Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch]
Hel Her Seltsam, aber vollkommen richtig, ist die Beob- Heroide. (Dichtkunst.) Ein kleines affektvolles Gedicht im Tone der Elegie "Es ist kein geringes Verdienst an dem Ovidius, Her welche die dramatische Natur jener Schreibart einenungemeinen Vorzug erhielt. Eigentlich ist die Ele- gie nichts, als ein affektvolles Selbstgespräch, worin das Herz der Betrübnis und den Rührungen, davon es erfüllt ist, Luft schaffet: wird dieses Gespräch aber an eine bestimmte (wir setzen hinzu, an eine aus der Geschichte bekannte und berühmte) Person gerich- tet, so erhält es einen gewissen Grad der Schiklich- keit, (des Jntresse), daran es auch dem aufs beste aus- geführten Selbstgespräch in einem Trauerspiel, alle- zeit fehlen muß. Unsre Ungeduld bey einem drü- kenden Schmerz, oder bey einer Gemüthsunruh (auch bey einer von Zärtlichkeit herrührenden Freude) macht es sehr natürlich, daß man sich gegen diejeni- gen Personen voll Affekt beschweret, von denen man glaubt, daß sie uns solche Unruhen verursachet ha- ben, (oder daß man seine innige Freude, mit denen, die man liebet, zu theilen sucht.) Man beweißt aber hiebey vornehmlich seine scharfsinnige Beurthei- lungskraft, wenn man die vorhabende Klage (oder Ausgießung der Empfindung) gerade mit einem sol- chen Zeitpunkt eröffnet, welcher zu den zärtlichsten Empfindungen und zu den plötzlichsten und lebhaf- testen Ausbrüchen der Leidenschaft Gelegenheit giebt." Wir haben diese etwas lange Stelle, mit Einschal- und (+) Versuche über Popens Genie und Schriften.
VI Abschnitt. Eine Uebersetzung dieser vortrefflichen Schrift ist in dem VI Theile der Sammlung vermischter [Spaltenumbruch] Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften und freyen Künste, die in Berlin bey Nicolai herausgekom- men ist, zu finden. [Spaltenumbruch]
Hel Her Seltſam, aber vollkommen richtig, iſt die Beob- Heroide. (Dichtkunſt.) Ein kleines affektvolles Gedicht im Tone der Elegie „Es iſt kein geringes Verdienſt an dem Ovidius, Her welche die dramatiſche Natur jener Schreibart einenungemeinen Vorzug erhielt. Eigentlich iſt die Ele- gie nichts, als ein affektvolles Selbſtgeſpraͤch, worin das Herz der Betruͤbnis und den Ruͤhrungen, davon es erfuͤllt iſt, Luft ſchaffet: wird dieſes Geſpraͤch aber an eine beſtimmte (wir ſetzen hinzu, an eine aus der Geſchichte bekannte und beruͤhmte) Perſon gerich- tet, ſo erhaͤlt es einen gewiſſen Grad der Schiklich- keit, (des Jntreſſe), daran es auch dem aufs beſte aus- gefuͤhrten Selbſtgeſpraͤch in einem Trauerſpiel, alle- zeit fehlen muß. Unſre Ungeduld bey einem druͤ- kenden Schmerz, oder bey einer Gemuͤthsunruh (auch bey einer von Zaͤrtlichkeit herruͤhrenden Freude) macht es ſehr natuͤrlich, daß man ſich gegen diejeni- gen Perſonen voll Affekt beſchweret, von denen man glaubt, daß ſie uns ſolche Unruhen verurſachet ha- ben, (oder daß man ſeine innige Freude, mit denen, die man liebet, zu theilen ſucht.) Man beweißt aber hiebey vornehmlich ſeine ſcharfſinnige Beurthei- lungskraft, wenn man die vorhabende Klage (oder Ausgießung der Empfindung) gerade mit einem ſol- chen Zeitpunkt eroͤffnet, welcher zu den zaͤrtlichſten Empfindungen und zu den ploͤtzlichſten und lebhaf- teſten Ausbruͤchen der Leidenſchaft Gelegenheit giebt.‟ Wir haben dieſe etwas lange Stelle, mit Einſchal- und (†) Verſuche uͤber Popens Genie und Schriften.
VI Abſchnitt. Eine Ueberſetzung dieſer vortrefflichen Schrift iſt in dem VI Theile der Sammlung vermiſchter [Spaltenumbruch] Schriften zur Befoͤrderung der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und freyen Kuͤnſte, die in Berlin bey Nicolai herausgekom- men iſt, zu finden. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0546" n="534"/> <cb/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">Hel Her</hi> </fw><lb/> <p>Seltſam, aber vollkommen richtig, iſt die Beob-<lb/> achtung des oben erwaͤhnten Kunſtrichters, daß ſelbſt<lb/> der Kupferſtecher, der doch zur Haltung und Har-<lb/> monie nichts, als Licht und Schatten zu haben ſchei-<lb/> net, aus dem Helldunkeln Vortheile ziehen koͤnne.<lb/> Er hat angemerket, daß die Kupferſtecher, die unter<lb/> der Aufſicht des Rubens gearbeitet haben, dieſes zu-<lb/><note place="left">(*) S. Ha-<lb/> gedorn Au-<lb/> merk. 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Hel Her
Her
Seltſam, aber vollkommen richtig, iſt die Beob-
achtung des oben erwaͤhnten Kunſtrichters, daß ſelbſt
der Kupferſtecher, der doch zur Haltung und Har-
monie nichts, als Licht und Schatten zu haben ſchei-
net, aus dem Helldunkeln Vortheile ziehen koͤnne.
Er hat angemerket, daß die Kupferſtecher, die unter
der Aufſicht des Rubens gearbeitet haben, dieſes zu-
erſt erreicht haben, (*) und daß mit dieſen Meiſter-
ſtuͤken des Grabſtichels ein neuer Zeitraum der Kunſt
anfange. Gegenwaͤrtig ſcheinet es bisweilen, daß
der Grabſtichel in der Kunſt des Helldunkeln ſich
mit dem Pinſel ſelbſt in einen Wettſtreit einzulaſſen
getraute. Die Mittel, wie der Grabſtichel durch
die Verſchiedenheit der Behandlung, die hellen und
dunkeln, ſtrengen und ſanften Localfarben ausdruͤkt,
verdieneten wol von den Meiſtern der Kunſt be-
ſonders entwikelt zu werden; denn der feineſte Ken-
ner oder Kunſtrichter wird, durch das bloße Stu-
diren der beſten Werke, ſie niemal deutlich genug
entdeken.
(*) S. Ha-
gedorn Au-
merk. S.
651.
Heroide.
(Dichtkunſt.)
Ein kleines affektvolles Gedicht im Tone der Elegie
und in Form eines Schreibens an eine Perſon, gegen
welche man, ohne alle Zuruͤkhaltung, ein geruͤhrtes
Herz ausſchuͤttet. Man hat dieſe Dichtungsart dem
Ovidius zu danken, der ohne Zweifel, wegen der
bewundrungswuͤrdigen Leichtigkeit, die er hatte, jede
ſanfte Empfindung durch einen Strohm verſchiedener
Aeußerungen zu ſchildern, auf den Einfall gekom-
men iſt, den beruͤhmteſten Perſonen aus den heroi-
ſchen oder Heldenzeiten Schreiben anzudichten, die
mit verliebten Klagen angefuͤllt ſind. Die Penelope
ſchreibet an ihren Ulyſſes, und giebt ihm ihr zaͤrtli-
ches Verlangen nach ſeiner Zuruͤkkunft, ihre aͤngſt-
liche Beſorgnis wegen ſeines langen Ausbleibens,
und was ſie von ihren Freyern auszuſtehen hat,
mit voller Ruͤhrung zu erkennen.
„Es iſt kein geringes Verdienſt an dem Ovidius,
(ſagt ein ſehr ſcharfſinniger engliſcher Kunſtrichter
(†))
daß er die ſchoͤne Methode erfunden hat, unter er-
dichteten Charaktern Briefe zu ſchreiben. Es iſt
eine große Verbeſſerung der griechiſchen Elegie, uͤber
welche die dramatiſche Natur jener Schreibart einen
ungemeinen Vorzug erhielt. Eigentlich iſt die Ele-
gie nichts, als ein affektvolles Selbſtgeſpraͤch, worin
das Herz der Betruͤbnis und den Ruͤhrungen, davon
es erfuͤllt iſt, Luft ſchaffet: wird dieſes Geſpraͤch
aber an eine beſtimmte (wir ſetzen hinzu, an eine aus
der Geſchichte bekannte und beruͤhmte) Perſon gerich-
tet, ſo erhaͤlt es einen gewiſſen Grad der Schiklich-
keit, (des Jntreſſe), daran es auch dem aufs beſte aus-
gefuͤhrten Selbſtgeſpraͤch in einem Trauerſpiel, alle-
zeit fehlen muß. Unſre Ungeduld bey einem druͤ-
kenden Schmerz, oder bey einer Gemuͤthsunruh
(auch bey einer von Zaͤrtlichkeit herruͤhrenden Freude)
macht es ſehr natuͤrlich, daß man ſich gegen diejeni-
gen Perſonen voll Affekt beſchweret, von denen man
glaubt, daß ſie uns ſolche Unruhen verurſachet ha-
ben, (oder daß man ſeine innige Freude, mit denen,
die man liebet, zu theilen ſucht.) Man beweißt
aber hiebey vornehmlich ſeine ſcharfſinnige Beurthei-
lungskraft, wenn man die vorhabende Klage (oder
Ausgießung der Empfindung) gerade mit einem ſol-
chen Zeitpunkt eroͤffnet, welcher zu den zaͤrtlichſten
Empfindungen und zu den ploͤtzlichſten und lebhaf-
teſten Ausbruͤchen der Leidenſchaft Gelegenheit giebt.‟
Wir haben dieſe etwas lange Stelle, mit Einſchal-
tung einiger Begriffe, hier ganz hergeſetzt, weil darin
der eigentliche Geſichtspunkt, aus welchem man dieſe
Dichtungsart beurtheilen muß, ſehr genau beſtimmt
wird. Es iſt eine Hauptſache, daß der Dichter Perſo-
nen waͤhle, die uns aus der Geſchichte hinlaͤnglich be-
kannt ſind, und fuͤr die wir uns intreſſiren, und daß
er ſie in ganz intreſſante Umſtaͤnde ſetze. Durch das er-
ſtere gewinnt er den Vortheil, daß er die wichtigſten
Umſtaͤnde uͤber ihre Perſonen und ihre Geſchichte
blos anzeigen, und ſchon durch kleine Winke die Vor-
ſtellungen auf die Dinge lenken kann, die man noth-
wendig wiſſen muß, um alles recht zu fuͤhlen; und
durch das andere gewinnt er zum voraus unſre gan-
ze Aufmerkſamkeit. Es iſt unſtreitig eine der ver-
gnuͤgteſten und anmuthsvolleſten Gemuͤthsbeſchaͤfti-
gungen, ſich bekannte und intreſſante Perſonen in
Umſtaͤnden vorzuſtellen, die das Jnnerſte ihres Her-
zens durch mancherley Vorſtellungen aufruͤhren.
Und welche Gelegenheit uns Empfindung zu lehren,
und
(†) Verſuche uͤber Popens Genie und Schriften.
VI Abſchnitt. Eine Ueberſetzung dieſer vortrefflichen
Schrift iſt in dem VI Theile der Sammlung vermiſchter
Schriften zur Befoͤrderung der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und
freyen Kuͤnſte, die in Berlin bey Nicolai herausgekom-
men iſt, zu finden.
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