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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Her
und die Bewegungen unsers eigenen Herzens zu len-
ken und zu berichtigen, könnte besser seyn, als die
diese Dichtungsart anbiethet? Sie ist nicht nur einer
ungemein viel größern Mannigfaltigkeit, sondern auch
einer sehr viel vollkommneren Bearbeitung fähig,
als der Erfinder darin angebracht hat. Die Heroi-
den des Ovidius sind blos verliebt, und zu sehr in
einerley Ton und Charakter, und er hat, nach sei-
ner gewöhnlichen Art, auch da zu viel gespielt. Un-
ter den Neuern haben die Engländer diese Dichtungs-
art wieder aufgebracht, und Pope hat in seiner He-
roide, Heloise an Abelard, ein so vollkommenes und
so reizendes Muster dieser Gattung gegeben, daß es
einen allgemeinen Geschmak an solchen Gedichten
hätte hervorbringen sollen.

Seit kurzem haben sich einige französische Dichter
so sehr in diese Dichtungsart verliebet, daß man be-
reits eine große Menge französischer Heroiden sieht,
und leicht vorzusehen ist, daß in kurzem ein Miß-
brauch davon werde gemacht werden. Die Deut-
schen scheinet diese Gattung weniger gerührt zu ha-
ben; wir haben nur einige schwüllstige Versuche
hierin. Doch kann man einigermaaßen Wielands
Briefe der Verstorbenen hieher rechnen. Also ist hier
noch Ruhm zu erwerben.

Heroisch.
(Schöne Künste.)

Fast alle Völker stehen in der Einbildung, daß die-
jenigen Menschen, die sie, als die Stifter ihres
Staates ansehen, oder überhaupt die, deren Leben
in das hohe Alterthum fällt, von höhern Leibes-
und Gemüthskräften gewesen, als ihre späthere
Nachkömmlinge. Darum hat jedes Volk seine Hel-
denzeit, wie die Griechen die ihrige gehabt haben.
Wenn Homer von dem Diomedes sagt, er habe
gegen den Aeneas einen Stein geschleudert, den
zwey Menschen, wie sie zu des Dichters Zeit waren,
(*) II. #.
303.
nicht zu tragen vermöchten, (*) so spricht er aus
einem Wahn, der allen Völkern gemein ist. Diese
stärkere Menschen sind die Helden, und die Thaten,
wozu sie ihre höhere Kräfte nöthig hatten, werden
heroische Thaten genennt.

Da es dem Menschen so natürlich ist zu glauben,
daß es größere Menschen gegeben habe, als sie zu
seiner Zeit sind, und da er ein natürliches Wolge-
fallen an heroischen Thaten und an heroischer Ge-
müthsart hat, so müssen sich die Künstler dieses vor-
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Her
theilhaften Wahnes bedienen, die Gemüther durch
Abschilderung derselben zu erhöhen. Dieses geschieht
am natürlichsten, wenn der Stoff zu dem Werk
aus dem Alterthum genommen wird. Je höher
man darin herauf steigen kann, je größer kann
man die Menschen vorstellen, ohne unwahrschein-
lich zu werden.

Die meisten Werke der griechischen Mahler und
Bildhauer, die meisten Trauerspiele der Griechen,
waren aus den heroischen Zeiten genommen. Und
es kann nicht anders, als vortheilhaft seyn, wenn
man die Menschen in dem Wahn bestärkt, daß es
ehedem größere Menschen gegeben habe. Aber der
Künstler, der einen heroischen Stoff wählet, legt
sich eine große Last auf. Wenn er nicht im Stand
ist seine Vorstellungen und sein ganzes Gemüth über
die gewöhnliche Größe zu erheben, so thut ihm sein
heroischer Stoff Schaden. Nur der därf sich in
dieses Feld wagen, der mit Gewißheit empfindet,
daß er sich weit über die Denkungsart seiner Zeit er-
heben könne. Davon kann er sich nicht überzeugen,
wenn er nicht die Welt, darin er lebt, völlig kennt;
wenn er nicht bey den Handlungen und Gesinnun-
gen, die die Menschen äußern, immer empfindet,
daß sie unter dem sind, was er selbst in gleichen
Umständen würde gethan oder empfunden haben.
Er muß ein scharfsinniger Späher der Menschen
seyn; muß die wichtigsten Männer seiner Nation
kennen und übersehen; er muß Gelegenheit gehabt
haben die Grundsätze, wonach sie handeln, genau
zu erkennen; er muß sich in ihre Seelen hineinsetzen
können, um zu fühlen, was sie fühlen. Wenn er
sich alsdenn getraut, sich über sie zu erheben, so mag
er seine Kräfte an einem heroischen Stoff versuchen.
Aber wehe dem, der ohne dieses innige sichere Ge-
fühl seiner eigenen Größe sich einbildet, man könne
die menschliche Größe durch Zusammenhäufen oder
Erweitern über ihr Maaß erheben, wie man etwa
körperliche Dinge größer macht. Nicht die unbe-
gränzte Einbildungskraft, sondern die ungewöhnli-
che Stärke des Verstandes und des Herzens, sind
die Mittel sich zum heroischen Stoff zu erheben.

Das Heroische besteht aber nicht blos in kriegeri-
schen Thaten, oder in Ausführung kühner Unter-
nehmungen; es giebt auch stille heroische Tugenden.
Alles, wozu eine außerordentliche Stärke des Gei-
stes, eine ungewöhnliche Kraft des Gemüths erfo-
dert wird, ist heroisch. Der Abschied, den Noah

von

[Spaltenumbruch]

Her
und die Bewegungen unſers eigenen Herzens zu len-
ken und zu berichtigen, koͤnnte beſſer ſeyn, als die
dieſe Dichtungsart anbiethet? Sie iſt nicht nur einer
ungemein viel groͤßern Mannigfaltigkeit, ſondern auch
einer ſehr viel vollkommneren Bearbeitung faͤhig,
als der Erfinder darin angebracht hat. Die Heroi-
den des Ovidius ſind blos verliebt, und zu ſehr in
einerley Ton und Charakter, und er hat, nach ſei-
ner gewoͤhnlichen Art, auch da zu viel geſpielt. Un-
ter den Neuern haben die Englaͤnder dieſe Dichtungs-
art wieder aufgebracht, und Pope hat in ſeiner He-
roide, Heloiſe an Abelard, ein ſo vollkommenes und
ſo reizendes Muſter dieſer Gattung gegeben, daß es
einen allgemeinen Geſchmak an ſolchen Gedichten
haͤtte hervorbringen ſollen.

Seit kurzem haben ſich einige franzoͤſiſche Dichter
ſo ſehr in dieſe Dichtungsart verliebet, daß man be-
reits eine große Menge franzoͤſiſcher Heroiden ſieht,
und leicht vorzuſehen iſt, daß in kurzem ein Miß-
brauch davon werde gemacht werden. Die Deut-
ſchen ſcheinet dieſe Gattung weniger geruͤhrt zu ha-
ben; wir haben nur einige ſchwuͤllſtige Verſuche
hierin. Doch kann man einigermaaßen Wielands
Briefe der Verſtorbenen hieher rechnen. Alſo iſt hier
noch Ruhm zu erwerben.

Heroiſch.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Faſt alle Voͤlker ſtehen in der Einbildung, daß die-
jenigen Menſchen, die ſie, als die Stifter ihres
Staates anſehen, oder uͤberhaupt die, deren Leben
in das hohe Alterthum faͤllt, von hoͤhern Leibes-
und Gemuͤthskraͤften geweſen, als ihre ſpaͤthere
Nachkoͤmmlinge. Darum hat jedes Volk ſeine Hel-
denzeit, wie die Griechen die ihrige gehabt haben.
Wenn Homer von dem Diomedes ſagt, er habe
gegen den Aeneas einen Stein geſchleudert, den
zwey Menſchen, wie ſie zu des Dichters Zeit waren,
(*) II. #.
303.
nicht zu tragen vermoͤchten, (*) ſo ſpricht er aus
einem Wahn, der allen Voͤlkern gemein iſt. Dieſe
ſtaͤrkere Menſchen ſind die Helden, und die Thaten,
wozu ſie ihre hoͤhere Kraͤfte noͤthig hatten, werden
heroiſche Thaten genennt.

Da es dem Menſchen ſo natuͤrlich iſt zu glauben,
daß es groͤßere Menſchen gegeben habe, als ſie zu
ſeiner Zeit ſind, und da er ein natuͤrliches Wolge-
fallen an heroiſchen Thaten und an heroiſcher Ge-
muͤthsart hat, ſo muͤſſen ſich die Kuͤnſtler dieſes vor-
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Her
theilhaften Wahnes bedienen, die Gemuͤther durch
Abſchilderung derſelben zu erhoͤhen. Dieſes geſchieht
am natuͤrlichſten, wenn der Stoff zu dem Werk
aus dem Alterthum genommen wird. Je hoͤher
man darin herauf ſteigen kann, je groͤßer kann
man die Menſchen vorſtellen, ohne unwahrſchein-
lich zu werden.

Die meiſten Werke der griechiſchen Mahler und
Bildhauer, die meiſten Trauerſpiele der Griechen,
waren aus den heroiſchen Zeiten genommen. Und
es kann nicht anders, als vortheilhaft ſeyn, wenn
man die Menſchen in dem Wahn beſtaͤrkt, daß es
ehedem groͤßere Menſchen gegeben habe. Aber der
Kuͤnſtler, der einen heroiſchen Stoff waͤhlet, legt
ſich eine große Laſt auf. Wenn er nicht im Stand
iſt ſeine Vorſtellungen und ſein ganzes Gemuͤth uͤber
die gewoͤhnliche Groͤße zu erheben, ſo thut ihm ſein
heroiſcher Stoff Schaden. Nur der daͤrf ſich in
dieſes Feld wagen, der mit Gewißheit empfindet,
daß er ſich weit uͤber die Denkungsart ſeiner Zeit er-
heben koͤnne. Davon kann er ſich nicht uͤberzeugen,
wenn er nicht die Welt, darin er lebt, voͤllig kennt;
wenn er nicht bey den Handlungen und Geſinnun-
gen, die die Menſchen aͤußern, immer empfindet,
daß ſie unter dem ſind, was er ſelbſt in gleichen
Umſtaͤnden wuͤrde gethan oder empfunden haben.
Er muß ein ſcharfſinniger Spaͤher der Menſchen
ſeyn; muß die wichtigſten Maͤnner ſeiner Nation
kennen und uͤberſehen; er muß Gelegenheit gehabt
haben die Grundſaͤtze, wonach ſie handeln, genau
zu erkennen; er muß ſich in ihre Seelen hineinſetzen
koͤnnen, um zu fuͤhlen, was ſie fuͤhlen. Wenn er
ſich alsdenn getraut, ſich uͤber ſie zu erheben, ſo mag
er ſeine Kraͤfte an einem heroiſchen Stoff verſuchen.
Aber wehe dem, der ohne dieſes innige ſichere Ge-
fuͤhl ſeiner eigenen Groͤße ſich einbildet, man koͤnne
die menſchliche Groͤße durch Zuſammenhaͤufen oder
Erweitern uͤber ihr Maaß erheben, wie man etwa
koͤrperliche Dinge groͤßer macht. Nicht die unbe-
graͤnzte Einbildungskraft, ſondern die ungewoͤhnli-
che Staͤrke des Verſtandes und des Herzens, ſind
die Mittel ſich zum heroiſchen Stoff zu erheben.

Das Heroiſche beſteht aber nicht blos in kriegeri-
ſchen Thaten, oder in Ausfuͤhrung kuͤhner Unter-
nehmungen; es giebt auch ſtille heroiſche Tugenden.
Alles, wozu eine außerordentliche Staͤrke des Gei-
ſtes, eine ungewoͤhnliche Kraft des Gemuͤths erfo-
dert wird, iſt heroiſch. Der Abſchied, den Noah

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 535. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/547>, abgerufen am 22.11.2024.