Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Han nähme; aber durch die Handlung, durch das, wasgeschieht und die Art wie es geschieht, werden sie wichtig. Die erste und nothwendigste Eigenschaft der Hand- Bey jeder Handlung und bey jedem einzeln Theile Die zweyte Eigenschaft der Handlung ist, daß sie Han cherley Weise bewürkt werden. Das Geschäft, wel-ches betrieben wird, kann an sich selbst so wichtig seyn, daß die handelnden Personen dabey nothwen- dig in die lebhafteste Würksamkeit gerathen, wie wenn es große Angelegenheiten eines ganzen Volks betrift; oder es kann durch die dabey intressirte Personen wichtig werden, die uns wegen ihres Standes, oder wegen ihres Charakters merkwürdig sind; oder es kann zufälliger Weise, durch aufge- stoßene Schwierigkeit, durch eine seltsame Ver- wiklung der Sachen, durch merkwürdige Vorfälle die Neugierd reizen. Es giebt bisweilen Handlungen, die an sich we- Es würde ein für die schönen Künste nützliches den.
[Spaltenumbruch] Han naͤhme; aber durch die Handlung, durch das, wasgeſchieht und die Art wie es geſchieht, werden ſie wichtig. Die erſte und nothwendigſte Eigenſchaft der Hand- Bey jeder Handlung und bey jedem einzeln Theile Die zweyte Eigenſchaft der Handlung iſt, daß ſie Han cherley Weiſe bewuͤrkt werden. Das Geſchaͤft, wel-ches betrieben wird, kann an ſich ſelbſt ſo wichtig ſeyn, daß die handelnden Perſonen dabey nothwen- dig in die lebhafteſte Wuͤrkſamkeit gerathen, wie wenn es große Angelegenheiten eines ganzen Volks betrift; oder es kann durch die dabey intreſſirte Perſonen wichtig werden, die uns wegen ihres Standes, oder wegen ihres Charakters merkwuͤrdig ſind; oder es kann zufaͤlliger Weiſe, durch aufge- ſtoßene Schwierigkeit, durch eine ſeltſame Ver- wiklung der Sachen, durch merkwuͤrdige Vorfaͤlle die Neugierd reizen. Es giebt bisweilen Handlungen, die an ſich we- Es wuͤrde ein fuͤr die ſchoͤnen Kuͤnſte nuͤtzliches den.
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Dazu wird freylich erfodert, daß<lb/> der Kuͤnſtler ein wahrer Kenner der Menſchen ſey.<lb/> Hier hilft die feurigſte Einbildungskraft und die<lb/> ſtaͤrkſte Begeiſterung nichts; die Wahrheit der Hand-<lb/> lung iſt blos ein Werk des Verſtandes und der gruͤnd-<lb/> lichen Kenntnis. Jnsgemein iſt die Fabel dem<lb/> Kuͤnſtler durch die Geſchichte gegeben, oder er hat<lb/> ſie in ſeiner Phantaſie entworfen und angeordnet,<lb/> ehe er an die Handlung denkt. Hat er nicht in ſei-<lb/> nem Genie und Verſtand die noͤthigen Mittel die<lb/> Handlung ſo zu veranſtalten, daß die Fabel auf<lb/> eine natuͤrliche und ungezwungene Weiſe aus den<lb/> vorhandenen Urſachen ſich ſo, wie er ſie entworfen<lb/> hat, entwikelt, ſo hat er eine Uhr gemacht, die zwar<lb/> dem Anſehen nach alle noͤthigen Raͤder hat, aber<lb/> doch nicht geht.</p><lb/> <p>Bey jeder Handlung und bey jedem einzeln Theile<lb/> derſelben ſind immer Kraͤfte, oder wuͤrkende Urſa-<lb/> chen und Wuͤrkungen vorhanden, die einander auf<lb/> das genaueſte angepaßt ſeyn muͤſſen. Man muß<lb/> nicht große Kraͤfte aufbieten um kleine Wuͤrkungen<lb/> hervorzubringen, und eben ſo wenig aus geringen<lb/> Kraͤften große Wuͤrkungen entſtehen laſſen. Jn<lb/> der Jlias bringt zwar die Entfernung eines einzigen<lb/> Menſchen das griechiſche Heer dem Untergange<lb/> ſehr nahe; aber dieſer Menſch iſt Achilles. Haͤtte<lb/> der Dichter nicht Genie genug gehabt dieſen Helden<lb/> ſo groß zu ſchildern, als wir ihn ſehen, ſo waͤre<lb/> die Handlung der Jlias unnatuͤrlich worden.</p><lb/> <p>Die zweyte Eigenſchaft der Handlung iſt, daß ſie<lb/> intreſſant ſey: der Geiſt und das Herz deſſen, der<lb/> der Handlung zuſieht, muͤſſen in unaufhoͤrlicher Wuͤrk-<lb/> ſamkeit unterhalten werden. Dieſes kann auf man-<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Han</hi></fw><lb/> cherley Weiſe bewuͤrkt werden. 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Han
Han
naͤhme; aber durch die Handlung, durch das, was
geſchieht und die Art wie es geſchieht, werden ſie
wichtig.
Die erſte und nothwendigſte Eigenſchaft der Hand-
lung iſt, daß ſie wahrſcheinlich und natuͤrlich ſey,
ſo daß das, was geſchieht, aus den vorhergehenden
Urſachen auf eine ungezwungene und verſtaͤndliche
Weiſe hat erfolgen muͤſſen. Denn wo dieſes nicht
iſt, da faͤllt die Aufmerkſamkeit auf die Sachen, der
Antheil welchen man daran nehmen ſollte, weg.
Man glaubt der Kuͤnſtler wolle uns hintergehen,
oder habe getraͤumet und ſich die Sachen faͤlſchlich
eingebildet. Darum muß in der ganzen Handlung
nichts geſchehen, davon man nicht den Grund in
den Charakteren der Perſonen und in der Lage der
Sache entdeket. Dazu wird freylich erfodert, daß
der Kuͤnſtler ein wahrer Kenner der Menſchen ſey.
Hier hilft die feurigſte Einbildungskraft und die
ſtaͤrkſte Begeiſterung nichts; die Wahrheit der Hand-
lung iſt blos ein Werk des Verſtandes und der gruͤnd-
lichen Kenntnis. Jnsgemein iſt die Fabel dem
Kuͤnſtler durch die Geſchichte gegeben, oder er hat
ſie in ſeiner Phantaſie entworfen und angeordnet,
ehe er an die Handlung denkt. Hat er nicht in ſei-
nem Genie und Verſtand die noͤthigen Mittel die
Handlung ſo zu veranſtalten, daß die Fabel auf
eine natuͤrliche und ungezwungene Weiſe aus den
vorhandenen Urſachen ſich ſo, wie er ſie entworfen
hat, entwikelt, ſo hat er eine Uhr gemacht, die zwar
dem Anſehen nach alle noͤthigen Raͤder hat, aber
doch nicht geht.
Bey jeder Handlung und bey jedem einzeln Theile
derſelben ſind immer Kraͤfte, oder wuͤrkende Urſa-
chen und Wuͤrkungen vorhanden, die einander auf
das genaueſte angepaßt ſeyn muͤſſen. Man muß
nicht große Kraͤfte aufbieten um kleine Wuͤrkungen
hervorzubringen, und eben ſo wenig aus geringen
Kraͤften große Wuͤrkungen entſtehen laſſen. Jn
der Jlias bringt zwar die Entfernung eines einzigen
Menſchen das griechiſche Heer dem Untergange
ſehr nahe; aber dieſer Menſch iſt Achilles. Haͤtte
der Dichter nicht Genie genug gehabt dieſen Helden
ſo groß zu ſchildern, als wir ihn ſehen, ſo waͤre
die Handlung der Jlias unnatuͤrlich worden.
Die zweyte Eigenſchaft der Handlung iſt, daß ſie
intreſſant ſey: der Geiſt und das Herz deſſen, der
der Handlung zuſieht, muͤſſen in unaufhoͤrlicher Wuͤrk-
ſamkeit unterhalten werden. Dieſes kann auf man-
cherley Weiſe bewuͤrkt werden. Das Geſchaͤft, wel-
ches betrieben wird, kann an ſich ſelbſt ſo wichtig
ſeyn, daß die handelnden Perſonen dabey nothwen-
dig in die lebhafteſte Wuͤrkſamkeit gerathen, wie
wenn es große Angelegenheiten eines ganzen Volks
betrift; oder es kann durch die dabey intreſſirte
Perſonen wichtig werden, die uns wegen ihres
Standes, oder wegen ihres Charakters merkwuͤrdig
ſind; oder es kann zufaͤlliger Weiſe, durch aufge-
ſtoßene Schwierigkeit, durch eine ſeltſame Ver-
wiklung der Sachen, durch merkwuͤrdige Vorfaͤlle
die Neugierd reizen.
Es giebt bisweilen Handlungen, die an ſich we-
nig Merkwuͤrdiges zu haben ſcheinen, durch das
gluͤkliche Genie des Kuͤnſtlers aber ungemein intreſ-
ſant werden. Daß einige trojaniſche Fluͤchtlinge
ſich einſchiffen, um ſich anderswo nieder zu laſſen,
iſt an ſich eine ganz unbetraͤchtliche Handlung. Vir-
gil hat ihr aber durch den Geſichtspunkt, in dem er
ſie anſieht, eine ausnehmende Groͤße und Wichtig-
keit gegeben. Dieſe wenige Abentheurer ſind die
Stammvaͤter eines kuͤnftigen Volks, das den gan-
zen Erdboden beherrſchen ſoll; das kuͤnftig einem
andern, damals aufbluͤhenden und von einigen Goͤt-
tern vorzuͤglich beſchuͤtzten Volke, die Herrſchaft der
Welt entreiſſen wird. Dadurch bekoͤmmt die Hand-
lung der Aeneis eine erſtaunliche Groͤße, der aber
das mehr ſchoͤne, als große Genie des Dichters
nicht gewachſen war. Was wuͤrde nicht ein Dich-
ter von Miltons oder Klopſtoks Geiſte daraus ge-
macht haben?
Es wuͤrde ein fuͤr die ſchoͤnen Kuͤnſte nuͤtzliches
Unternehmen ſeyn, wenn ſich jemand die Muͤhe gaͤbe,
die verſchiedenen Kunſtgriffe zu entdeken, wodurch
große Kuͤnſtler unbetraͤchtliche Handlungen intreſſant
gemacht haben; denn hierin zeiget ſich das Genie
in dem ſchoͤnſten Lichte. Wie manche, an ſich un-
betraͤchtliche Handlung, hat nicht Shakeſpear durch
ſein erfinderiſches Genie hoͤchſt intreſſant gemacht?
Gemeine Kuͤnſtler ſuchen insgemein die Handlungen
durch Verwiklung und vielerley Jntrigen merkwuͤrdig
zu machen; aber dieſes ſind ſehr ſchwache Mittel,
die zwar die Phantaſie etwas geſpannt halten, aber
die weſentlichſten Kraͤfte der Seele, den Verſtand
und das Herz, in voͤlliger Ruhe laſſen. Das Jntreſ-
ſante der Handlung muß nicht im Aeußerlichen der-
ſelben, ſondern in dem, was zum Geiſt und zum
innern Charakter der Sachen gehoͤrt, geſucht wer-
den.
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