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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Gro
in der Mahlerey das Colorit den Charakter der Größe,
das bey einer vollkommenen Harmonie aus großen
Massen vom Hellen und Dunkeln, und aus großen
Parthien von Farben besteht; so findet man in dem
Gewande den Charakter der Größe, das aus weni-
gen, großen, aber natürlichen und mit dem ganzen
übereinstimmenden Falten besteht. Zu dem großen
Ansehen einer Stadt, die man von Ferne sieht, ist es
nicht genug, daß man eine unzählige Menge von
Häusern entdeke; sie müssen in große Parthien oder
Quartiere vertheilet seyn, an verschiedenen Orten
müssen einige hohe Dächer, oder Thürmer und Cu-
peln sich in die Luft erheben, und um diese herum
müssen die niedrigen Gebäude sich in große Grup-
pen versammeln. Ein einzeles Gebäude wird nie
durch eine große Höhe oder Breite, noch durch eine
unzählige Menge von Thüren, Fenstern, Säulen und
Zierrathen, den Begriff der ästhetischen Größe er-
weken; aber alsdann wird er entstehen, wenn das
Mannigfaltige darin in etliche große Parthien so zu-
sammen gehalten wird, daß die kleinen Theile nicht
im Verhältniß des Ganzen, sondern im Verhältniß
mit den Haupttheilen, dazu sie gehören, in das Aug
fallen; die Haupttheile selbst aber sich so genau zu-
sammen verbinden, daß ein unzertrennliches harmo-
nisches Ganze daraus entstehe. Denn dadurch wird
das Aug des Kenners gleichsam gezwungen das Ge-
bäude nur im Ganzen zu betrachten, um von allem
auf einmal gerührt zu werden.

Der Künstler, der dieser Spuhr folgen will, wird
in jedem besondern Falle, da er sichtbare. Gegen-
stände zu behandeln hat, leicht die Mittel bemerken,
wodurch er ihnen den Charakter der Größe in Ab-
sicht auf die Form geben kann. Er muß dem Gan-
zen durch wenig Hauptparthien Einfalt zu geben
wissen, damit das Aug oder die Einbildungskraft,
nicht auf das Einzele falle, und die kleinen Theile
muß er den Haupttheilen anpassen und unterordnen.
Alsdann scheinet es, daß er durch wenig Veranstal-
tung viel ausgerichtet habe. Durch dieses Mittel
hat Klopstok im zweyten Gesang des Meßias, der
Versammlung der Schaar höllischer Geister um den
Thron Satans, eine ungemeine Größe gegeben.
Er stellt nur wenige Häupter derselben einzeln dar,
und die unermeßliche Schaar der übrigen in einem
Haufen, und dann legt er das erstaunliche Gemählde
vermittelst eines wahrhaftig großen Gleichnisses durch
wenig Züge vor unser Gesicht.

[Spaltenumbruch]
Gro
Also versammelten sich die Fürsten der Hölle zu Satan.
Wie di Jnselu des Meeres aus ihren Sitzen gerissen,
Rauschten sie hoch, unauf haltsam einher. Der Pöbel der
Geister
Floß mit ihnen unzählbar, wie Wogen des kommenden Welt-
meers
Gegen den Fuß vorgebirgter Gestade, zum Sitze des Satans.

Es wäre leicht noch unzählige Beyspiele aus den
zeichnenden und redenden Künsten anzuführen, wo-
durch die vorhergehenden Anmerkungen über das
Große der Sinnen und der Einbildungskraft, be-
stätiget werden; aber dieses wenige ist für nachden-
kende Künstler hinreichend.

Wir kommen itzt auf die Betrachtung der Größe,
die den Gegenständen des Verstandes eigen ist Aus
dem, was überhaupt über den Charakter der Größe
angemerkt worden ist, läßt sich gleich abnehmen,
daß diese Größe alsdann entstehe, wenn vermittelst
weniger Hauptbegriffe, der Verstand auf einmal so
viel erblikt, daß er sich merklich angreifen muß, um
alles zu fassen. Schon einzele Begriffe haben eine
Größe, wenn sie bey einer anscheinenden Einfalt und
Leichtigkeit gefaßt zu werden, weit über den Ver-
stand Licht ausbreiten. Die Größe solcher Begriffe
entsteht insgemein aus vielbedeutenden matapho-
rischen Ausdrüken, oder andern Tropen; wie wenn
man von einem, von seinem bösen Gewissen geplag-
ten Menschen sagt; er trage die Hölle in seinem ei-
genen Herzen, oder wie wenn Haller von der Hel-
vetier Heldenahnen sagt; in deren Arm der Blitz
und Gott im Herzen war.

Große Gedanken zeigen allemal Reichthum der
Begriffe mit Einfalt verbunden. Pope drükt den
ganzen Jnhalt seines dritten Briefes über den Men-
schen durch diesen sehr einfachen Satz aus: die all-
gemeine Ursach arbeitet auf einen Zwek, aber nach
mannigfaltig abgeänderten Gesetzen.
Dieses ist ein
Gedanken, oder eine Beobachtung von ungemeiner
Größe, weil eine unermeßliche Mannigfaltigkeit ein-
zeler, und dem Scheine nach durch einander laufen-
der Würkungen, auf eine einzige Hauptquelle zurük
geführt wird. Menschen von großem Verstande sind
allein fähig, sehr einfache, zugleich aber sich weit er-
strekende, Grundsätze für die Erforschung der Be-
schaffenheit der Dinge, und eben so einfache Mari-
men für die Behandlung der Dinge zu erfinden.
Die ästhetische Größe, in so fern sie dem Verstand eine
beträchtliche Ausdähnung giebt, wird also darin be-
stehen, daß der Künstler die Mittel gefunden habe,

in

[Spaltenumbruch]

Gro
in der Mahlerey das Colorit den Charakter der Groͤße,
das bey einer vollkommenen Harmonie aus großen
Maſſen vom Hellen und Dunkeln, und aus großen
Parthien von Farben beſteht; ſo findet man in dem
Gewande den Charakter der Groͤße, das aus weni-
gen, großen, aber natuͤrlichen und mit dem ganzen
uͤbereinſtimmenden Falten beſteht. Zu dem großen
Anſehen einer Stadt, die man von Ferne ſieht, iſt es
nicht genug, daß man eine unzaͤhlige Menge von
Haͤuſern entdeke; ſie muͤſſen in große Parthien oder
Quartiere vertheilet ſeyn, an verſchiedenen Orten
muͤſſen einige hohe Daͤcher, oder Thuͤrmer und Cu-
peln ſich in die Luft erheben, und um dieſe herum
muͤſſen die niedrigen Gebaͤude ſich in große Grup-
pen verſammeln. Ein einzeles Gebaͤude wird nie
durch eine große Hoͤhe oder Breite, noch durch eine
unzaͤhlige Menge von Thuͤren, Fenſtern, Saͤulen und
Zierrathen, den Begriff der aͤſthetiſchen Groͤße er-
weken; aber alsdann wird er entſtehen, wenn das
Mannigfaltige darin in etliche große Parthien ſo zu-
ſammen gehalten wird, daß die kleinen Theile nicht
im Verhaͤltniß des Ganzen, ſondern im Verhaͤltniß
mit den Haupttheilen, dazu ſie gehoͤren, in das Aug
fallen; die Haupttheile ſelbſt aber ſich ſo genau zu-
ſammen verbinden, daß ein unzertrennliches harmo-
niſches Ganze daraus entſtehe. Denn dadurch wird
das Aug des Kenners gleichſam gezwungen das Ge-
baͤude nur im Ganzen zu betrachten, um von allem
auf einmal geruͤhrt zu werden.

Der Kuͤnſtler, der dieſer Spuhr folgen will, wird
in jedem beſondern Falle, da er ſichtbare. Gegen-
ſtaͤnde zu behandeln hat, leicht die Mittel bemerken,
wodurch er ihnen den Charakter der Groͤße in Ab-
ſicht auf die Form geben kann. Er muß dem Gan-
zen durch wenig Hauptparthien Einfalt zu geben
wiſſen, damit das Aug oder die Einbildungskraft,
nicht auf das Einzele falle, und die kleinen Theile
muß er den Haupttheilen anpaſſen und unterordnen.
Alsdann ſcheinet es, daß er durch wenig Veranſtal-
tung viel ausgerichtet habe. Durch dieſes Mittel
hat Klopſtok im zweyten Geſang des Meßias, der
Verſammlung der Schaar hoͤlliſcher Geiſter um den
Thron Satans, eine ungemeine Groͤße gegeben.
Er ſtellt nur wenige Haͤupter derſelben einzeln dar,
und die unermeßliche Schaar der uͤbrigen in einem
Haufen, und dann legt er das erſtaunliche Gemaͤhlde
vermittelſt eines wahrhaftig großen Gleichniſſes durch
wenig Zuͤge vor unſer Geſicht.

[Spaltenumbruch]
Gro
Alſo verſammelten ſich die Fuͤrſten der Hoͤlle zu Satan.
Wie di Jnſelu des Meeres aus ihren Sitzen geriſſen,
Rauſchten ſie hoch, unauf haltſam einher. Der Poͤbel der
Geiſter
Floß mit ihnen unzaͤhlbar, wie Wogen des kommenden Welt-
meers
Gegen den Fuß vorgebirgter Geſtade, zum Sitze des Satans.

Es waͤre leicht noch unzaͤhlige Beyſpiele aus den
zeichnenden und redenden Kuͤnſten anzufuͤhren, wo-
durch die vorhergehenden Anmerkungen uͤber das
Große der Sinnen und der Einbildungskraft, be-
ſtaͤtiget werden; aber dieſes wenige iſt fuͤr nachden-
kende Kuͤnſtler hinreichend.

Wir kommen itzt auf die Betrachtung der Groͤße,
die den Gegenſtaͤnden des Verſtandes eigen iſt Aus
dem, was uͤberhaupt uͤber den Charakter der Groͤße
angemerkt worden iſt, laͤßt ſich gleich abnehmen,
daß dieſe Groͤße alsdann entſtehe, wenn vermittelſt
weniger Hauptbegriffe, der Verſtand auf einmal ſo
viel erblikt, daß er ſich merklich angreifen muß, um
alles zu faſſen. Schon einzele Begriffe haben eine
Groͤße, wenn ſie bey einer anſcheinenden Einfalt und
Leichtigkeit gefaßt zu werden, weit uͤber den Ver-
ſtand Licht ausbreiten. Die Groͤße ſolcher Begriffe
entſteht insgemein aus vielbedeutenden matapho-
riſchen Ausdruͤken, oder andern Tropen; wie wenn
man von einem, von ſeinem boͤſen Gewiſſen geplag-
ten Menſchen ſagt; er trage die Hoͤlle in ſeinem ei-
genen Herzen, oder wie wenn Haller von der Hel-
vetier Heldenahnen ſagt; in deren Arm der Blitz
und Gott im Herzen war.

Große Gedanken zeigen allemal Reichthum der
Begriffe mit Einfalt verbunden. Pope druͤkt den
ganzen Jnhalt ſeines dritten Briefes uͤber den Men-
ſchen durch dieſen ſehr einfachen Satz aus: die all-
gemeine Urſach arbeitet auf einen Zwek, aber nach
mannigfaltig abgeaͤnderten Geſetzen.
Dieſes iſt ein
Gedanken, oder eine Beobachtung von ungemeiner
Groͤße, weil eine unermeßliche Mannigfaltigkeit ein-
zeler, und dem Scheine nach durch einander laufen-
der Wuͤrkungen, auf eine einzige Hauptquelle zuruͤk
gefuͤhrt wird. Menſchen von großem Verſtande ſind
allein faͤhig, ſehr einfache, zugleich aber ſich weit er-
ſtrekende, Grundſaͤtze fuͤr die Erforſchung der Be-
ſchaffenheit der Dinge, und eben ſo einfache Mari-
men fuͤr die Behandlung der Dinge zu erfinden.
Die aͤſthetiſche Groͤße, in ſo fern ſie dem Verſtand eine
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ſtehen, daß der Kuͤnſtler die Mittel gefunden habe,

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[492/0504] Gro Gro in der Mahlerey das Colorit den Charakter der Groͤße, das bey einer vollkommenen Harmonie aus großen Maſſen vom Hellen und Dunkeln, und aus großen Parthien von Farben beſteht; ſo findet man in dem Gewande den Charakter der Groͤße, das aus weni- gen, großen, aber natuͤrlichen und mit dem ganzen uͤbereinſtimmenden Falten beſteht. Zu dem großen Anſehen einer Stadt, die man von Ferne ſieht, iſt es nicht genug, daß man eine unzaͤhlige Menge von Haͤuſern entdeke; ſie muͤſſen in große Parthien oder Quartiere vertheilet ſeyn, an verſchiedenen Orten muͤſſen einige hohe Daͤcher, oder Thuͤrmer und Cu- peln ſich in die Luft erheben, und um dieſe herum muͤſſen die niedrigen Gebaͤude ſich in große Grup- pen verſammeln. Ein einzeles Gebaͤude wird nie durch eine große Hoͤhe oder Breite, noch durch eine unzaͤhlige Menge von Thuͤren, Fenſtern, Saͤulen und Zierrathen, den Begriff der aͤſthetiſchen Groͤße er- weken; aber alsdann wird er entſtehen, wenn das Mannigfaltige darin in etliche große Parthien ſo zu- ſammen gehalten wird, daß die kleinen Theile nicht im Verhaͤltniß des Ganzen, ſondern im Verhaͤltniß mit den Haupttheilen, dazu ſie gehoͤren, in das Aug fallen; die Haupttheile ſelbſt aber ſich ſo genau zu- ſammen verbinden, daß ein unzertrennliches harmo- niſches Ganze daraus entſtehe. Denn dadurch wird das Aug des Kenners gleichſam gezwungen das Ge- baͤude nur im Ganzen zu betrachten, um von allem auf einmal geruͤhrt zu werden. Der Kuͤnſtler, der dieſer Spuhr folgen will, wird in jedem beſondern Falle, da er ſichtbare. Gegen- ſtaͤnde zu behandeln hat, leicht die Mittel bemerken, wodurch er ihnen den Charakter der Groͤße in Ab- ſicht auf die Form geben kann. Er muß dem Gan- zen durch wenig Hauptparthien Einfalt zu geben wiſſen, damit das Aug oder die Einbildungskraft, nicht auf das Einzele falle, und die kleinen Theile muß er den Haupttheilen anpaſſen und unterordnen. Alsdann ſcheinet es, daß er durch wenig Veranſtal- tung viel ausgerichtet habe. Durch dieſes Mittel hat Klopſtok im zweyten Geſang des Meßias, der Verſammlung der Schaar hoͤlliſcher Geiſter um den Thron Satans, eine ungemeine Groͤße gegeben. Er ſtellt nur wenige Haͤupter derſelben einzeln dar, und die unermeßliche Schaar der uͤbrigen in einem Haufen, und dann legt er das erſtaunliche Gemaͤhlde vermittelſt eines wahrhaftig großen Gleichniſſes durch wenig Zuͤge vor unſer Geſicht. Alſo verſammelten ſich die Fuͤrſten der Hoͤlle zu Satan. Wie di Jnſelu des Meeres aus ihren Sitzen geriſſen, Rauſchten ſie hoch, unauf haltſam einher. Der Poͤbel der Geiſter Floß mit ihnen unzaͤhlbar, wie Wogen des kommenden Welt- meers Gegen den Fuß vorgebirgter Geſtade, zum Sitze des Satans. Es waͤre leicht noch unzaͤhlige Beyſpiele aus den zeichnenden und redenden Kuͤnſten anzufuͤhren, wo- durch die vorhergehenden Anmerkungen uͤber das Große der Sinnen und der Einbildungskraft, be- ſtaͤtiget werden; aber dieſes wenige iſt fuͤr nachden- kende Kuͤnſtler hinreichend. Wir kommen itzt auf die Betrachtung der Groͤße, die den Gegenſtaͤnden des Verſtandes eigen iſt Aus dem, was uͤberhaupt uͤber den Charakter der Groͤße angemerkt worden iſt, laͤßt ſich gleich abnehmen, daß dieſe Groͤße alsdann entſtehe, wenn vermittelſt weniger Hauptbegriffe, der Verſtand auf einmal ſo viel erblikt, daß er ſich merklich angreifen muß, um alles zu faſſen. Schon einzele Begriffe haben eine Groͤße, wenn ſie bey einer anſcheinenden Einfalt und Leichtigkeit gefaßt zu werden, weit uͤber den Ver- ſtand Licht ausbreiten. Die Groͤße ſolcher Begriffe entſteht insgemein aus vielbedeutenden matapho- riſchen Ausdruͤken, oder andern Tropen; wie wenn man von einem, von ſeinem boͤſen Gewiſſen geplag- ten Menſchen ſagt; er trage die Hoͤlle in ſeinem ei- genen Herzen, oder wie wenn Haller von der Hel- vetier Heldenahnen ſagt; in deren Arm der Blitz und Gott im Herzen war. Große Gedanken zeigen allemal Reichthum der Begriffe mit Einfalt verbunden. Pope druͤkt den ganzen Jnhalt ſeines dritten Briefes uͤber den Men- ſchen durch dieſen ſehr einfachen Satz aus: die all- gemeine Urſach arbeitet auf einen Zwek, aber nach mannigfaltig abgeaͤnderten Geſetzen. Dieſes iſt ein Gedanken, oder eine Beobachtung von ungemeiner Groͤße, weil eine unermeßliche Mannigfaltigkeit ein- zeler, und dem Scheine nach durch einander laufen- der Wuͤrkungen, auf eine einzige Hauptquelle zuruͤk gefuͤhrt wird. Menſchen von großem Verſtande ſind allein faͤhig, ſehr einfache, zugleich aber ſich weit er- ſtrekende, Grundſaͤtze fuͤr die Erforſchung der Be- ſchaffenheit der Dinge, und eben ſo einfache Mari- men fuͤr die Behandlung der Dinge zu erfinden. Die aͤſthetiſche Groͤße, in ſo fern ſie dem Verſtand eine betraͤchtliche Ausdaͤhnung giebt, wird alſo darin be- ſtehen, daß der Kuͤnſtler die Mittel gefunden habe, in

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 492. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/504>, abgerufen am 22.11.2024.