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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Hel Her

Seltsam, aber vollkommen richtig, ist die Beob-
achtung des oben erwähnten Kunstrichters, daß selbst
der Kupferstecher, der doch zur Haltung und Har-
monie nichts, als Licht und Schatten zu haben schei-
net, aus dem Helldunkeln Vortheile ziehen könne.
Er hat angemerket, daß die Kupferstecher, die unter
der Aufsicht des Rubens gearbeitet haben, dieses zu-
(*) S. Ha-
gedorn Au-
merk. S.
651.
erst erreicht haben, (*) und daß mit diesen Meister-
stüken des Grabstichels ein neuer Zeitraum der Kunst
anfange. Gegenwärtig scheinet es bisweilen, daß
der Grabstichel in der Kunst des Helldunkeln sich
mit dem Pinsel selbst in einen Wettstreit einzulassen
getraute. Die Mittel, wie der Grabstichel durch
die Verschiedenheit der Behandlung, die hellen und
dunkeln, strengen und sanften Localfarben ausdrükt,
verdieneten wol von den Meistern der Kunst be-
sonders entwikelt zu werden; denn der feineste Ken-
ner oder Kunstrichter wird, durch das bloße Stu-
diren der besten Werke, sie niemal deutlich genug
entdeken.

Heroide.
(Dichtkunst.)

Ein kleines affektvolles Gedicht im Tone der Elegie
und in Form eines Schreibens an eine Person, gegen
welche man, ohne alle Zurükhaltung, ein gerührtes
Herz ausschüttet. Man hat diese Dichtungsart dem
Ovidius zu danken, der ohne Zweifel, wegen der
bewundrungswürdigen Leichtigkeit, die er hatte, jede
sanfte Empfindung durch einen Strohm verschiedener
Aeußerungen zu schildern, auf den Einfall gekom-
men ist, den berühmtesten Personen aus den heroi-
schen oder Heldenzeiten Schreiben anzudichten, die
mit verliebten Klagen angefüllt sind. Die Penelope
schreibet an ihren Ulysses, und giebt ihm ihr zärtli-
ches Verlangen nach seiner Zurükkunft, ihre ängst-
liche Besorgnis wegen seines langen Ausbleibens,
und was sie von ihren Freyern auszustehen hat,
mit voller Rührung zu erkennen.

"Es ist kein geringes Verdienst an dem Ovidius,
(sagt ein sehr scharfsinniger englischer Kunstrichter [Spaltenumbruch] (+))
daß er die schöne Methode erfunden hat, unter er-
dichteten Charaktern Briefe zu schreiben. Es ist
eine große Verbesserung der griechischen Elegie, über
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Her
welche die dramatische Natur jener Schreibart einen
ungemeinen Vorzug erhielt. Eigentlich ist die Ele-
gie nichts, als ein affektvolles Selbstgespräch, worin
das Herz der Betrübnis und den Rührungen, davon
es erfüllt ist, Luft schaffet: wird dieses Gespräch
aber an eine bestimmte (wir setzen hinzu, an eine aus
der Geschichte bekannte und berühmte) Person gerich-
tet, so erhält es einen gewissen Grad der Schiklich-
keit, (des Jntresse), daran es auch dem aufs beste aus-
geführten Selbstgespräch in einem Trauerspiel, alle-
zeit fehlen muß. Unsre Ungeduld bey einem drü-
kenden Schmerz, oder bey einer Gemüthsunruh
(auch bey einer von Zärtlichkeit herrührenden Freude)
macht es sehr natürlich, daß man sich gegen diejeni-
gen Personen voll Affekt beschweret, von denen man
glaubt, daß sie uns solche Unruhen verursachet ha-
ben, (oder daß man seine innige Freude, mit denen,
die man liebet, zu theilen sucht.) Man beweißt
aber hiebey vornehmlich seine scharfsinnige Beurthei-
lungskraft, wenn man die vorhabende Klage (oder
Ausgießung der Empfindung) gerade mit einem sol-
chen Zeitpunkt eröffnet, welcher zu den zärtlichsten
Empfindungen und zu den plötzlichsten und lebhaf-
testen Ausbrüchen der Leidenschaft Gelegenheit giebt."

Wir haben diese etwas lange Stelle, mit Einschal-
tung einiger Begriffe, hier ganz hergesetzt, weil darin
der eigentliche Gesichtspunkt, aus welchem man diese
Dichtungsart beurtheilen muß, sehr genau bestimmt
wird. Es ist eine Hauptsache, daß der Dichter Perso-
nen wähle, die uns aus der Geschichte hinlänglich be-
kannt sind, und für die wir uns intressiren, und daß
er sie in ganz intressante Umstände setze. Durch das er-
stere gewinnt er den Vortheil, daß er die wichtigsten
Umstände über ihre Personen und ihre Geschichte
blos anzeigen, und schon durch kleine Winke die Vor-
stellungen auf die Dinge lenken kann, die man noth-
wendig wissen muß, um alles recht zu fühlen; und
durch das andere gewinnt er zum voraus unsre gan-
ze Aufmerksamkeit. Es ist unstreitig eine der ver-
gnügtesten und anmuthsvollesten Gemüthsbeschäfti-
gungen, sich bekannte und intressante Personen in
Umständen vorzustellen, die das Jnnerste ihres Her-
zens durch mancherley Vorstellungen aufrühren.
Und welche Gelegenheit uns Empfindung zu lehren,

und
(+) Versuche über Popens Genie und Schriften.
VI Abschnitt. Eine Uebersetzung dieser vortrefflichen
Schrift ist in dem VI Theile der Sammlung vermischter
[Spaltenumbruch] Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften und
freyen Künste, die in Berlin bey Nicolai herausgekom-
men ist, zu finden.
[Spaltenumbruch]
Hel Her

Seltſam, aber vollkommen richtig, iſt die Beob-
achtung des oben erwaͤhnten Kunſtrichters, daß ſelbſt
der Kupferſtecher, der doch zur Haltung und Har-
monie nichts, als Licht und Schatten zu haben ſchei-
net, aus dem Helldunkeln Vortheile ziehen koͤnne.
Er hat angemerket, daß die Kupferſtecher, die unter
der Aufſicht des Rubens gearbeitet haben, dieſes zu-
(*) S. Ha-
gedorn Au-
merk. S.
651.
erſt erreicht haben, (*) und daß mit dieſen Meiſter-
ſtuͤken des Grabſtichels ein neuer Zeitraum der Kunſt
anfange. Gegenwaͤrtig ſcheinet es bisweilen, daß
der Grabſtichel in der Kunſt des Helldunkeln ſich
mit dem Pinſel ſelbſt in einen Wettſtreit einzulaſſen
getraute. Die Mittel, wie der Grabſtichel durch
die Verſchiedenheit der Behandlung, die hellen und
dunkeln, ſtrengen und ſanften Localfarben ausdruͤkt,
verdieneten wol von den Meiſtern der Kunſt be-
ſonders entwikelt zu werden; denn der feineſte Ken-
ner oder Kunſtrichter wird, durch das bloße Stu-
diren der beſten Werke, ſie niemal deutlich genug
entdeken.

Heroide.
(Dichtkunſt.)

Ein kleines affektvolles Gedicht im Tone der Elegie
und in Form eines Schreibens an eine Perſon, gegen
welche man, ohne alle Zuruͤkhaltung, ein geruͤhrtes
Herz ausſchuͤttet. Man hat dieſe Dichtungsart dem
Ovidius zu danken, der ohne Zweifel, wegen der
bewundrungswuͤrdigen Leichtigkeit, die er hatte, jede
ſanfte Empfindung durch einen Strohm verſchiedener
Aeußerungen zu ſchildern, auf den Einfall gekom-
men iſt, den beruͤhmteſten Perſonen aus den heroi-
ſchen oder Heldenzeiten Schreiben anzudichten, die
mit verliebten Klagen angefuͤllt ſind. Die Penelope
ſchreibet an ihren Ulyſſes, und giebt ihm ihr zaͤrtli-
ches Verlangen nach ſeiner Zuruͤkkunft, ihre aͤngſt-
liche Beſorgnis wegen ſeines langen Ausbleibens,
und was ſie von ihren Freyern auszuſtehen hat,
mit voller Ruͤhrung zu erkennen.

„Es iſt kein geringes Verdienſt an dem Ovidius,
(ſagt ein ſehr ſcharfſinniger engliſcher Kunſtrichter [Spaltenumbruch] (†))
daß er die ſchoͤne Methode erfunden hat, unter er-
dichteten Charaktern Briefe zu ſchreiben. Es iſt
eine große Verbeſſerung der griechiſchen Elegie, uͤber
[Spaltenumbruch]

Her
welche die dramatiſche Natur jener Schreibart einen
ungemeinen Vorzug erhielt. Eigentlich iſt die Ele-
gie nichts, als ein affektvolles Selbſtgeſpraͤch, worin
das Herz der Betruͤbnis und den Ruͤhrungen, davon
es erfuͤllt iſt, Luft ſchaffet: wird dieſes Geſpraͤch
aber an eine beſtimmte (wir ſetzen hinzu, an eine aus
der Geſchichte bekannte und beruͤhmte) Perſon gerich-
tet, ſo erhaͤlt es einen gewiſſen Grad der Schiklich-
keit, (des Jntreſſe), daran es auch dem aufs beſte aus-
gefuͤhrten Selbſtgeſpraͤch in einem Trauerſpiel, alle-
zeit fehlen muß. Unſre Ungeduld bey einem druͤ-
kenden Schmerz, oder bey einer Gemuͤthsunruh
(auch bey einer von Zaͤrtlichkeit herruͤhrenden Freude)
macht es ſehr natuͤrlich, daß man ſich gegen diejeni-
gen Perſonen voll Affekt beſchweret, von denen man
glaubt, daß ſie uns ſolche Unruhen verurſachet ha-
ben, (oder daß man ſeine innige Freude, mit denen,
die man liebet, zu theilen ſucht.) Man beweißt
aber hiebey vornehmlich ſeine ſcharfſinnige Beurthei-
lungskraft, wenn man die vorhabende Klage (oder
Ausgießung der Empfindung) gerade mit einem ſol-
chen Zeitpunkt eroͤffnet, welcher zu den zaͤrtlichſten
Empfindungen und zu den ploͤtzlichſten und lebhaf-
teſten Ausbruͤchen der Leidenſchaft Gelegenheit giebt.‟

Wir haben dieſe etwas lange Stelle, mit Einſchal-
tung einiger Begriffe, hier ganz hergeſetzt, weil darin
der eigentliche Geſichtspunkt, aus welchem man dieſe
Dichtungsart beurtheilen muß, ſehr genau beſtimmt
wird. Es iſt eine Hauptſache, daß der Dichter Perſo-
nen waͤhle, die uns aus der Geſchichte hinlaͤnglich be-
kannt ſind, und fuͤr die wir uns intreſſiren, und daß
er ſie in ganz intreſſante Umſtaͤnde ſetze. Durch das er-
ſtere gewinnt er den Vortheil, daß er die wichtigſten
Umſtaͤnde uͤber ihre Perſonen und ihre Geſchichte
blos anzeigen, und ſchon durch kleine Winke die Vor-
ſtellungen auf die Dinge lenken kann, die man noth-
wendig wiſſen muß, um alles recht zu fuͤhlen; und
durch das andere gewinnt er zum voraus unſre gan-
ze Aufmerkſamkeit. Es iſt unſtreitig eine der ver-
gnuͤgteſten und anmuthsvolleſten Gemuͤthsbeſchaͤfti-
gungen, ſich bekannte und intreſſante Perſonen in
Umſtaͤnden vorzuſtellen, die das Jnnerſte ihres Her-
zens durch mancherley Vorſtellungen aufruͤhren.
Und welche Gelegenheit uns Empfindung zu lehren,

und
(†) Verſuche uͤber Popens Genie und Schriften.
VI Abſchnitt. Eine Ueberſetzung dieſer vortrefflichen
Schrift iſt in dem VI Theile der Sammlung vermiſchter
[Spaltenumbruch] Schriften zur Befoͤrderung der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und
freyen Kuͤnſte, die in Berlin bey Nicolai herausgekom-
men iſt, zu finden.
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[534/0546] Hel Her Her Seltſam, aber vollkommen richtig, iſt die Beob- achtung des oben erwaͤhnten Kunſtrichters, daß ſelbſt der Kupferſtecher, der doch zur Haltung und Har- monie nichts, als Licht und Schatten zu haben ſchei- net, aus dem Helldunkeln Vortheile ziehen koͤnne. Er hat angemerket, daß die Kupferſtecher, die unter der Aufſicht des Rubens gearbeitet haben, dieſes zu- erſt erreicht haben, (*) und daß mit dieſen Meiſter- ſtuͤken des Grabſtichels ein neuer Zeitraum der Kunſt anfange. Gegenwaͤrtig ſcheinet es bisweilen, daß der Grabſtichel in der Kunſt des Helldunkeln ſich mit dem Pinſel ſelbſt in einen Wettſtreit einzulaſſen getraute. Die Mittel, wie der Grabſtichel durch die Verſchiedenheit der Behandlung, die hellen und dunkeln, ſtrengen und ſanften Localfarben ausdruͤkt, verdieneten wol von den Meiſtern der Kunſt be- ſonders entwikelt zu werden; denn der feineſte Ken- ner oder Kunſtrichter wird, durch das bloße Stu- diren der beſten Werke, ſie niemal deutlich genug entdeken. (*) S. Ha- gedorn Au- merk. S. 651. Heroide. (Dichtkunſt.) Ein kleines affektvolles Gedicht im Tone der Elegie und in Form eines Schreibens an eine Perſon, gegen welche man, ohne alle Zuruͤkhaltung, ein geruͤhrtes Herz ausſchuͤttet. Man hat dieſe Dichtungsart dem Ovidius zu danken, der ohne Zweifel, wegen der bewundrungswuͤrdigen Leichtigkeit, die er hatte, jede ſanfte Empfindung durch einen Strohm verſchiedener Aeußerungen zu ſchildern, auf den Einfall gekom- men iſt, den beruͤhmteſten Perſonen aus den heroi- ſchen oder Heldenzeiten Schreiben anzudichten, die mit verliebten Klagen angefuͤllt ſind. Die Penelope ſchreibet an ihren Ulyſſes, und giebt ihm ihr zaͤrtli- ches Verlangen nach ſeiner Zuruͤkkunft, ihre aͤngſt- liche Beſorgnis wegen ſeines langen Ausbleibens, und was ſie von ihren Freyern auszuſtehen hat, mit voller Ruͤhrung zu erkennen. „Es iſt kein geringes Verdienſt an dem Ovidius, (ſagt ein ſehr ſcharfſinniger engliſcher Kunſtrichter (†)) daß er die ſchoͤne Methode erfunden hat, unter er- dichteten Charaktern Briefe zu ſchreiben. Es iſt eine große Verbeſſerung der griechiſchen Elegie, uͤber welche die dramatiſche Natur jener Schreibart einen ungemeinen Vorzug erhielt. Eigentlich iſt die Ele- gie nichts, als ein affektvolles Selbſtgeſpraͤch, worin das Herz der Betruͤbnis und den Ruͤhrungen, davon es erfuͤllt iſt, Luft ſchaffet: wird dieſes Geſpraͤch aber an eine beſtimmte (wir ſetzen hinzu, an eine aus der Geſchichte bekannte und beruͤhmte) Perſon gerich- tet, ſo erhaͤlt es einen gewiſſen Grad der Schiklich- keit, (des Jntreſſe), daran es auch dem aufs beſte aus- gefuͤhrten Selbſtgeſpraͤch in einem Trauerſpiel, alle- zeit fehlen muß. Unſre Ungeduld bey einem druͤ- kenden Schmerz, oder bey einer Gemuͤthsunruh (auch bey einer von Zaͤrtlichkeit herruͤhrenden Freude) macht es ſehr natuͤrlich, daß man ſich gegen diejeni- gen Perſonen voll Affekt beſchweret, von denen man glaubt, daß ſie uns ſolche Unruhen verurſachet ha- ben, (oder daß man ſeine innige Freude, mit denen, die man liebet, zu theilen ſucht.) Man beweißt aber hiebey vornehmlich ſeine ſcharfſinnige Beurthei- lungskraft, wenn man die vorhabende Klage (oder Ausgießung der Empfindung) gerade mit einem ſol- chen Zeitpunkt eroͤffnet, welcher zu den zaͤrtlichſten Empfindungen und zu den ploͤtzlichſten und lebhaf- teſten Ausbruͤchen der Leidenſchaft Gelegenheit giebt.‟ Wir haben dieſe etwas lange Stelle, mit Einſchal- tung einiger Begriffe, hier ganz hergeſetzt, weil darin der eigentliche Geſichtspunkt, aus welchem man dieſe Dichtungsart beurtheilen muß, ſehr genau beſtimmt wird. Es iſt eine Hauptſache, daß der Dichter Perſo- nen waͤhle, die uns aus der Geſchichte hinlaͤnglich be- kannt ſind, und fuͤr die wir uns intreſſiren, und daß er ſie in ganz intreſſante Umſtaͤnde ſetze. Durch das er- ſtere gewinnt er den Vortheil, daß er die wichtigſten Umſtaͤnde uͤber ihre Perſonen und ihre Geſchichte blos anzeigen, und ſchon durch kleine Winke die Vor- ſtellungen auf die Dinge lenken kann, die man noth- wendig wiſſen muß, um alles recht zu fuͤhlen; und durch das andere gewinnt er zum voraus unſre gan- ze Aufmerkſamkeit. Es iſt unſtreitig eine der ver- gnuͤgteſten und anmuthsvolleſten Gemuͤthsbeſchaͤfti- gungen, ſich bekannte und intreſſante Perſonen in Umſtaͤnden vorzuſtellen, die das Jnnerſte ihres Her- zens durch mancherley Vorſtellungen aufruͤhren. Und welche Gelegenheit uns Empfindung zu lehren, und (†) Verſuche uͤber Popens Genie und Schriften. VI Abſchnitt. Eine Ueberſetzung dieſer vortrefflichen Schrift iſt in dem VI Theile der Sammlung vermiſchter Schriften zur Befoͤrderung der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und freyen Kuͤnſte, die in Berlin bey Nicolai herausgekom- men iſt, zu finden.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 534. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/546>, abgerufen am 22.11.2024.