Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] His net den linken Arm auf einen kleinen völlig nach an-tiker Art gemachten Tisch, auf welchem man eine (*) d. i. von den Syraku- sern.von kostbarem Stein geschnittene Schaale sieht, auf deren Grunde das Wort a#PAKOaION (*) ein- gegraben ist. Dieses führet sogleich auf den Gedan- ken, daß dieser Mann einer der ersten Männer in Syrakusa seyn müsse. Hinter ihm erbliket man auf einem prächtigen Postament zwey in Stein gehauene Brustbilder, davon das eine den ehemaligen König Hieron, das andre den Philosophen Plato vorstellt. Daher entsteht die Vermuthung, daß dieser Mann der Dion sey. Betrachtet man die Handlung der Furie näher, so sieht man an dem Altar, den sie umstürzt. diese Aufschrift: C#NSunPONOIC TOIC EN CIKEAII SunEOIC ION ANE. (+) Dieses macht uns völlig gewiß, daß wir hier den Dion in seinem Hause sehen, und daß das schrekliche Gesicht abgebildet werde, das er kurz vor dem Tode seines Sohnes gehabt, dessen Plutarchus in dem Leben des Dions Meldung thut. Zu den Füßen des Dions liegt eine Tafel, auf wel- cher eine Stelle aus der Jlias zu lesen ist. # Dieses könnte auf die Vermuthung führen, daß Dion So finden Künstler von Genie und Kenntnis alle- His nen, durch deren Gegenwart die Scene nicht intres-santer wird, thun dem Gemähld eben den Schaden, den sie einer lebhaften Scene im Schauspiele thun. Aber wenige Mahler haben dieses genugsam über- legt. Wenn sie die Hauptpersonen hingestellt haben und finden, daß die Gruppen nicht voll, oder nicht zusammenhangend genug sind, wenn sie etwa zur Haltung irgendwo gewisse Farben nöthig haben, so stellen sie gleich eine unnütze Figur dahin, die zwar das Aug etwas befriediget, aber in das Feuer der Empfindung Wasser gießt. Sollte es dem Mahler nicht möglich seyn, mit den nothwendig zur Handlung gehörigen, oder doch zuläßigen Personen, dem Me- chanischen der Kunst genüge zu leisten, so lasse er lie- ber in dem Körperlichen des Gemähldes eine Unvoll- kommenheit zu, als in dem Geist und der innern Würkung. Bey vielen historischen Vorstellungen, die man auf Gemählden, auf geschnittenen Steinen und größerem Schnizwerk der Alten findet, ist man so sehr mit dem lebhaften Ausdruk dessen, was wir den Geist des Gemähldes nennen, beschäftiget, daß man das Fehlerhafte der Gruppirungen und andre Fehler, gegen das Mechanische der Kunst, würklich übersieht. Eben so wenig hat der Mahler nöthig der histo- Ein Mahler ohne Genie raft so viel körperliche anzu- (+) d. i. denen über Sicilien herrschenden Göttern, setzte Dion diesen Altar (++) II. I. vs. 567 d. i. (Sie hatte den Plute und die
[Spaltenumbruch] Proserpina beschwohren) daß sie ihren Sohn umbringen möchten; und sie erhörte in dem Erebus die im finstern herumirrende Erinnys. [Spaltenumbruch] Hiſ net den linken Arm auf einen kleinen voͤllig nach an-tiker Art gemachten Tiſch, auf welchem man eine (*) d. i. von den Syraku- ſern.von koſtbarem Stein geſchnittene Schaale ſieht, auf deren Grunde das Wort å#PAKOåIΩN (*) ein- gegraben iſt. Dieſes fuͤhret ſogleich auf den Gedan- ken, daß dieſer Mann einer der erſten Maͤnner in Syrakuſa ſeyn muͤſſe. Hinter ihm erbliket man auf einem praͤchtigen Poſtament zwey in Stein gehauene Bruſtbilder, davon das eine den ehemaligen Koͤnig Hieron, das andre den Philoſophen Plato vorſtellt. Daher entſteht die Vermuthung, daß dieſer Mann der Dion ſey. Betrachtet man die Handlung der Furie naͤher, ſo ſieht man an dem Altar, den ſie umſtuͤrzt. dieſe Aufſchrift: C#N☉PONOIC TOIC EN CIKEAI∆I ☉EOIC ∆IΩN ANE∆. (†) Dieſes macht uns voͤllig gewiß, daß wir hier den Dion in ſeinem Hauſe ſehen, und daß das ſchrekliche Geſicht abgebildet werde, das er kurz vor dem Tode ſeines Sohnes gehabt, deſſen Plutarchus in dem Leben des Dions Meldung thut. Zu den Fuͤßen des Dions liegt eine Tafel, auf wel- cher eine Stelle aus der Jlias zu leſen iſt. # Dieſes koͤnnte auf die Vermuthung fuͤhren, daß Dion So finden Kuͤnſtler von Genie und Kenntnis alle- Hiſ nen, durch deren Gegenwart die Scene nicht intreſ-ſanter wird, thun dem Gemaͤhld eben den Schaden, den ſie einer lebhaften Scene im Schauſpiele thun. Aber wenige Mahler haben dieſes genugſam uͤber- legt. Wenn ſie die Hauptperſonen hingeſtellt haben und finden, daß die Gruppen nicht voll, oder nicht zuſammenhangend genug ſind, wenn ſie etwa zur Haltung irgendwo gewiſſe Farben noͤthig haben, ſo ſtellen ſie gleich eine unnuͤtze Figur dahin, die zwar das Aug etwas befriediget, aber in das Feuer der Empfindung Waſſer gießt. Sollte es dem Mahler nicht moͤglich ſeyn, mit den nothwendig zur Handlung gehoͤrigen, oder doch zulaͤßigen Perſonen, dem Me- chaniſchen der Kunſt genuͤge zu leiſten, ſo laſſe er lie- ber in dem Koͤrperlichen des Gemaͤhldes eine Unvoll- kommenheit zu, als in dem Geiſt und der innern Wuͤrkung. Bey vielen hiſtoriſchen Vorſtellungen, die man auf Gemaͤhlden, auf geſchnittenen Steinen und groͤßerem Schnizwerk der Alten findet, iſt man ſo ſehr mit dem lebhaften Ausdruk deſſen, was wir den Geiſt des Gemaͤhldes nennen, beſchaͤftiget, daß man das Fehlerhafte der Gruppirungen und andre Fehler, gegen das Mechaniſche der Kunſt, wuͤrklich uͤberſieht. Eben ſo wenig hat der Mahler noͤthig der hiſto- Ein Mahler ohne Genie raft ſo viel koͤrperliche anzu- (†) d. i. denen uͤber Sicilien herrſchenden Goͤttern, ſetzte Dion dieſen Altar (††) II. I. vs. 567 d. i. (Sie hatte den Plute und die
[Spaltenumbruch] Proſerpina beſchwohren) daß ſie ihren Sohn umbringen moͤchten; und ſie erhoͤrte in dem Erebus die im finſtern herumirrende Erinnys. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0555" n="543"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Hiſ</hi></fw><lb/> net den linken Arm auf einen kleinen voͤllig nach an-<lb/> tiker Art gemachten Tiſch, auf welchem man eine<lb/><note place="left">(*) d. i.<lb/> von den<lb/><hi rendition="#g">Syraku-<lb/> ſern.</hi></note>von koſtbarem Stein geſchnittene Schaale ſieht, auf<lb/> deren Grunde das Wort <hi rendition="#aq">å#PAKOåIΩN</hi> (*) ein-<lb/> gegraben iſt. Dieſes fuͤhret ſogleich auf den Gedan-<lb/> ken, daß dieſer Mann einer der erſten Maͤnner in<lb/> Syrakuſa ſeyn muͤſſe. 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Hiſ
Hiſ
net den linken Arm auf einen kleinen voͤllig nach an-
tiker Art gemachten Tiſch, auf welchem man eine
von koſtbarem Stein geſchnittene Schaale ſieht, auf
deren Grunde das Wort å#PAKOåIΩN (*) ein-
gegraben iſt. Dieſes fuͤhret ſogleich auf den Gedan-
ken, daß dieſer Mann einer der erſten Maͤnner in
Syrakuſa ſeyn muͤſſe. Hinter ihm erbliket man auf
einem praͤchtigen Poſtament zwey in Stein gehauene
Bruſtbilder, davon das eine den ehemaligen Koͤnig
Hieron, das andre den Philoſophen Plato vorſtellt.
Daher entſteht die Vermuthung, daß dieſer Mann
der Dion ſey. Betrachtet man die Handlung der
Furie naͤher, ſo ſieht man an dem Altar, den ſie
umſtuͤrzt. dieſe Aufſchrift: C#N☉PONOIC
TOIC EN CIKEAI∆I ☉EOIC ∆IΩN
ANE∆. (†) Dieſes macht uns voͤllig gewiß,
daß wir hier den Dion in ſeinem Hauſe ſehen, und
daß das ſchrekliche Geſicht abgebildet werde, das er
kurz vor dem Tode ſeines Sohnes gehabt, deſſen
Plutarchus in dem Leben des Dions Meldung thut.
Zu den Fuͤßen des Dions liegt eine Tafel, auf wel-
cher eine Stelle aus der Jlias zu leſen iſt.
(*) d. i.
von den
Syraku-
ſern.
#
— — — (††)
Dieſes koͤnnte auf die Vermuthung fuͤhren, daß Dion
eben dieſe Stelle aus der Jlias geleſen, und daß
die ſchrekhafte Vorſtellung dieſer Sache ihm die Ein-
bildungskraft verwirrt und das Geſicht verurſachet
habe. Wenn aber dieſes die Abſicht des Kuͤnſtlers
geweſen iſt, ſo haͤtte er dieſe Stelle lieber auf das
Convolut, oder Buch, das Dion wuͤrklich noch in
der Hand hat, ſchreiben ſollen.
So finden Kuͤnſtler von Genie und Kenntnis alle-
mal Mittel, den Jnhalt, oder den eigentlichen Stoff
ihrer Gemaͤhlde dem Kenner verſtaͤndlich zu machen;
wiewol dieſes oft eine ſehr ſchweere Sach iſt. Hat
der Mahler alle dieſe Punkte berichtiget, ſo kann
er nun das, was die vollkommene Behandlung, ſei-
nes Stoffes betrift, in Ueberlegung nehmen. Hier
iſt nun das Wichtigſte, daß er, wie der dramatiſche
Dichter, Perſonen von beſtimmtem Charakter waͤhle,
die Antheil an der Handlung nehmen, und daß er
jede gerade in der Faßung, oder Leidenſchaft, die
ihr zukoͤmmt, vorzuſtellen wiſſe. Muͤßige Perſo-
nen, durch deren Gegenwart die Scene nicht intreſ-
ſanter wird, thun dem Gemaͤhld eben den Schaden,
den ſie einer lebhaften Scene im Schauſpiele thun.
Aber wenige Mahler haben dieſes genugſam uͤber-
legt. Wenn ſie die Hauptperſonen hingeſtellt haben
und finden, daß die Gruppen nicht voll, oder nicht
zuſammenhangend genug ſind, wenn ſie etwa zur
Haltung irgendwo gewiſſe Farben noͤthig haben, ſo
ſtellen ſie gleich eine unnuͤtze Figur dahin, die zwar
das Aug etwas befriediget, aber in das Feuer der
Empfindung Waſſer gießt. Sollte es dem Mahler
nicht moͤglich ſeyn, mit den nothwendig zur Handlung
gehoͤrigen, oder doch zulaͤßigen Perſonen, dem Me-
chaniſchen der Kunſt genuͤge zu leiſten, ſo laſſe er lie-
ber in dem Koͤrperlichen des Gemaͤhldes eine Unvoll-
kommenheit zu, als in dem Geiſt und der innern
Wuͤrkung. Bey vielen hiſtoriſchen Vorſtellungen,
die man auf Gemaͤhlden, auf geſchnittenen Steinen
und groͤßerem Schnizwerk der Alten findet, iſt man
ſo ſehr mit dem lebhaften Ausdruk deſſen, was wir
den Geiſt des Gemaͤhldes nennen, beſchaͤftiget, daß
man das Fehlerhafte der Gruppirungen und andre
Fehler, gegen das Mechaniſche der Kunſt, wuͤrklich
uͤberſieht.
Eben ſo wenig hat der Mahler noͤthig der hiſto-
riſchen Wahrheit zu gefallen unnoͤthige Perſonen zu-
zulaſſen. Er hat jedesmal einen genau beſtimmten
Geſichtspunkt, aus welchem er die Geſchichte, die
er mahlt, anſieht, und muß gerade nur ſo viel Per-
ſonen waͤhlen, als dazu noͤthig iſt, ohne ſich darum
zu bekuͤmmern, ob wuͤrklich bey der Handlung meh-
rere zugegen geweſen. So ſind z. B. bey der Creu-
zigung Chriſti viel tauſend Zuſchauer geweſen. Der
Mahler aber, der nun nicht die aͤuſſerlichen Um-
ſtaͤnde dieſer Handlung, ſondern nur eine gewiſſe
Wuͤrkung, die ein beſonderer Umſtand auf gewiſſe
Perſonen gehabt hat, uns will empfinden laſſen,
kann ohne Bedenken von der ungeheuren Menge der
Zuſchauer nur die, die ihm noͤthig ſind, vorſtellen.
Es wird ihn kein Verſtaͤndiger tadeln, als wenn es
unnatuͤrlich waͤre, daß er ſo wenig Perſonen auf die
Scene geſuͤhrt hat.
Ein Mahler ohne Genie raft ſo viel koͤrperliche
Materie zuſammen, als er nur kann, um das Aug
anzu-
(†) d. i. denen uͤber Sicilien herrſchenden Goͤttern, ſetzte
Dion dieſen Altar
(††) II. I. vs. 567 d. i. (Sie hatte den Plute und die
Proſerpina beſchwohren) daß ſie ihren Sohn umbringen
moͤchten; und ſie erhoͤrte in dem Erebus die im finſtern
herumirrende Erinnys.
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