Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Hal nachdenkender Mahler wird bald entdecken, wie vieldie Farbe des Grundes, oder der Hinternwand der Schaubühne, die Kleidung der Personen, die Stärke oder Schwäche des Lichts, in welchem sie stehen, zu der guten oder schlechten Haltung beytragen. Durch dergleichen Beobachtungen lernt man den Ein Künstler, dem es sonst nicht an gehöriger Hal nes u. s. w. verwandeln. Bey jeder Abänderungder Localfarben wird er eine merkliche Verände- rung in der Haltung wahrnehmen, und dadurch wird er in diesem Theile der Kunst zu einer gründlichen Kenntnis gelangen. Der Weg ist freylich mühe- sam, aber die Mühe wird denn dadurch belohnt, daß man seiner Sachen gewiß wird. Wer nicht mit einem ausnehmenden Genie für seine Kunst ge- bohren ist, muß sich nicht einbilden, daß er ohne viel Mühe und großes Nachdenken es darin zu ir- gend einem beträchtlichen Grad der Vollkommenheit bringen werde. Die größten Schwierigkeiten finden sich da, wo Der Begriff der Haltung muß nicht blos auf die wer-
[Spaltenumbruch] Hal nachdenkender Mahler wird bald entdecken, wie vieldie Farbe des Grundes, oder der Hinternwand der Schaubuͤhne, die Kleidung der Perſonen, die Staͤrke oder Schwaͤche des Lichts, in welchem ſie ſtehen, zu der guten oder ſchlechten Haltung beytragen. Durch dergleichen Beobachtungen lernt man den Ein Kuͤnſtler, dem es ſonſt nicht an gehoͤriger Hal nes u. ſ. w. verwandeln. Bey jeder Abaͤnderungder Localfarben wird er eine merkliche Veraͤnde- rung in der Haltung wahrnehmen, und dadurch wird er in dieſem Theile der Kunſt zu einer gruͤndlichen Kenntnis gelangen. Der Weg iſt freylich muͤhe- ſam, aber die Muͤhe wird denn dadurch belohnt, daß man ſeiner Sachen gewiß wird. Wer nicht mit einem ausnehmenden Genie fuͤr ſeine Kunſt ge- bohren iſt, muß ſich nicht einbilden, daß er ohne viel Muͤhe und großes Nachdenken es darin zu ir- gend einem betraͤchtlichen Grad der Vollkommenheit bringen werde. Die groͤßten Schwierigkeiten finden ſich da, wo Der Begriff der Haltung muß nicht blos auf die wer-
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Manches<lb/> Gemaͤhld bekoͤmmt ſeine Haupthaltung von einem<lb/> etwas hoch einfallenden Seitenlicht, da dieſe Wuͤr-<lb/> kung in einem andern, weil es anders gruppirt iſt,<lb/> durch ein flach einfallendes Licht erhalten wird. Die<lb/> Scharfſinnigkeit des Kuͤnſtlers muß die wahren Ur-<lb/> ſachen der beſten oder ſchlechten Haltung in jedem<lb/> beſondern Falle zu entdeken wiſſen; dabey muß er<lb/> aber auf alle Umſtaͤnde zugleich ſehen. Wenn er<lb/> z. B. in einem beſondern Falle finden ſollte, daß<lb/> ein hohes und dabey ſtarkes Licht ſehr gute Wuͤrkung<lb/> thut, ſo muß er auch genau auf die Anordnung der<lb/> Gruppen dabey acht haben; denn eben daſſelbe Licht<lb/> koͤnnte, wenn ſonſt alles uͤbrige gleich waͤre, bey<lb/> einer andern Anordnung gerade eine ſchlechte Wuͤr-<lb/> kung thun.</p><lb/> <p>Ein Kuͤnſtler, dem es ſonſt nicht an gehoͤriger<lb/> Scharfſinnigkeit fehlet, wird durch dergleichen Beob-<lb/> achtungen zu einer gruͤndlichen Kenntnis der Urſa-<lb/> chen einer guten Haltung kommen, in ſo fern dieſe<lb/> von Licht und Schatten, vom Hellen und Dunkeln,<lb/> und von der geſchikten Wahl der Localfarben ab-<lb/> haͤngt. Mit der Beobachtung der Natur aber<lb/> muß er auch das Studium der beſten Kunſtwerke,<lb/> beſonders der niederlaͤndiſchen Schulen verbinden.<lb/> Wegen des beſondern Einfluſſes, den die Localfar-<lb/> ben auf die Haltung haben, und welcher bisweilen<lb/> nicht gering iſt, kann man einem fleißigen Mahler<lb/> ein Mittel vorſchlagen, wodurch er in dieſem beſon-<lb/> dern Theile der Kunſt gewiß hinter die Geheimniſſe<lb/> kommen wird. Er muͤßte einige Gemaͤhlde von voll-<lb/> kommener Haltung mehreremale copiren, und uͤberall,<lb/> wo es ſich thun laͤßt, die eigenthuͤmlichen Farben<lb/> aͤndern, hier einer Figur, die ein helles Kleid hat,<lb/> ein dunkeles geben, ein rothes Gewand in ein gruͤ-<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Hal</hi></fw><lb/> nes u. ſ. w. verwandeln. 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Dieſes iſt aber auch das Hoͤchſte<lb/> in der Kunſt des Colorits, und es laͤßt ſich kaum be-<lb/> greifen, wie dieſe Wuͤrkung erreicht worden. Es<lb/> iſt unendlich leichter die Haltung durch Licht und<lb/> Schatten zu erreichen, als durch bloße Brechung<lb/> der hellen Farben. Hier muß man durch ein gluͤk-<lb/> liches Gefuͤhl alles errathen, da man dort ziemlich<lb/> beſtimmten Regeln folgen kann. Titian und van<lb/> Dyk ſind hier die großen Muſter, die der Mahler<lb/> zu ſtudiren hat.</p><lb/> <p>Der Begriff der Haltung muß nicht blos auf die<lb/> Werke der zeichnenden Kunſt eingeſchraͤnkt werden;<lb/> er erſtrekt ſich auf alle Werke der Kunſt. Ein Ge-<lb/> dicht oder eine Rede, durchaus in einem Ton und<lb/> mit einerley Stimme geleſen, wuͤrde fuͤr das Gehoͤr<lb/> eben ſo ohne Haltung ſeyn, als ein Gemaͤhlde ohne<lb/> Haltung der Farben. Und die Rede, in welcher alle<lb/> einzele Gedanken gleich ſtark und gleich ausfuͤhrlich<lb/> vorgetragen ſind, iſt dem Gemaͤhld aͤhnlich, dem die<lb/> Haltung in der Zeichnung fehlet. Es iſt anders-<lb/> wo (*) angemerkt worden, daß die redenden Kuͤnſte<note place="right">(*) S. Art.<lb/> Gruppe.</note><lb/> ihre Vorſtellungen eben ſo gruppiren muͤſſen, wie es<lb/> die zeichnenden Kuͤnſte thun, und ſo ſind dieſe bey-<lb/> den Zweyge der Kunſt auch in Abſicht auf die Hal-<lb/> tung der Dinge denſelbigen Regeln unterworfen.<lb/> Auch wird ſie durch einerley Mittel erreicht. Daß<lb/> nahe Gegenſtaͤnde genau ausgezeichnet, und im<lb/> Colorit ausfuͤhrlich bearbeitet, entfernte aber nur<lb/> im Ganzen angezeiget und nur ſchwach ausgemahlt<lb/> <fw place="bottom" type="catch">wer-</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [508/0520]
Hal
Hal
nachdenkender Mahler wird bald entdecken, wie viel
die Farbe des Grundes, oder der Hinternwand der
Schaubuͤhne, die Kleidung der Perſonen, die Staͤrke
oder Schwaͤche des Lichts, in welchem ſie ſtehen, zu
der guten oder ſchlechten Haltung beytragen.
Durch dergleichen Beobachtungen lernt man den
Haupttheilen des Gemaͤhldes, ganzen Gruppen,
vermittelſt einer geſchikten Austheilung des Lichts
und Schattens, und einer verhaͤltnißmaͤßigen Staͤrke
derſelben, die gute Haltung geben. Es koͤnnen
aber hieruͤber keine Regeln feſtgeſetzet werden, weil
die Faͤlle unendlich abwechſeln, und bald jede An-
ordnung der Gruppen oder der Haupttheile des
Gemaͤhldes ihr beſonderes Licht erfodert. Manches
Gemaͤhld bekoͤmmt ſeine Haupthaltung von einem
etwas hoch einfallenden Seitenlicht, da dieſe Wuͤr-
kung in einem andern, weil es anders gruppirt iſt,
durch ein flach einfallendes Licht erhalten wird. Die
Scharfſinnigkeit des Kuͤnſtlers muß die wahren Ur-
ſachen der beſten oder ſchlechten Haltung in jedem
beſondern Falle zu entdeken wiſſen; dabey muß er
aber auf alle Umſtaͤnde zugleich ſehen. Wenn er
z. B. in einem beſondern Falle finden ſollte, daß
ein hohes und dabey ſtarkes Licht ſehr gute Wuͤrkung
thut, ſo muß er auch genau auf die Anordnung der
Gruppen dabey acht haben; denn eben daſſelbe Licht
koͤnnte, wenn ſonſt alles uͤbrige gleich waͤre, bey
einer andern Anordnung gerade eine ſchlechte Wuͤr-
kung thun.
Ein Kuͤnſtler, dem es ſonſt nicht an gehoͤriger
Scharfſinnigkeit fehlet, wird durch dergleichen Beob-
achtungen zu einer gruͤndlichen Kenntnis der Urſa-
chen einer guten Haltung kommen, in ſo fern dieſe
von Licht und Schatten, vom Hellen und Dunkeln,
und von der geſchikten Wahl der Localfarben ab-
haͤngt. Mit der Beobachtung der Natur aber
muß er auch das Studium der beſten Kunſtwerke,
beſonders der niederlaͤndiſchen Schulen verbinden.
Wegen des beſondern Einfluſſes, den die Localfar-
ben auf die Haltung haben, und welcher bisweilen
nicht gering iſt, kann man einem fleißigen Mahler
ein Mittel vorſchlagen, wodurch er in dieſem beſon-
dern Theile der Kunſt gewiß hinter die Geheimniſſe
kommen wird. Er muͤßte einige Gemaͤhlde von voll-
kommener Haltung mehreremale copiren, und uͤberall,
wo es ſich thun laͤßt, die eigenthuͤmlichen Farben
aͤndern, hier einer Figur, die ein helles Kleid hat,
ein dunkeles geben, ein rothes Gewand in ein gruͤ-
nes u. ſ. w. verwandeln. Bey jeder Abaͤnderung
der Localfarben wird er eine merkliche Veraͤnde-
rung in der Haltung wahrnehmen, und dadurch wird
er in dieſem Theile der Kunſt zu einer gruͤndlichen
Kenntnis gelangen. Der Weg iſt freylich muͤhe-
ſam, aber die Muͤhe wird denn dadurch belohnt,
daß man ſeiner Sachen gewiß wird. Wer nicht
mit einem ausnehmenden Genie fuͤr ſeine Kunſt ge-
bohren iſt, muß ſich nicht einbilden, daß er ohne
viel Muͤhe und großes Nachdenken es darin zu ir-
gend einem betraͤchtlichen Grad der Vollkommenheit
bringen werde.
Die groͤßten Schwierigkeiten finden ſich da, wo
die Haltung nicht durch Entgegenſetzung des Lichts
und Schattens, ſondern blos durch eine geſchikte
Brechung der hellen Farben zu erreichen iſt. Man
ſieht bisweilen Portraite, beſonders unter denen von
van Dyk, wo die Geſichter eine bewundrungswuͤr-
dige Ruͤndung haben, ohne daß man Schatten da-
rin gewahr wird. Dieſes iſt aber auch das Hoͤchſte
in der Kunſt des Colorits, und es laͤßt ſich kaum be-
greifen, wie dieſe Wuͤrkung erreicht worden. Es
iſt unendlich leichter die Haltung durch Licht und
Schatten zu erreichen, als durch bloße Brechung
der hellen Farben. Hier muß man durch ein gluͤk-
liches Gefuͤhl alles errathen, da man dort ziemlich
beſtimmten Regeln folgen kann. Titian und van
Dyk ſind hier die großen Muſter, die der Mahler
zu ſtudiren hat.
Der Begriff der Haltung muß nicht blos auf die
Werke der zeichnenden Kunſt eingeſchraͤnkt werden;
er erſtrekt ſich auf alle Werke der Kunſt. Ein Ge-
dicht oder eine Rede, durchaus in einem Ton und
mit einerley Stimme geleſen, wuͤrde fuͤr das Gehoͤr
eben ſo ohne Haltung ſeyn, als ein Gemaͤhlde ohne
Haltung der Farben. Und die Rede, in welcher alle
einzele Gedanken gleich ſtark und gleich ausfuͤhrlich
vorgetragen ſind, iſt dem Gemaͤhld aͤhnlich, dem die
Haltung in der Zeichnung fehlet. Es iſt anders-
wo (*) angemerkt worden, daß die redenden Kuͤnſte
ihre Vorſtellungen eben ſo gruppiren muͤſſen, wie es
die zeichnenden Kuͤnſte thun, und ſo ſind dieſe bey-
den Zweyge der Kunſt auch in Abſicht auf die Hal-
tung der Dinge denſelbigen Regeln unterworfen.
Auch wird ſie durch einerley Mittel erreicht. Daß
nahe Gegenſtaͤnde genau ausgezeichnet, und im
Colorit ausfuͤhrlich bearbeitet, entfernte aber nur
im Ganzen angezeiget und nur ſchwach ausgemahlt
wer-
(*) S. Art.
Gruppe.
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