als bey der Gelegenheit, wo ſie gebraucht
werden, in Betrachtung zu ziehen. Der Redner muß
nicht nur darauf ſehen, daß ſeine Materie zu Erwe-
kung der Leidenſchaften richtig gewaͤhlt ſey, das be-
ſondere des Ausdruks, die Figuren der Rede, ihr
Ton, und der muͤndliche Vortrag, dies alles muß
durchgehens leidenſchaftlich ſeyn: kann nun mit die-
ſem noch bey Haltung der Rede jeder Umſtand mit
Feyerlichkeit verbunden, und die Menge der Zuhoͤrer
zum voraus in beſondere Erwartung geſezt werden;
ſo hat der Redner ſich eine voͤllige Wuͤrkung von
ſeiner Rede zu verſprechen. Jn Abſicht auf das Lei-
denſchaftliche im Ton, im Ausdruk und in den Figu-
ren der Rede, kann Cicero als ein vollkommenes
Muſter vorgeſtellt werden. Will er Mitleiden er-
weken, ſo ſtimmt in ſeinem Vortrag alles auf Ruͤh-
rung uͤberein; er weiß allemal die zaͤrtlichſten und
klaͤglichſten Ausdruͤke zu waͤhlen, und braucht ſehr
ruͤhrende Figuren; will er Zorn erregen, ſo iſt gleich
alles dieſes umgekehrt; er ſpricht mit Entruͤſtung,
weiß den Perſonen und Sachen, gegen die er den
Zuhoͤrer aufbringen will, die verhaßteſten Namen
zu geben, und Figuren der Rede, die geſchikt ſind
die Gemuͤther aufzubringen, am rechten Ort aufzu-
haͤufen.
Auf eine aͤhnliche Weiſe muß jeder Kuͤnſtler ver-
fahren. Bey dem Mahler muͤſſen die Behandlung,
der Ton der Farben, die Anordnung, und vornehm-
lich die Wahl der zufaͤlligen Umſtaͤnde, mit der Art
des leidenſchaftlichen im Jnhalt genau uͤbereinſtim-
men. Ein trauriger Jnhalt muß auch mit trauri-
gen Farben gemahlt werden, und die Anordnung
muß ſchon etwas finſters haben. Jch habe irgend-
wo ein Gemaͤhlde geſehen, worauf die Andromeda
mit fuͤrchterlichen und ſchon Schauder erwekenden
Felſen umgeben war; aber zwiſchen denſelben war
eine Ausſicht auf das Land, da man ein paar Figu-
ren in ſehr jammernder Stellung erblikte, welches
die Vorſtellung des Ungluͤks, das dieſe Perſon be-
troffen, um ein merkliches verſtaͤrkte.
So muß auch in der Muſik der klaͤgliche, oder
froͤhliche Geſang von einer ſchweeren und eindrin-
genden, oder von einer reizenden Harmonie unter-
ſtuͤzt, und von Jnſtrumenten, die ſich zum Ausdruk
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ler muͤſſen ſanft, lebhaft, oder wild ſpielen, ſo wie
der Jnhalt es erfodert.
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 695[677]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/112>, abgerufen am 23.11.2024.
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