Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Hir würdig, als sie seyn könnten. Dagegen konnte er,weil er nach einem Original zeichnete, das er vor sich hatte, eine Menge kleiner lebhafter Züge, und naiver Wendungen hineinbringen, die einem Dichter, der nur nach Phantasiebildern arbeitet, entwischen müssen. Es hat unter den Reuern ita- liänischen und französischen Dichtern viele gegeben, welche Gedichte unter dem Namen Jdillen gemacht haben: aber entweder thun sie nichts weiter, als daß sie den Virgil copieren, der selbst größtentheils ein freyer Uebersetzer des Theokrit ist, oder sie machen ihre Hirten zu spitzfündigen Stutzern und ihre Schä- ferinnen zu tiefsinnigen Meisterinnen in der platoni- schen Liebe, oder gar zu Dames du bel Air. Pope hat bey den Engländern in vier Jdillen den Virgil nachgeahmt. Die deutsche Nation hat den ersten wahren und glüklichen Nachahmer des Theokrit auf- zuweisen, der, ohne ihn auszuschreiben, oder in seine Fußstapfen ängstlich einzutreten, ihm darin gleichet, daß er die schöne Einfalt der Natur meisterlich ge- schildert hat. Es scheint, daß er den Theokrit, der sonst in nichts übertroffen werden konnte, darin übertroffen habe, daß er seine Hirten liebenswürdi- ger macht. Er, Geßner, ist ein eben so glüklicher Mahler der feinsten und naivsten Empfindungen, und zärtlichsten Affekte, als der sanften und lieblichen Scenen der Natur. Sein zarter Geschmak hat ihn eine Menge kleiner Schönheiten in derselben entde- ken gemacht, die seinen Gemählden alle Reitze der Neuheit geben, auch wenn gleich die Gegenstände die alltäglichsten sind. Er ist würklich in die Schäfer- welt, in das goldne Alter eingedrungen, und seine Jdillen würden vielleicht ganz vollkommen seyn, wenn er die Scene derselben nach Mesopotamien oder Chaldäa versetzt, und anstatt der ungereimten Viel- götterey der Griechen, seinen Hirten die natürliche Religion, mit einigem unschuldigen Aberglauben ver- mischt, gegeben hätte. Ein Jdillendichter muß vielmehr durch die Natur Hir und dergleichen, die freyen Würkungen der Na-tur hindert; daß sie von unsern schimärischen Gütern nur keine Jdeen haben müssen; daß sie nichts davon wissen sich der zärtlichen Empfindungen zu schämen, wodurch der Schöpfer die Menschen unter einander aufs engeste zuverbinden gesucht hat; mit einem Wort, daß sich in ihren Empfindungen, Sitten, Ge- wohnheiten und in ihrer ganzen Lebensart die nakte Natur ohne alle Kunst, Verstellung, Zwang oder andre Verderbniß zeigen muß; wenn er schon alle diese Regeln weiß, so wird er doch unfähig bleiben, seine Vorgänger nur zu erreichen, geschweige dann zu übertreffen, wenn ihn nicht sein eigner ungekün- stelter Charakter, und ein unverdorbner Geschmak und eine besondere Zärtlichkeit der Empfindungen die Anlage zu den Gemählden, die er schildern soll, in Sich selbst finden lassen." Diese Dichtungsart übertrifft alle andern an an- Aber ist es nicht eine Grausamkeit, den Menschen wie- Y y y 2
[Spaltenumbruch] Hir wuͤrdig, als ſie ſeyn koͤnnten. Dagegen konnte er,weil er nach einem Original zeichnete, das er vor ſich hatte, eine Menge kleiner lebhafter Zuͤge, und naiver Wendungen hineinbringen, die einem Dichter, der nur nach Phantaſiebildern arbeitet, entwiſchen muͤſſen. Es hat unter den Reuern ita- liaͤniſchen und franzoͤſiſchen Dichtern viele gegeben, welche Gedichte unter dem Namen Jdillen gemacht haben: aber entweder thun ſie nichts weiter, als daß ſie den Virgil copieren, der ſelbſt groͤßtentheils ein freyer Ueberſetzer des Theokrit iſt, oder ſie machen ihre Hirten zu ſpitzfuͤndigen Stutzern und ihre Schaͤ- ferinnen zu tiefſinnigen Meiſterinnen in der platoni- ſchen Liebe, oder gar zu Dames du bel Air. Pope hat bey den Englaͤndern in vier Jdillen den Virgil nachgeahmt. Die deutſche Nation hat den erſten wahren und gluͤklichen Nachahmer des Theokrit auf- zuweiſen, der, ohne ihn auszuſchreiben, oder in ſeine Fußſtapfen aͤngſtlich einzutreten, ihm darin gleichet, daß er die ſchoͤne Einfalt der Natur meiſterlich ge- ſchildert hat. Es ſcheint, daß er den Theokrit, der ſonſt in nichts uͤbertroffen werden konnte, darin uͤbertroffen habe, daß er ſeine Hirten liebenswuͤrdi- ger macht. Er, Geßner, iſt ein eben ſo gluͤklicher Mahler der feinſten und naivſten Empfindungen, und zaͤrtlichſten Affekte, als der ſanften und lieblichen Scenen der Natur. Sein zarter Geſchmak hat ihn eine Menge kleiner Schoͤnheiten in derſelben entde- ken gemacht, die ſeinen Gemaͤhlden alle Reitze der Neuheit geben, auch wenn gleich die Gegenſtaͤnde die alltaͤglichſten ſind. Er iſt wuͤrklich in die Schaͤfer- welt, in das goldne Alter eingedrungen, und ſeine Jdillen wuͤrden vielleicht ganz vollkommen ſeyn, wenn er die Scene derſelben nach Meſopotamien oder Chaldaͤa verſetzt, und anſtatt der ungereimten Viel- goͤtterey der Griechen, ſeinen Hirten die natuͤrliche Religion, mit einigem unſchuldigen Aberglauben ver- miſcht, gegeben haͤtte. Ein Jdillendichter muß vielmehr durch die Natur Hir und dergleichen, die freyen Wuͤrkungen der Na-tur hindert; daß ſie von unſern ſchimaͤriſchen Guͤtern nur keine Jdeen haben muͤſſen; daß ſie nichts davon wiſſen ſich der zaͤrtlichen Empfindungen zu ſchaͤmen, wodurch der Schoͤpfer die Menſchen unter einander aufs engeſte zuverbinden geſucht hat; mit einem Wort, daß ſich in ihren Empfindungen, Sitten, Ge- wohnheiten und in ihrer ganzen Lebensart die nakte Natur ohne alle Kunſt, Verſtellung, Zwang oder andre Verderbniß zeigen muß; wenn er ſchon alle dieſe Regeln weiß, ſo wird er doch unfaͤhig bleiben, ſeine Vorgaͤnger nur zu erreichen, geſchweige dann zu uͤbertreffen, wenn ihn nicht ſein eigner ungekuͤn- ſtelter Charakter, und ein unverdorbner Geſchmak und eine beſondere Zaͤrtlichkeit der Empfindungen die Anlage zu den Gemaͤhlden, die er ſchildern ſoll, in Sich ſelbſt finden laſſen.‟ Dieſe Dichtungsart uͤbertrifft alle andern an an- Aber iſt es nicht eine Grauſamkeit, den Menſchen wie- Y y y 2
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0551" n="539"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Hir</hi></fw><lb/> wuͤrdig, als ſie ſeyn koͤnnten. Dagegen konnte er,<lb/> weil er nach einem Original zeichnete, das er vor<lb/> ſich hatte, eine Menge kleiner lebhafter Zuͤge,<lb/> und naiver Wendungen hineinbringen, die einem<lb/> Dichter, der nur nach Phantaſiebildern arbeitet,<lb/> entwiſchen muͤſſen. Es hat unter den Reuern ita-<lb/> liaͤniſchen und franzoͤſiſchen Dichtern viele gegeben,<lb/> welche Gedichte unter dem Namen Jdillen gemacht<lb/> haben: aber entweder thun ſie nichts weiter, als daß<lb/> ſie den Virgil copieren, der ſelbſt groͤßtentheils ein<lb/> freyer Ueberſetzer des Theokrit iſt, oder ſie machen<lb/> ihre Hirten zu ſpitzfuͤndigen Stutzern und ihre Schaͤ-<lb/> ferinnen zu tiefſinnigen Meiſterinnen in der platoni-<lb/> ſchen Liebe, oder gar zu <hi rendition="#aq">Dames du bel Air.</hi> Pope<lb/> hat bey den Englaͤndern in vier Jdillen den Virgil<lb/> nachgeahmt. Die deutſche Nation hat den erſten<lb/> wahren und gluͤklichen Nachahmer des Theokrit auf-<lb/> zuweiſen, der, ohne ihn auszuſchreiben, oder in ſeine<lb/> Fußſtapfen aͤngſtlich einzutreten, ihm darin gleichet,<lb/> daß er die ſchoͤne Einfalt der Natur meiſterlich ge-<lb/> ſchildert hat. Es ſcheint, daß er den Theokrit, der<lb/> ſonſt in nichts uͤbertroffen werden konnte, darin<lb/> uͤbertroffen habe, daß er ſeine Hirten liebenswuͤrdi-<lb/> ger macht. Er, Geßner, iſt ein eben ſo gluͤklicher<lb/> Mahler der feinſten und naivſten Empfindungen, und<lb/> zaͤrtlichſten Affekte, als der ſanften und lieblichen<lb/> Scenen der Natur. Sein zarter Geſchmak hat ihn<lb/> eine Menge kleiner Schoͤnheiten in derſelben entde-<lb/> ken gemacht, die ſeinen Gemaͤhlden alle Reitze der<lb/> Neuheit geben, auch wenn gleich die Gegenſtaͤnde die<lb/> alltaͤglichſten ſind. Er iſt wuͤrklich in die Schaͤfer-<lb/> welt, in das goldne Alter eingedrungen, und ſeine<lb/> Jdillen wuͤrden vielleicht ganz vollkommen ſeyn, wenn<lb/> er die Scene derſelben nach Meſopotamien oder<lb/> Chaldaͤa verſetzt, und anſtatt der ungereimten Viel-<lb/> goͤtterey der Griechen, ſeinen Hirten die natuͤrliche<lb/> Religion, mit einigem unſchuldigen Aberglauben ver-<lb/> miſcht, gegeben haͤtte.</p><lb/> <p>Ein Jdillendichter muß vielmehr durch die Natur<lb/> und durch ſolche Muſter als durch beſondere Regeln<lb/> gebildet werden. Er muß freylich die Natur dieſer<lb/> Art von Gedichte, ſo wie ſie oben von uns angege-<lb/> ben worden, kennen; aber es wird ihm nichts hel-<lb/> fen, wenn er ſchon weiß, daß Jdillen Gemaͤhlde aus<lb/> der unverdorbnen Natur ſind, daß die Sitten und<lb/> Empfindungen der Hirten von allem gereiniget ſeyn<lb/> muͤſſen, was bey policierten Voͤlkern unter den Na-<lb/> men der Gebraͤuche, des Wohlſtands, der Politeſſe<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Hir</hi></fw><lb/> und dergleichen, die freyen Wuͤrkungen der Na-<lb/> tur hindert; daß ſie von unſern ſchimaͤriſchen Guͤtern<lb/> nur keine Jdeen haben muͤſſen; daß ſie nichts davon<lb/> wiſſen ſich der zaͤrtlichen Empfindungen zu ſchaͤmen,<lb/> wodurch der Schoͤpfer die Menſchen unter einander<lb/> aufs engeſte zuverbinden geſucht hat; mit einem<lb/> Wort, daß ſich in ihren Empfindungen, Sitten, Ge-<lb/> wohnheiten und in ihrer ganzen Lebensart die nakte<lb/> Natur ohne alle Kunſt, Verſtellung, Zwang oder<lb/> andre Verderbniß zeigen muß; wenn er ſchon alle<lb/> dieſe Regeln weiß, ſo wird er doch unfaͤhig bleiben,<lb/> ſeine Vorgaͤnger nur zu erreichen, geſchweige dann<lb/> zu uͤbertreffen, wenn ihn nicht ſein eigner ungekuͤn-<lb/> ſtelter Charakter, und ein unverdorbner Geſchmak<lb/> und eine beſondere Zaͤrtlichkeit der Empfindungen die<lb/> Anlage zu den Gemaͤhlden, die er ſchildern ſoll, in<lb/> Sich ſelbſt finden laſſen.‟</p><lb/> <p>Dieſe Dichtungsart uͤbertrifft alle andern an an-<lb/> genehmen und ſanften Gegenſtaͤnden. Was in der<lb/> lebloſen, in der thieriſchen und ſittlichen Natur den<lb/> meiſten Reitz hat, iſt gerade der Gegenſtand der<lb/> Hirtengedichte. Wer gluͤkliche Laͤnder kennt, wo<lb/> ein ſanftes Clima und eine Mannigfaltigkeit von<lb/> abwechſelnden Gegenden, alle Reitze der Natur in<lb/> vollem Reichthum verbreitet; wo ein freyes, durch<lb/> unnatuͤrliche Geſetze nicht verdorbenes Volk, das<lb/> blos die wenigen Beduͤrfniſſe der Natur kennt, zer-<lb/> ſtreut, ein harmloſes und unſchuldiges Leben fuͤhret;<lb/> der weiß, was fuͤr Erquikung die Seele genießt, wenn<lb/> man von Zeit zu Zeit das, durch ſo manchen Zwang<lb/> muͤheſam gewordene, Leben der buͤrgerlichen Welt<lb/> verlaſſen, und einige Tage unter ſolchen Schuͤlern der<lb/> Natur, wie Haller ſie nennt, zubringen kann. Jn<lb/> ſolche Gegenden und unter ein ſolches Volk verſetzt<lb/> uns der Hirtendichter, dadurch verſchaft er uns viel<lb/> ſeelige Stunden des ſanfteſten und unſchuldigſten<lb/> Vergnuͤgens; er lehret uns Gemuͤther kennen, und<lb/> macht uns mit Sitten bekannt, die uns den Men-<lb/> ſchen in der liebenswuͤrdigen Einfalt der Natur zei-<lb/> gen. Da lernt man fuͤhlen, wie wenig zum gluͤk-<lb/> lichen Leben noͤthig iſt. Was Roußeau mit ſeiner<lb/> bezaubernden Beredſamkeit nicht ausrichten konnte,<lb/> die Welt zu uͤberzeugen, daß der Menſch durch uͤbel-<lb/> ausgedachte, unnatuͤrliche Geſetze, laſterhaft und un-<lb/> gluͤklich werde, das kann der Hirtendichter uns em-<lb/> pfinden laſſen.</p><lb/> <p>Aber iſt es nicht eine Grauſamkeit, den Menſchen<lb/> eine Lebensart und eine Gluͤkſeeligkeit, die ſie un-<lb/> <fw place="bottom" type="sig">Y y y 2</fw><fw place="bottom" type="catch">wie-</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [539/0551]
Hir
Hir
wuͤrdig, als ſie ſeyn koͤnnten. Dagegen konnte er,
weil er nach einem Original zeichnete, das er vor
ſich hatte, eine Menge kleiner lebhafter Zuͤge,
und naiver Wendungen hineinbringen, die einem
Dichter, der nur nach Phantaſiebildern arbeitet,
entwiſchen muͤſſen. Es hat unter den Reuern ita-
liaͤniſchen und franzoͤſiſchen Dichtern viele gegeben,
welche Gedichte unter dem Namen Jdillen gemacht
haben: aber entweder thun ſie nichts weiter, als daß
ſie den Virgil copieren, der ſelbſt groͤßtentheils ein
freyer Ueberſetzer des Theokrit iſt, oder ſie machen
ihre Hirten zu ſpitzfuͤndigen Stutzern und ihre Schaͤ-
ferinnen zu tiefſinnigen Meiſterinnen in der platoni-
ſchen Liebe, oder gar zu Dames du bel Air. Pope
hat bey den Englaͤndern in vier Jdillen den Virgil
nachgeahmt. Die deutſche Nation hat den erſten
wahren und gluͤklichen Nachahmer des Theokrit auf-
zuweiſen, der, ohne ihn auszuſchreiben, oder in ſeine
Fußſtapfen aͤngſtlich einzutreten, ihm darin gleichet,
daß er die ſchoͤne Einfalt der Natur meiſterlich ge-
ſchildert hat. Es ſcheint, daß er den Theokrit, der
ſonſt in nichts uͤbertroffen werden konnte, darin
uͤbertroffen habe, daß er ſeine Hirten liebenswuͤrdi-
ger macht. Er, Geßner, iſt ein eben ſo gluͤklicher
Mahler der feinſten und naivſten Empfindungen, und
zaͤrtlichſten Affekte, als der ſanften und lieblichen
Scenen der Natur. Sein zarter Geſchmak hat ihn
eine Menge kleiner Schoͤnheiten in derſelben entde-
ken gemacht, die ſeinen Gemaͤhlden alle Reitze der
Neuheit geben, auch wenn gleich die Gegenſtaͤnde die
alltaͤglichſten ſind. Er iſt wuͤrklich in die Schaͤfer-
welt, in das goldne Alter eingedrungen, und ſeine
Jdillen wuͤrden vielleicht ganz vollkommen ſeyn, wenn
er die Scene derſelben nach Meſopotamien oder
Chaldaͤa verſetzt, und anſtatt der ungereimten Viel-
goͤtterey der Griechen, ſeinen Hirten die natuͤrliche
Religion, mit einigem unſchuldigen Aberglauben ver-
miſcht, gegeben haͤtte.
Ein Jdillendichter muß vielmehr durch die Natur
und durch ſolche Muſter als durch beſondere Regeln
gebildet werden. Er muß freylich die Natur dieſer
Art von Gedichte, ſo wie ſie oben von uns angege-
ben worden, kennen; aber es wird ihm nichts hel-
fen, wenn er ſchon weiß, daß Jdillen Gemaͤhlde aus
der unverdorbnen Natur ſind, daß die Sitten und
Empfindungen der Hirten von allem gereiniget ſeyn
muͤſſen, was bey policierten Voͤlkern unter den Na-
men der Gebraͤuche, des Wohlſtands, der Politeſſe
und dergleichen, die freyen Wuͤrkungen der Na-
tur hindert; daß ſie von unſern ſchimaͤriſchen Guͤtern
nur keine Jdeen haben muͤſſen; daß ſie nichts davon
wiſſen ſich der zaͤrtlichen Empfindungen zu ſchaͤmen,
wodurch der Schoͤpfer die Menſchen unter einander
aufs engeſte zuverbinden geſucht hat; mit einem
Wort, daß ſich in ihren Empfindungen, Sitten, Ge-
wohnheiten und in ihrer ganzen Lebensart die nakte
Natur ohne alle Kunſt, Verſtellung, Zwang oder
andre Verderbniß zeigen muß; wenn er ſchon alle
dieſe Regeln weiß, ſo wird er doch unfaͤhig bleiben,
ſeine Vorgaͤnger nur zu erreichen, geſchweige dann
zu uͤbertreffen, wenn ihn nicht ſein eigner ungekuͤn-
ſtelter Charakter, und ein unverdorbner Geſchmak
und eine beſondere Zaͤrtlichkeit der Empfindungen die
Anlage zu den Gemaͤhlden, die er ſchildern ſoll, in
Sich ſelbſt finden laſſen.‟
Dieſe Dichtungsart uͤbertrifft alle andern an an-
genehmen und ſanften Gegenſtaͤnden. Was in der
lebloſen, in der thieriſchen und ſittlichen Natur den
meiſten Reitz hat, iſt gerade der Gegenſtand der
Hirtengedichte. Wer gluͤkliche Laͤnder kennt, wo
ein ſanftes Clima und eine Mannigfaltigkeit von
abwechſelnden Gegenden, alle Reitze der Natur in
vollem Reichthum verbreitet; wo ein freyes, durch
unnatuͤrliche Geſetze nicht verdorbenes Volk, das
blos die wenigen Beduͤrfniſſe der Natur kennt, zer-
ſtreut, ein harmloſes und unſchuldiges Leben fuͤhret;
der weiß, was fuͤr Erquikung die Seele genießt, wenn
man von Zeit zu Zeit das, durch ſo manchen Zwang
muͤheſam gewordene, Leben der buͤrgerlichen Welt
verlaſſen, und einige Tage unter ſolchen Schuͤlern der
Natur, wie Haller ſie nennt, zubringen kann. Jn
ſolche Gegenden und unter ein ſolches Volk verſetzt
uns der Hirtendichter, dadurch verſchaft er uns viel
ſeelige Stunden des ſanfteſten und unſchuldigſten
Vergnuͤgens; er lehret uns Gemuͤther kennen, und
macht uns mit Sitten bekannt, die uns den Men-
ſchen in der liebenswuͤrdigen Einfalt der Natur zei-
gen. Da lernt man fuͤhlen, wie wenig zum gluͤk-
lichen Leben noͤthig iſt. Was Roußeau mit ſeiner
bezaubernden Beredſamkeit nicht ausrichten konnte,
die Welt zu uͤberzeugen, daß der Menſch durch uͤbel-
ausgedachte, unnatuͤrliche Geſetze, laſterhaft und un-
gluͤklich werde, das kann der Hirtendichter uns em-
pfinden laſſen.
Aber iſt es nicht eine Grauſamkeit, den Menſchen
eine Lebensart und eine Gluͤkſeeligkeit, die ſie un-
wie-
Y y y 2
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |