Dieses Wort scheinet bequem, um einen in den schönen Künsten verschiedentlich vorkommenden Kunstgriff zu benennen. Er besteht in einer ge- schikten Verzögerung der Auflösung einer Verwik- lung, die man ganz nahe glaubt. Jn dem Trauer- spiel des Euripides, Jphigenia in Tauris, glaubt man, daß die Erkenntniß der Jphigenia und des Orestes so gleich erfolgen, und also ein Hauptkno- ten werde aufgelöst werden, so bald jeder des an- dern Namen hören werde. Aber der Dichter wußte die völlige Erkenntniß aufzuhalten, und die Auf- haltung so gar durch einige Auftritte durch zu füh- ren. Eine solche Aufhaltung finden wir auch im VII. B. der Jlias. Hektor fodert einen der Grie- chen zum Zweykampf auf; Menelaus nimmt die Auffoderung an; man wird begierig, den Streit anzusehen: aber Agamemnon und Restor kommen dazwischen, halten den Menelaus zurücke, der end- lich von seinem Vorsatz absteht, und die Sache dem Ajax überläßt. Dadurch wird unsre Erwar- tung aufgehalten, und die Begierde, die Entwik- lung der Sache zu sehen, noch mehr gereizt.
Jn dieser Reizung besteht demnach die Wür- kung der Auf haltung, und eben dadurch wird das Vergnügen bey der Entwiklung desto größer. Ein Werk kann zwar so beschaffen seyn, daß die Vorstellungen ohne Auf haltung, wie ein sanfter und immer gleich fließender Strohm, fort gehen; dergleichen Werke aber reizen weniger, als die, dar- in Verwiklungen und Auf haltungen vorkommen; es sey denn, daß alles in der höchsten Natur und Einfalt auf einander folge. Jn allen andern Fäl- len sind Verwiklungen und Auf haltungen nöthig, und von großer Würkung.
Die Auf haltung betrifft nicht nur große Haupt- Verwiklungen eines Werks, sie hat auch in kleinen Theilen statt. Selbst in einzeln Gedanken kann sie vorkommen. So ist in folgender Stelle des Horaz eine merkliche Aufhaltung:
Poscimur. Si quid vacui sub umbra Lusimus tecum, quod et hunc in annum Vivat et plures: age dic Latinum (*) Hor. Od. I. 32.Barbite carmen. (*)
Das erste Wort, Poscimur, erwekt die Erwartung, was das seyn möchte, wozu der Dichter aufgefodert [Spaltenumbruch]
Auf
wird, und macht also einen Knoten; dieser wird durch alles, was zwischen Poscimur und age die steht, aufgehalten, und dadurch wird die Erwartung größer.
Auch in der Musik giebt es größere und kleinere Auf haltungen. Jn den größern wird ein Gedan- ken so behandelt, daß er gerade an der Stelle, wo man glaubt, er werde durch den Schluß sein End erreichen, aufs neue eine andre Wendung bekömmt. (*)(*) S. Ca- denz. Kleinere Auf haltungen kommen beständig bey Auf- lösung der Dissonanzen vor, da ein dissonirender Accord, dessen Auflösung man erwartet, erst noch durch andre Dissonanzen geführt und hernach auf- gelöst wird.
Bey jeder Verwiklung ist nothwendig eine Auf- haltung. Hier ist nur von der die Rede, welche der Künstler aus Ueberlegung verlängert, um die Vorstellungskraft desto mehr zu reizen. Er muß sich dieses Kunstgriffs nicht allzu ofte bedienen, sonst ermüdet er. Die Aufhaltung ist von derjenigen Gattung Schönheiten, die sparsam und mit genauer Beurtheilung, wo sie nöthig seyn möchte, gebraucht werden muß. Jn der Musik wird der, welcher immer den kürzesten Weg zum Schluß eilet, un- schmakhaft und wässerig; der aber, der niemals anders, als durch mancherley Umwege schließt, wird nicht weniger langweilig und verdrüßlich. Es lassen sich hierüber keine Regeln fest setzen. Ein scharfes Urtheil ist die beste Regel, und der Kunst- richter kann nichts mehr thun, als den Künstler vermahnen, aufmerksam auf den Gebrauch und Mißbrauch der Kunstgriffe zu seyn; damit er nicht aus Unachtsamkeit fehle.
Die Auf haltung muß nicht mit der Unterbrechung des Endes einer Vorstellung verwechselt werden. Jene läßt uns die Sache, deren Verwiklung uns beschäfftiget, nicht aus dem Gesichte verlieren, sie ist ein Theil davon; diese aber bricht sie ab, und setzt etwas anders dazwischen. Dadurch entste- het eine widrige Würkung, weil der Zusammenhang der Vorstellungen würklich zerrissen wird. Nichts ist verdrüßlicher, als eine Geschichte zu lesen, wo, wie in dem Roman vom Amadis, die Begebenhei- ten, wenn man denkt, daß sie sich nun entwikeln werden, abgebrochen, und wegen einer neuen Geschichte ganz aus dem Gesichte verlohren werden. Die Episoden, wenn sie recht geschikt angebracht werden,
gehören
L 3
[Spaltenumbruch]
Auf
Aufhaltung. (Schoͤne Kuͤnſte.)
Dieſes Wort ſcheinet bequem, um einen in den ſchoͤnen Kuͤnſten verſchiedentlich vorkommenden Kunſtgriff zu benennen. Er beſteht in einer ge- ſchikten Verzoͤgerung der Aufloͤſung einer Verwik- lung, die man ganz nahe glaubt. Jn dem Trauer- ſpiel des Euripides, Jphigenia in Tauris, glaubt man, daß die Erkenntniß der Jphigenia und des Oreſtes ſo gleich erfolgen, und alſo ein Hauptkno- ten werde aufgeloͤſt werden, ſo bald jeder des an- dern Namen hoͤren werde. Aber der Dichter wußte die voͤllige Erkenntniß aufzuhalten, und die Auf- haltung ſo gar durch einige Auftritte durch zu fuͤh- ren. Eine ſolche Aufhaltung finden wir auch im VII. B. der Jlias. Hektor fodert einen der Grie- chen zum Zweykampf auf; Menelaus nimmt die Auffoderung an; man wird begierig, den Streit anzuſehen: aber Agamemnon und Reſtor kommen dazwiſchen, halten den Menelaus zuruͤcke, der end- lich von ſeinem Vorſatz abſteht, und die Sache dem Ajax uͤberlaͤßt. Dadurch wird unſre Erwar- tung aufgehalten, und die Begierde, die Entwik- lung der Sache zu ſehen, noch mehr gereizt.
Jn dieſer Reizung beſteht demnach die Wuͤr- kung der Auf haltung, und eben dadurch wird das Vergnuͤgen bey der Entwiklung deſto groͤßer. Ein Werk kann zwar ſo beſchaffen ſeyn, daß die Vorſtellungen ohne Auf haltung, wie ein ſanfter und immer gleich fließender Strohm, fort gehen; dergleichen Werke aber reizen weniger, als die, dar- in Verwiklungen und Auf haltungen vorkommen; es ſey denn, daß alles in der hoͤchſten Natur und Einfalt auf einander folge. Jn allen andern Faͤl- len ſind Verwiklungen und Auf haltungen noͤthig, und von großer Wuͤrkung.
Die Auf haltung betrifft nicht nur große Haupt- Verwiklungen eines Werks, ſie hat auch in kleinen Theilen ſtatt. Selbſt in einzeln Gedanken kann ſie vorkommen. So iſt in folgender Stelle des Horaz eine merkliche Aufhaltung:
Poſcimur. Si quid vacui ſub umbra Luſimus tecum, quod et hunc in annum Vivat et plures: age dic Latinum (*) Hor. Od. I. 32.Barbite carmen. (*)
Das erſte Wort, Poſcimur, erwekt die Erwartung, was das ſeyn moͤchte, wozu der Dichter aufgefodert [Spaltenumbruch]
Auf
wird, und macht alſo einen Knoten; dieſer wird durch alles, was zwiſchen Poſcimur und age die ſteht, aufgehalten, und dadurch wird die Erwartung groͤßer.
Auch in der Muſik giebt es groͤßere und kleinere Auf haltungen. Jn den groͤßern wird ein Gedan- ken ſo behandelt, daß er gerade an der Stelle, wo man glaubt, er werde durch den Schluß ſein End erreichen, aufs neue eine andre Wendung bekoͤmmt. (*)(*) S. Ca- denz. Kleinere Auf haltungen kommen beſtaͤndig bey Auf- loͤſung der Diſſonanzen vor, da ein diſſonirender Accord, deſſen Aufloͤſung man erwartet, erſt noch durch andre Diſſonanzen gefuͤhrt und hernach auf- geloͤſt wird.
Bey jeder Verwiklung iſt nothwendig eine Auf- haltung. Hier iſt nur von der die Rede, welche der Kuͤnſtler aus Ueberlegung verlaͤngert, um die Vorſtellungskraft deſto mehr zu reizen. Er muß ſich dieſes Kunſtgriffs nicht allzu ofte bedienen, ſonſt ermuͤdet er. Die Aufhaltung iſt von derjenigen Gattung Schoͤnheiten, die ſparſam und mit genauer Beurtheilung, wo ſie noͤthig ſeyn moͤchte, gebraucht werden muß. Jn der Muſik wird der, welcher immer den kuͤrzeſten Weg zum Schluß eilet, un- ſchmakhaft und waͤſſerig; der aber, der niemals anders, als durch mancherley Umwege ſchließt, wird nicht weniger langweilig und verdruͤßlich. Es laſſen ſich hieruͤber keine Regeln feſt ſetzen. Ein ſcharfes Urtheil iſt die beſte Regel, und der Kunſt- richter kann nichts mehr thun, als den Kuͤnſtler vermahnen, aufmerkſam auf den Gebrauch und Mißbrauch der Kunſtgriffe zu ſeyn; damit er nicht aus Unachtſamkeit fehle.
Die Auf haltung muß nicht mit der Unterbrechung des Endes einer Vorſtellung verwechſelt werden. Jene laͤßt uns die Sache, deren Verwiklung uns beſchaͤfftiget, nicht aus dem Geſichte verlieren, ſie iſt ein Theil davon; dieſe aber bricht ſie ab, und ſetzt etwas anders dazwiſchen. Dadurch entſte- het eine widrige Wuͤrkung, weil der Zuſammenhang der Vorſtellungen wuͤrklich zerriſſen wird. Nichts iſt verdruͤßlicher, als eine Geſchichte zu leſen, wo, wie in dem Roman vom Amadis, die Begebenhei- ten, wenn man denkt, daß ſie ſich nun entwikeln werden, abgebrochen, und wegen einer neuen Geſchichte ganz aus dem Geſichte verlohren werden. Die Epiſoden, wenn ſie recht geſchikt angebracht werden,
gehoͤren
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(Schoͤne Kuͤnſte.)
Dieſes Wort ſcheinet bequem, um einen in den
ſchoͤnen Kuͤnſten verſchiedentlich vorkommenden
Kunſtgriff zu benennen. Er beſteht in einer ge-
ſchikten Verzoͤgerung der Aufloͤſung einer Verwik-
lung, die man ganz nahe glaubt. Jn dem Trauer-
ſpiel des Euripides, Jphigenia in Tauris, glaubt
man, daß die Erkenntniß der Jphigenia und des
Oreſtes ſo gleich erfolgen, und alſo ein Hauptkno-
ten werde aufgeloͤſt werden, ſo bald jeder des an-
dern Namen hoͤren werde. Aber der Dichter wußte
die voͤllige Erkenntniß aufzuhalten, und die Auf-
haltung ſo gar durch einige Auftritte durch zu fuͤh-
ren. Eine ſolche Aufhaltung finden wir auch im
VII. B. der Jlias. Hektor fodert einen der Grie-
chen zum Zweykampf auf; Menelaus nimmt die
Auffoderung an; man wird begierig, den Streit
anzuſehen: aber Agamemnon und Reſtor kommen
dazwiſchen, halten den Menelaus zuruͤcke, der end-
lich von ſeinem Vorſatz abſteht, und die Sache
dem Ajax uͤberlaͤßt. Dadurch wird unſre Erwar-
tung aufgehalten, und die Begierde, die Entwik-
lung der Sache zu ſehen, noch mehr gereizt.
Jn dieſer Reizung beſteht demnach die Wuͤr-
kung der Auf haltung, und eben dadurch wird das
Vergnuͤgen bey der Entwiklung deſto groͤßer.
Ein Werk kann zwar ſo beſchaffen ſeyn, daß die
Vorſtellungen ohne Auf haltung, wie ein ſanfter
und immer gleich fließender Strohm, fort gehen;
dergleichen Werke aber reizen weniger, als die, dar-
in Verwiklungen und Auf haltungen vorkommen;
es ſey denn, daß alles in der hoͤchſten Natur und
Einfalt auf einander folge. Jn allen andern Faͤl-
len ſind Verwiklungen und Auf haltungen noͤthig,
und von großer Wuͤrkung.
Die Auf haltung betrifft nicht nur große Haupt-
Verwiklungen eines Werks, ſie hat auch in kleinen
Theilen ſtatt. Selbſt in einzeln Gedanken kann
ſie vorkommen. So iſt in folgender Stelle des
Horaz eine merkliche Aufhaltung:
Poſcimur. Si quid vacui ſub umbra
Luſimus tecum, quod et hunc in annum
Vivat et plures: age dic Latinum
Barbite carmen. (*)
Das erſte Wort, Poſcimur, erwekt die Erwartung,
was das ſeyn moͤchte, wozu der Dichter aufgefodert
wird, und macht alſo einen Knoten; dieſer wird
durch alles, was zwiſchen Poſcimur und age die
ſteht, aufgehalten, und dadurch wird die Erwartung
groͤßer.
Auch in der Muſik giebt es groͤßere und kleinere
Auf haltungen. Jn den groͤßern wird ein Gedan-
ken ſo behandelt, daß er gerade an der Stelle, wo
man glaubt, er werde durch den Schluß ſein End
erreichen, aufs neue eine andre Wendung bekoͤmmt. (*)
Kleinere Auf haltungen kommen beſtaͤndig bey Auf-
loͤſung der Diſſonanzen vor, da ein diſſonirender
Accord, deſſen Aufloͤſung man erwartet, erſt noch
durch andre Diſſonanzen gefuͤhrt und hernach auf-
geloͤſt wird.
(*) S. Ca-
denz.
Bey jeder Verwiklung iſt nothwendig eine Auf-
haltung. Hier iſt nur von der die Rede, welche
der Kuͤnſtler aus Ueberlegung verlaͤngert, um die
Vorſtellungskraft deſto mehr zu reizen. Er muß
ſich dieſes Kunſtgriffs nicht allzu ofte bedienen, ſonſt
ermuͤdet er. Die Aufhaltung iſt von derjenigen
Gattung Schoͤnheiten, die ſparſam und mit genauer
Beurtheilung, wo ſie noͤthig ſeyn moͤchte, gebraucht
werden muß. Jn der Muſik wird der, welcher
immer den kuͤrzeſten Weg zum Schluß eilet, un-
ſchmakhaft und waͤſſerig; der aber, der niemals
anders, als durch mancherley Umwege ſchließt,
wird nicht weniger langweilig und verdruͤßlich. Es
laſſen ſich hieruͤber keine Regeln feſt ſetzen. Ein
ſcharfes Urtheil iſt die beſte Regel, und der Kunſt-
richter kann nichts mehr thun, als den Kuͤnſtler
vermahnen, aufmerkſam auf den Gebrauch und
Mißbrauch der Kunſtgriffe zu ſeyn; damit er nicht
aus Unachtſamkeit fehle.
Die Auf haltung muß nicht mit der Unterbrechung
des Endes einer Vorſtellung verwechſelt werden.
Jene laͤßt uns die Sache, deren Verwiklung uns
beſchaͤfftiget, nicht aus dem Geſichte verlieren, ſie
iſt ein Theil davon; dieſe aber bricht ſie ab, und
ſetzt etwas anders dazwiſchen. Dadurch entſte-
het eine widrige Wuͤrkung, weil der Zuſammenhang
der Vorſtellungen wuͤrklich zerriſſen wird. Nichts
iſt verdruͤßlicher, als eine Geſchichte zu leſen, wo,
wie in dem Roman vom Amadis, die Begebenhei-
ten, wenn man denkt, daß ſie ſich nun entwikeln
werden, abgebrochen, und wegen einer neuen Geſchichte
ganz aus dem Geſichte verlohren werden. Die
Epiſoden, wenn ſie recht geſchikt angebracht werden,
gehoͤren
L 3
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/97>, abgerufen am 16.02.2025.
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