Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Anf
lung. Man kann die ganze Handlung vollkommen
begreifen, wenn man auch von dem, was diesem
Anfang vorher gegangen ist, keine Nachricht hat:
es liegt ganz außer der Kette dieser Begebenheit.

Ohne einen Anfang kann man sich demnach
keine Reyhe von Dingen vollkommen vorstellen;
weil man nicht begreift, warum die Sachen da sind.
Es gehört nothwendig zu der Vollkommenheit eines
Werks von Geschmak, daß es einen bestimmten An-
fang habe. Wenn Homer die Begebenheiten der
Jlias besungen hätte, ohne uns zu sagen, warum
Achilles sich von dem Heer entfernt habe, und wa-
rum er gegen den Agamemnon aufgebracht worden, so
würde uns das Vornehmste der Handlung gefehlt
haben: dieses aber der Erzählung vorher gesezt,
giebt uns den vollen Aufschluß zu der Sache; und
wir bekommen dadurch eine vollständige Vorstellung,
dessen, was der Dichter hat besingen wollen; wir
werden völlig befriediget, nachdem wir den Anfaug,
den Fortgang, und das Ende der Sache erkennt
haben.

Hieraus folget, daß der epische Dichter, welcher
eine vollständige Handlung erzählt, oder der dra-
matische, der sie uns auf der Schaubühne vorstellt,
sorgfältig seyn müssen, den Anfang der Handlung
deutlich vor Augen zu legen. Dabey aber haben sie
einige Vorsichtigkeit nöthig, weil dieses mit mehr
oder weniger guter Würkung geschehen kann. Die
Sache ist der Mühe werth ausführlich entwikelt zu
werden.

Weil der Anfang das erste in der Sache ist,
dem nichts, was zu derselben gehört, vorhergehen
kann, so muß die Handlung mit nichts anfangen,
was würklich vor ihr gewesen ist. Dieses wäre
ein verwerflicher Ueberfluß. Die Vorstellungs-
kraft wurde mit etwas fremden, das zur Sache nicht
gehört, beschäftiget. Jn diesen Fehler ist Euripi-
des
bisweilen gefallen. Jn der Hekuba läßt er zum
Anfange der Handlung diese Königinn auftreten und
kläglich thun, noch ehe der der Zuschauer weiß,
welches Elend, das eigentlich der Jnhalt des Stüks
ist, ihr bevorsteht. Der wahre Anfang dieser Hand-
lung ist der Entschluß der Griechen, die Tochter die-
ser Königinn auf dem Grabe des Achilles zu opfern.
Dieses hat uns der Dichter gleich sollen bekannt
machen. Denn alle Klagen der Hekuba, über die
ihr vorher begegneten Unglüksfälle, gehören nicht
[Spaltenumbruch]

Anf
zu dieser Sache. Eben so läßt er in der Jphigenia
bey den Tauriern, diese Prinzeßin zum Anfang der
Handlung erscheinen, ehe sie weiß, daß Orestes und
Pylades angekommen; da doch die Handlung erst
durch ihre Ankunft den Anfang nimmt. Dergleichen
Eingänge sind würklich von der Handlung abgerissen
und also der Einheit der Vorstellung entgegen.

Ein andrer Fehler ist es in epischen und dramati-
schen Gedichten, wenn man den Anfang mit sehr
entfernten Veranlassungen zu der Handlung macht.
Es würde ungereimt seyn, wenn man, wie Horaz
sagt, die Erzählung des Trojanischen Krieges von
dem Ey anfangen wollte, aus welchem Helena in die
Welt gekommen. Denn daraus erkennt man die
Ursache des Krieges nicht unmittelbar. Dergleichen
weite Umschweife geben der Vorstellung eine Unvoll-
kommenheit, die scharfsinnigen Lesern anstößig ist.
Der Dichter muß demnach ohne Umschweife gleich
zur Sache kommen, und sein Werk beym unmittel-
baren Anfang der Handlung anheben.

Zwar hangen in der Welt gar alle Begebenheiten
so an einander, daß in strengem metaphisischen Sinn
keine, die mitten aus der Geschichte der Welt her-
aus genommen wird, ein für sich bestehendes ganzes
ausmacht. Allein da der Dichter seinen Plan so
machen muß, daß die Handlung die er bearbeitet,
als ein für sich bestehendes ganzes erscheine; so muß
er einen solchen Anfang suchen, der unsre Vorstellung
befriedige und uns nichts vorher gegangenes zu su-
chen übrig lasse. Hat er ein Mißtrauen in die
Fruchtbarkeit seiner Erfindungskraft, so nimmt er
einen entfernten Anfang, damit die Menge der Be-
gebenheiten den Mangel der Erfindungen erseze.
Vielleicht würde Homer die Aeneis von der Ankunft
des Helden in Jtalien angefangen haben. Virgil
glaubte einen entfernten Anfang nöthig zu haben.
So würde ein minder fruchtbarer Dichter sich kaum
getraut haben, die Meßiade, wie Klopstok gethan
hat, mit dem lezten Einzug des Erlösers nach Jeru-
salem anzufangen.

Dem Dichter bleibt also immer die Freyheit den
Anfang seiner Handlung näher oder entfernter von
dem Ende zu nehmen. Nur muß er dieses genau
beobachten, daß er seinem Gedicht einen wahren
Anfang gebe, der weder außer der Handlung liege,
noch unvollständig sey. Je näher der Anfang der
Handlung an dem Ende derselben liegt, je enger
kann das ganze zusammen getrieben werden, daß es

mit
G 2

[Spaltenumbruch]

Anf
lung. Man kann die ganze Handlung vollkommen
begreifen, wenn man auch von dem, was dieſem
Anfang vorher gegangen iſt, keine Nachricht hat:
es liegt ganz außer der Kette dieſer Begebenheit.

Ohne einen Anfang kann man ſich demnach
keine Reyhe von Dingen vollkommen vorſtellen;
weil man nicht begreift, warum die Sachen da ſind.
Es gehoͤrt nothwendig zu der Vollkommenheit eines
Werks von Geſchmak, daß es einen beſtimmten An-
fang habe. Wenn Homer die Begebenheiten der
Jlias beſungen haͤtte, ohne uns zu ſagen, warum
Achilles ſich von dem Heer entfernt habe, und wa-
rum er gegen den Agamemnon aufgebracht worden, ſo
wuͤrde uns das Vornehmſte der Handlung gefehlt
haben: dieſes aber der Erzaͤhlung vorher geſezt,
giebt uns den vollen Aufſchluß zu der Sache; und
wir bekommen dadurch eine vollſtaͤndige Vorſtellung,
deſſen, was der Dichter hat beſingen wollen; wir
werden voͤllig befriediget, nachdem wir den Anfaug,
den Fortgang, und das Ende der Sache erkennt
haben.

Hieraus folget, daß der epiſche Dichter, welcher
eine vollſtaͤndige Handlung erzaͤhlt, oder der dra-
matiſche, der ſie uns auf der Schaubuͤhne vorſtellt,
ſorgfaͤltig ſeyn muͤſſen, den Anfang der Handlung
deutlich vor Augen zu legen. Dabey aber haben ſie
einige Vorſichtigkeit noͤthig, weil dieſes mit mehr
oder weniger guter Wuͤrkung geſchehen kann. Die
Sache iſt der Muͤhe werth ausfuͤhrlich entwikelt zu
werden.

Weil der Anfang das erſte in der Sache iſt,
dem nichts, was zu derſelben gehoͤrt, vorhergehen
kann, ſo muß die Handlung mit nichts anfangen,
was wuͤrklich vor ihr geweſen iſt. Dieſes waͤre
ein verwerflicher Ueberfluß. Die Vorſtellungs-
kraft wurde mit etwas fremden, das zur Sache nicht
gehoͤrt, beſchaͤftiget. Jn dieſen Fehler iſt Euripi-
des
bisweilen gefallen. Jn der Hekuba laͤßt er zum
Anfange der Handlung dieſe Koͤniginn auftreten und
klaͤglich thun, noch ehe der der Zuſchauer weiß,
welches Elend, das eigentlich der Jnhalt des Stuͤks
iſt, ihr bevorſteht. Der wahre Anfang dieſer Hand-
lung iſt der Entſchluß der Griechen, die Tochter die-
ſer Koͤniginn auf dem Grabe des Achilles zu opfern.
Dieſes hat uns der Dichter gleich ſollen bekannt
machen. Denn alle Klagen der Hekuba, uͤber die
ihr vorher begegneten Ungluͤksfaͤlle, gehoͤren nicht
[Spaltenumbruch]

Anf
zu dieſer Sache. Eben ſo laͤßt er in der Jphigenia
bey den Tauriern, dieſe Prinzeßin zum Anfang der
Handlung erſcheinen, ehe ſie weiß, daß Oreſtes und
Pylades angekommen; da doch die Handlung erſt
durch ihre Ankunft den Anfang nimmt. Dergleichen
Eingaͤnge ſind wuͤrklich von der Handlung abgeriſſen
und alſo der Einheit der Vorſtellung entgegen.

Ein andrer Fehler iſt es in epiſchen und dramati-
ſchen Gedichten, wenn man den Anfang mit ſehr
entfernten Veranlaſſungen zu der Handlung macht.
Es wuͤrde ungereimt ſeyn, wenn man, wie Horaz
ſagt, die Erzaͤhlung des Trojaniſchen Krieges von
dem Ey anfangen wollte, aus welchem Helena in die
Welt gekommen. Denn daraus erkennt man die
Urſache des Krieges nicht unmittelbar. Dergleichen
weite Umſchweife geben der Vorſtellung eine Unvoll-
kommenheit, die ſcharfſinnigen Leſern anſtoͤßig iſt.
Der Dichter muß demnach ohne Umſchweife gleich
zur Sache kommen, und ſein Werk beym unmittel-
baren Anfang der Handlung anheben.

Zwar hangen in der Welt gar alle Begebenheiten
ſo an einander, daß in ſtrengem metaphiſiſchen Sinn
keine, die mitten aus der Geſchichte der Welt her-
aus genommen wird, ein fuͤr ſich beſtehendes ganzes
ausmacht. Allein da der Dichter ſeinen Plan ſo
machen muß, daß die Handlung die er bearbeitet,
als ein fuͤr ſich beſtehendes ganzes erſcheine; ſo muß
er einen ſolchen Anfang ſuchen, der unſre Vorſtellung
befriedige und uns nichts vorher gegangenes zu ſu-
chen uͤbrig laſſe. Hat er ein Mißtrauen in die
Fruchtbarkeit ſeiner Erfindungskraft, ſo nimmt er
einen entfernten Anfang, damit die Menge der Be-
gebenheiten den Mangel der Erfindungen erſeze.
Vielleicht wuͤrde Homer die Aeneis von der Ankunft
des Helden in Jtalien angefangen haben. Virgil
glaubte einen entfernten Anfang noͤthig zu haben.
So wuͤrde ein minder fruchtbarer Dichter ſich kaum
getraut haben, die Meßiade, wie Klopſtok gethan
hat, mit dem lezten Einzug des Erloͤſers nach Jeru-
ſalem anzufangen.

Dem Dichter bleibt alſo immer die Freyheit den
Anfang ſeiner Handlung naͤher oder entfernter von
dem Ende zu nehmen. Nur muß er dieſes genau
beobachten, daß er ſeinem Gedicht einen wahren
Anfang gebe, der weder außer der Handlung liege,
noch unvollſtaͤndig ſey. Je naͤher der Anfang der
Handlung an dem Ende derſelben liegt, je enger
kann das ganze zuſammen getrieben werden, daß es

mit
G 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0063" n="51"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Anf</hi></fw><lb/>
lung. Man kann die ganze Handlung vollkommen<lb/>
begreifen, wenn man auch von dem, was die&#x017F;em<lb/>
Anfang vorher gegangen i&#x017F;t, keine Nachricht hat:<lb/>
es liegt ganz außer der Kette die&#x017F;er Begebenheit.</p><lb/>
          <p>Ohne einen Anfang kann man &#x017F;ich demnach<lb/>
keine Reyhe von Dingen vollkommen vor&#x017F;tellen;<lb/>
weil man nicht begreift, warum die Sachen da &#x017F;ind.<lb/>
Es geho&#x0364;rt nothwendig zu der Vollkommenheit eines<lb/>
Werks von Ge&#x017F;chmak, daß es einen be&#x017F;timmten An-<lb/>
fang habe. Wenn <hi rendition="#fr">Homer</hi> die Begebenheiten der<lb/>
Jlias be&#x017F;ungen ha&#x0364;tte, ohne uns zu &#x017F;agen, warum<lb/>
Achilles &#x017F;ich von dem Heer entfernt habe, und wa-<lb/>
rum er gegen den Agamemnon aufgebracht worden, &#x017F;o<lb/>
wu&#x0364;rde uns das Vornehm&#x017F;te der Handlung gefehlt<lb/>
haben: die&#x017F;es aber der Erza&#x0364;hlung vorher ge&#x017F;ezt,<lb/>
giebt uns den vollen Auf&#x017F;chluß zu der Sache; und<lb/>
wir bekommen dadurch eine voll&#x017F;ta&#x0364;ndige Vor&#x017F;tellung,<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en, was der Dichter hat be&#x017F;ingen wollen; wir<lb/>
werden vo&#x0364;llig befriediget, nachdem wir den Anfaug,<lb/>
den Fortgang, und das Ende der Sache erkennt<lb/>
haben.</p><lb/>
          <p>Hieraus folget, daß der epi&#x017F;che Dichter, welcher<lb/>
eine voll&#x017F;ta&#x0364;ndige Handlung erza&#x0364;hlt, oder der dra-<lb/>
mati&#x017F;che, der &#x017F;ie uns auf der Schaubu&#x0364;hne vor&#x017F;tellt,<lb/>
&#x017F;orgfa&#x0364;ltig &#x017F;eyn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, den Anfang der Handlung<lb/>
deutlich vor Augen zu legen. Dabey aber haben &#x017F;ie<lb/>
einige Vor&#x017F;ichtigkeit no&#x0364;thig, weil die&#x017F;es mit mehr<lb/>
oder weniger guter Wu&#x0364;rkung ge&#x017F;chehen kann. Die<lb/>
Sache i&#x017F;t der Mu&#x0364;he werth ausfu&#x0364;hrlich entwikelt zu<lb/>
werden.</p><lb/>
          <p>Weil der Anfang das er&#x017F;te in der Sache i&#x017F;t,<lb/>
dem nichts, was zu der&#x017F;elben geho&#x0364;rt, vorhergehen<lb/>
kann, &#x017F;o muß die Handlung mit nichts anfangen,<lb/>
was wu&#x0364;rklich vor ihr gewe&#x017F;en i&#x017F;t. Die&#x017F;es wa&#x0364;re<lb/>
ein verwerflicher Ueberfluß. Die Vor&#x017F;tellungs-<lb/>
kraft wurde mit etwas fremden, das zur Sache nicht<lb/>
geho&#x0364;rt, be&#x017F;cha&#x0364;ftiget. Jn die&#x017F;en Fehler i&#x017F;t <hi rendition="#fr">Euripi-<lb/>
des</hi> bisweilen gefallen. Jn der <hi rendition="#fr">Hekuba</hi> la&#x0364;ßt er zum<lb/>
Anfange der Handlung die&#x017F;e Ko&#x0364;niginn auftreten und<lb/>
kla&#x0364;glich thun, noch ehe der der Zu&#x017F;chauer weiß,<lb/>
welches Elend, das eigentlich der Jnhalt des Stu&#x0364;ks<lb/>
i&#x017F;t, ihr bevor&#x017F;teht. Der wahre Anfang die&#x017F;er Hand-<lb/>
lung i&#x017F;t der Ent&#x017F;chluß der Griechen, die Tochter die-<lb/>
&#x017F;er Ko&#x0364;niginn auf dem Grabe des Achilles zu opfern.<lb/>
Die&#x017F;es hat uns der Dichter gleich &#x017F;ollen bekannt<lb/>
machen. Denn alle Klagen der Hekuba, u&#x0364;ber die<lb/>
ihr vorher begegneten Unglu&#x0364;ksfa&#x0364;lle, geho&#x0364;ren nicht<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Anf</hi></fw><lb/>
zu die&#x017F;er Sache. Eben &#x017F;o la&#x0364;ßt er in der Jphigenia<lb/>
bey den Tauriern, die&#x017F;e Prinzeßin zum Anfang der<lb/>
Handlung er&#x017F;cheinen, ehe &#x017F;ie weiß, daß Ore&#x017F;tes und<lb/>
Pylades angekommen; da doch die Handlung er&#x017F;t<lb/>
durch ihre Ankunft den Anfang nimmt. Dergleichen<lb/>
Einga&#x0364;nge &#x017F;ind wu&#x0364;rklich von der Handlung abgeri&#x017F;&#x017F;en<lb/>
und al&#x017F;o der Einheit der Vor&#x017F;tellung entgegen.</p><lb/>
          <p>Ein andrer Fehler i&#x017F;t es in epi&#x017F;chen und dramati-<lb/>
&#x017F;chen Gedichten, wenn man den Anfang mit &#x017F;ehr<lb/>
entfernten Veranla&#x017F;&#x017F;ungen zu der Handlung macht.<lb/>
Es wu&#x0364;rde ungereimt &#x017F;eyn, wenn man, wie Horaz<lb/>
&#x017F;agt, die Erza&#x0364;hlung des Trojani&#x017F;chen Krieges von<lb/>
dem Ey anfangen wollte, aus welchem Helena in die<lb/>
Welt gekommen. Denn daraus erkennt man die<lb/>
Ur&#x017F;ache des Krieges nicht unmittelbar. Dergleichen<lb/>
weite Um&#x017F;chweife geben der Vor&#x017F;tellung eine Unvoll-<lb/>
kommenheit, die &#x017F;charf&#x017F;innigen Le&#x017F;ern an&#x017F;to&#x0364;ßig i&#x017F;t.<lb/>
Der Dichter muß demnach ohne Um&#x017F;chweife gleich<lb/>
zur Sache kommen, und &#x017F;ein Werk beym unmittel-<lb/>
baren Anfang der Handlung anheben.</p><lb/>
          <p>Zwar hangen in der Welt gar alle Begebenheiten<lb/>
&#x017F;o an einander, daß in &#x017F;trengem metaphi&#x017F;i&#x017F;chen Sinn<lb/>
keine, die mitten aus der Ge&#x017F;chichte der Welt her-<lb/>
aus genommen wird, ein fu&#x0364;r &#x017F;ich be&#x017F;tehendes ganzes<lb/>
ausmacht. Allein da der Dichter &#x017F;einen Plan &#x017F;o<lb/>
machen muß, daß die Handlung die er bearbeitet,<lb/>
als ein fu&#x0364;r &#x017F;ich be&#x017F;tehendes ganzes er&#x017F;cheine; &#x017F;o muß<lb/>
er einen &#x017F;olchen Anfang &#x017F;uchen, der un&#x017F;re Vor&#x017F;tellung<lb/>
befriedige und uns nichts vorher gegangenes zu &#x017F;u-<lb/>
chen u&#x0364;brig la&#x017F;&#x017F;e. Hat er ein Mißtrauen in die<lb/>
Fruchtbarkeit &#x017F;einer Erfindungskraft, &#x017F;o nimmt er<lb/>
einen entfernten Anfang, damit die Menge der Be-<lb/>
gebenheiten den Mangel der Erfindungen er&#x017F;eze.<lb/>
Vielleicht wu&#x0364;rde <hi rendition="#fr">Homer</hi> die Aeneis von der Ankunft<lb/>
des Helden in Jtalien angefangen haben. Virgil<lb/>
glaubte einen entfernten Anfang no&#x0364;thig zu haben.<lb/>
So wu&#x0364;rde ein minder fruchtbarer Dichter &#x017F;ich kaum<lb/>
getraut haben, die Meßiade, wie <hi rendition="#fr">Klop&#x017F;tok</hi> gethan<lb/>
hat, mit dem lezten Einzug des Erlo&#x0364;&#x017F;ers nach Jeru-<lb/>
&#x017F;alem anzufangen.</p><lb/>
          <p>Dem Dichter bleibt al&#x017F;o immer die Freyheit den<lb/>
Anfang &#x017F;einer Handlung na&#x0364;her oder entfernter von<lb/>
dem Ende zu nehmen. Nur muß er die&#x017F;es genau<lb/>
beobachten, daß er &#x017F;einem Gedicht einen wahren<lb/>
Anfang gebe, der weder außer der Handlung liege,<lb/>
noch unvoll&#x017F;ta&#x0364;ndig &#x017F;ey. Je na&#x0364;her der Anfang der<lb/>
Handlung an dem Ende der&#x017F;elben liegt, je enger<lb/>
kann das ganze zu&#x017F;ammen getrieben werden, daß es<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G 2</fw><fw place="bottom" type="catch">mit</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[51/0063] Anf Anf lung. Man kann die ganze Handlung vollkommen begreifen, wenn man auch von dem, was dieſem Anfang vorher gegangen iſt, keine Nachricht hat: es liegt ganz außer der Kette dieſer Begebenheit. Ohne einen Anfang kann man ſich demnach keine Reyhe von Dingen vollkommen vorſtellen; weil man nicht begreift, warum die Sachen da ſind. Es gehoͤrt nothwendig zu der Vollkommenheit eines Werks von Geſchmak, daß es einen beſtimmten An- fang habe. Wenn Homer die Begebenheiten der Jlias beſungen haͤtte, ohne uns zu ſagen, warum Achilles ſich von dem Heer entfernt habe, und wa- rum er gegen den Agamemnon aufgebracht worden, ſo wuͤrde uns das Vornehmſte der Handlung gefehlt haben: dieſes aber der Erzaͤhlung vorher geſezt, giebt uns den vollen Aufſchluß zu der Sache; und wir bekommen dadurch eine vollſtaͤndige Vorſtellung, deſſen, was der Dichter hat beſingen wollen; wir werden voͤllig befriediget, nachdem wir den Anfaug, den Fortgang, und das Ende der Sache erkennt haben. Hieraus folget, daß der epiſche Dichter, welcher eine vollſtaͤndige Handlung erzaͤhlt, oder der dra- matiſche, der ſie uns auf der Schaubuͤhne vorſtellt, ſorgfaͤltig ſeyn muͤſſen, den Anfang der Handlung deutlich vor Augen zu legen. Dabey aber haben ſie einige Vorſichtigkeit noͤthig, weil dieſes mit mehr oder weniger guter Wuͤrkung geſchehen kann. Die Sache iſt der Muͤhe werth ausfuͤhrlich entwikelt zu werden. Weil der Anfang das erſte in der Sache iſt, dem nichts, was zu derſelben gehoͤrt, vorhergehen kann, ſo muß die Handlung mit nichts anfangen, was wuͤrklich vor ihr geweſen iſt. Dieſes waͤre ein verwerflicher Ueberfluß. Die Vorſtellungs- kraft wurde mit etwas fremden, das zur Sache nicht gehoͤrt, beſchaͤftiget. Jn dieſen Fehler iſt Euripi- des bisweilen gefallen. Jn der Hekuba laͤßt er zum Anfange der Handlung dieſe Koͤniginn auftreten und klaͤglich thun, noch ehe der der Zuſchauer weiß, welches Elend, das eigentlich der Jnhalt des Stuͤks iſt, ihr bevorſteht. Der wahre Anfang dieſer Hand- lung iſt der Entſchluß der Griechen, die Tochter die- ſer Koͤniginn auf dem Grabe des Achilles zu opfern. Dieſes hat uns der Dichter gleich ſollen bekannt machen. Denn alle Klagen der Hekuba, uͤber die ihr vorher begegneten Ungluͤksfaͤlle, gehoͤren nicht zu dieſer Sache. Eben ſo laͤßt er in der Jphigenia bey den Tauriern, dieſe Prinzeßin zum Anfang der Handlung erſcheinen, ehe ſie weiß, daß Oreſtes und Pylades angekommen; da doch die Handlung erſt durch ihre Ankunft den Anfang nimmt. Dergleichen Eingaͤnge ſind wuͤrklich von der Handlung abgeriſſen und alſo der Einheit der Vorſtellung entgegen. Ein andrer Fehler iſt es in epiſchen und dramati- ſchen Gedichten, wenn man den Anfang mit ſehr entfernten Veranlaſſungen zu der Handlung macht. Es wuͤrde ungereimt ſeyn, wenn man, wie Horaz ſagt, die Erzaͤhlung des Trojaniſchen Krieges von dem Ey anfangen wollte, aus welchem Helena in die Welt gekommen. Denn daraus erkennt man die Urſache des Krieges nicht unmittelbar. Dergleichen weite Umſchweife geben der Vorſtellung eine Unvoll- kommenheit, die ſcharfſinnigen Leſern anſtoͤßig iſt. Der Dichter muß demnach ohne Umſchweife gleich zur Sache kommen, und ſein Werk beym unmittel- baren Anfang der Handlung anheben. Zwar hangen in der Welt gar alle Begebenheiten ſo an einander, daß in ſtrengem metaphiſiſchen Sinn keine, die mitten aus der Geſchichte der Welt her- aus genommen wird, ein fuͤr ſich beſtehendes ganzes ausmacht. Allein da der Dichter ſeinen Plan ſo machen muß, daß die Handlung die er bearbeitet, als ein fuͤr ſich beſtehendes ganzes erſcheine; ſo muß er einen ſolchen Anfang ſuchen, der unſre Vorſtellung befriedige und uns nichts vorher gegangenes zu ſu- chen uͤbrig laſſe. Hat er ein Mißtrauen in die Fruchtbarkeit ſeiner Erfindungskraft, ſo nimmt er einen entfernten Anfang, damit die Menge der Be- gebenheiten den Mangel der Erfindungen erſeze. Vielleicht wuͤrde Homer die Aeneis von der Ankunft des Helden in Jtalien angefangen haben. Virgil glaubte einen entfernten Anfang noͤthig zu haben. So wuͤrde ein minder fruchtbarer Dichter ſich kaum getraut haben, die Meßiade, wie Klopſtok gethan hat, mit dem lezten Einzug des Erloͤſers nach Jeru- ſalem anzufangen. Dem Dichter bleibt alſo immer die Freyheit den Anfang ſeiner Handlung naͤher oder entfernter von dem Ende zu nehmen. Nur muß er dieſes genau beobachten, daß er ſeinem Gedicht einen wahren Anfang gebe, der weder außer der Handlung liege, noch unvollſtaͤndig ſey. Je naͤher der Anfang der Handlung an dem Ende derſelben liegt, je enger kann das ganze zuſammen getrieben werden, daß es mit G 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/63
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/63>, abgerufen am 24.11.2024.