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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Gle
in dem Vortrage des Gleichnisses alles damit über-
einstimme. Denn jede Empfindung hat ihren eige-
nen Ton; einige sind heftig, andre zärtlich und sanft,
einige vergnügt, andre traurig. Wie nun das
Bild zum Gleichnis auf das genaueste mit der Art
der Empfindung übereinkommen muß, so soll auch
der Ausdruk und Ton desselben ihr angemessen seyn.
Wenn Klopstok uns recht in die Empfindung setzen
will, in welcher die Schutzengel der Jünger Jesu ge-
wesen, da sie den am Oelberge schlafenden Johannes
betrachten, so bedienet er sich dieses Gleichnisses:

Also stehen brey Brüder um eine geliebteste Schwester,
Zärtlich herum, wenn sie auf weich verbreiteten Blumen
Unbesorgt schläft, und in blühender Jugend Unsterblichen
gleichet.
Ach sie weiß es noch nicht, daß ihrem redlichen Vater
Seiner Tugenden Ende sich naht. Jhr dieses zu sagen
Kamen die Brüder; allein sie sahen, sie schlummern und
(*) Messias
IV Gesan[g].
schwiegen (*).

Weil hier die Empfindung, die wir recht fühlen und
genießen sollen, von zärtlich trauriger Art ist, so ist
nicht nur das Bild selbst vollkommen in dieser Art,
sondern auch der Ausdruk und der Ton; alles bis
auf die kleinesten Nebenbegriffe, und auch der Ton
der Worte und der Fluß des Verses ist zärtlich und
traurig. Hingegen da, wo eben dieser große Dichter
uns die schrekliche Unruhe will empfinden machen,
die Kaiphas von dem, ihm vom Satan eingehauch-
ten, Traum gehabt hat, ist nicht blos das Bild der
Vergleichung, sondern auch der Ausdruk und der
(*) im An-
fange des
IV Ges.
Ton erschreklich (*).

Jn der Behandlung unterscheiden sich diese Gleich-
nisse von den Erläuternden auch dadurch, daß
nicht jeder Nebenbegriff in dem Bilde bedeutend seyn
därf. Da es hier nicht auf Unterricht, sondern auf
Rührung ankömmt, so ist darin alles gut, was die
Art der Empfindung unterstützet, wenn es gleich zur
Aehnlichkeit nichts beyträgt. Das Gleichnis, das
Klopstok braucht, die Wuth der Sadducäer gegen den
(*) Meßias
IV Ges.
Philo lebhaft zu schildern, (*) enthält verschiedene
kleine Umstände, die nichts zur Aehnlichkeit beytra-
gen, sondern nur überhaupt dienen, den schrekhaf-
ten Eindruk zu unterstützen. Jn allen solchen Fäl-
len ist es vortheilhaft, das Bild nicht nur genau
auszumahlen, sondern es der Phantasie so vorzu-
halten, daß man das Gegenbild eine Zeitlang aus
dem Gesichte verliehrt. Denn da es hier blos dar-
um zu thun ist, daß die sich schon äussernde Empfin-
dung unterstützt werde, so muß das hiezu dienliche
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Gle
Bild so nahe vors Gesicht gebracht werden, daß
man es zu sehen glaubt. Dieses aber kann nicht
anders, als durch Bezeichnung der kleinesten Um-
stände geschehen. Jn dem so eben erwähnten Fall,
wenn der Dichter gesagt hat:
-- Jhn sahn die Sadducäer, und standen
Gegen Philo mit Ungestühm auf.

so entsteht bey dem Leser die Erwartung einer fürch-
terlichen Scene. Jtzt ist es dem Dichter nur darum zu
thun, daß die Phantasie ein fürchterliches Stürmen
vor sich sehe, damit die Empfindung lebhaft werde.
Ohne sich ängstlich um völlige Aehnlichkeit zu beküm-
mern, sucht er nur etwas, wodurch die Empfindung
der Furcht unterhalten wird, weil dieses seine Haupt-
absicht ist. Darum beschreibet er uns folgende
Scene, die uns nothwendig in diese Empfindung
setzen muß, wenn wir sie nur nahe vor uns haben.

-- Wie tief in der Feldschlacht
Kriegrische Rosse vorm eisernen Wagen sich zügellos heben.
Wenn die klingende Lanze daher debt, dem rufenden
Feldherrn
Den sie zogen, den Tod trägt, und unter sie, ihn blut-
athmend
Stürzt. Sie wiehern hoch her, und drohn mit funkeln-
den Augen,
Stampfen die Erde, die bebet, und hauchen dem Sturm-
wind entgegen.

Dadurch befinden wir uns plötzlich mitten in einem
fürchterlichen Auftritt, aus dem wir uns durch die
Flucht zu retten wünschen. Dieses ist eben der Zu-
stand, in den uns der Dichter versetzen wollte, da-
mit er in uns den Abscheu gegen die wüthenden Sad-
ducäer erweken möchte, die wir itzt, als die Urhe-
ber dieser Furcht ansehen.

Die Gleichnisse also, welche eine leidenschaftliche
Empfindung zu unterstützen dienen, sind um so viel
würksamer, je mehr die Aufmerksamkeit blos auf
das Bild geheftet wird. Deswegen werden sie
von dem Dichter insgemein so vorgetragen, daß
man das Gegenbild eine Zeitlang aus dem Gesichte
verliehrt, damit die Lebhaftigkeit der Empfindung
durch nichts unterbrochen werde; und durch diesen
besondern Vortrag nähern sie sich in etwas der Alle-
gorie, die auch das Gegenbild nicht neben sich hat,
und werden um so viel lebhafter.

Es ließe sich über die verschiedenen Formen und
über die Ausbildung der Gleichnisse noch viel sagen;
man muß es aber dem Geschmak und dem Urtheile
des Dichters überlassen. Wer indessen eine ausführ-

liche

[Spaltenumbruch]

Gle
in dem Vortrage des Gleichniſſes alles damit uͤber-
einſtimme. Denn jede Empfindung hat ihren eige-
nen Ton; einige ſind heftig, andre zaͤrtlich und ſanft,
einige vergnuͤgt, andre traurig. Wie nun das
Bild zum Gleichnis auf das genaueſte mit der Art
der Empfindung uͤbereinkommen muß, ſo ſoll auch
der Ausdruk und Ton deſſelben ihr angemeſſen ſeyn.
Wenn Klopſtok uns recht in die Empfindung ſetzen
will, in welcher die Schutzengel der Juͤnger Jeſu ge-
weſen, da ſie den am Oelberge ſchlafenden Johannes
betrachten, ſo bedienet er ſich dieſes Gleichniſſes:

Alſo ſtehen brey Bruͤder um eine geliebteſte Schweſter,
Zaͤrtlich herum, wenn ſie auf weich verbreiteten Blumen
Unbeſorgt ſchlaͤft, und in bluͤhender Jugend Unſterblichen
gleichet.
Ach ſie weiß es noch nicht, daß ihrem redlichen Vater
Seiner Tugenden Ende ſich naht. Jhr dieſes zu ſagen
Kamen die Bruͤder; allein ſie ſahen, ſie ſchlummern und
(*) Meſſias
IV Geſan[g].
ſchwiegen (*).

Weil hier die Empfindung, die wir recht fuͤhlen und
genießen ſollen, von zaͤrtlich trauriger Art iſt, ſo iſt
nicht nur das Bild ſelbſt vollkommen in dieſer Art,
ſondern auch der Ausdruk und der Ton; alles bis
auf die kleineſten Nebenbegriffe, und auch der Ton
der Worte und der Fluß des Verſes iſt zaͤrtlich und
traurig. Hingegen da, wo eben dieſer große Dichter
uns die ſchrekliche Unruhe will empfinden machen,
die Kaiphas von dem, ihm vom Satan eingehauch-
ten, Traum gehabt hat, iſt nicht blos das Bild der
Vergleichung, ſondern auch der Ausdruk und der
(*) im An-
fange des
IV Geſ.
Ton erſchreklich (*).

Jn der Behandlung unterſcheiden ſich dieſe Gleich-
niſſe von den Erlaͤuternden auch dadurch, daß
nicht jeder Nebenbegriff in dem Bilde bedeutend ſeyn
daͤrf. Da es hier nicht auf Unterricht, ſondern auf
Ruͤhrung ankoͤmmt, ſo iſt darin alles gut, was die
Art der Empfindung unterſtuͤtzet, wenn es gleich zur
Aehnlichkeit nichts beytraͤgt. Das Gleichnis, das
Klopſtok braucht, die Wuth der Sadducaͤer gegen den
(*) Meßias
IV Geſ.
Philo lebhaft zu ſchildern, (*) enthaͤlt verſchiedene
kleine Umſtaͤnde, die nichts zur Aehnlichkeit beytra-
gen, ſondern nur uͤberhaupt dienen, den ſchrekhaf-
ten Eindruk zu unterſtuͤtzen. Jn allen ſolchen Faͤl-
len iſt es vortheilhaft, das Bild nicht nur genau
auszumahlen, ſondern es der Phantaſie ſo vorzu-
halten, daß man das Gegenbild eine Zeitlang aus
dem Geſichte verliehrt. Denn da es hier blos dar-
um zu thun iſt, daß die ſich ſchon aͤuſſernde Empfin-
dung unterſtuͤtzt werde, ſo muß das hiezu dienliche
[Spaltenumbruch]

Gle
Bild ſo nahe vors Geſicht gebracht werden, daß
man es zu ſehen glaubt. Dieſes aber kann nicht
anders, als durch Bezeichnung der kleineſten Um-
ſtaͤnde geſchehen. Jn dem ſo eben erwaͤhnten Fall,
wenn der Dichter geſagt hat:
— Jhn ſahn die Sadducaͤer, und ſtanden
Gegen Philo mit Ungeſtuͤhm auf.

ſo entſteht bey dem Leſer die Erwartung einer fuͤrch-
terlichen Scene. Jtzt iſt es dem Dichter nur darum zu
thun, daß die Phantaſie ein fuͤrchterliches Stuͤrmen
vor ſich ſehe, damit die Empfindung lebhaft werde.
Ohne ſich aͤngſtlich um voͤllige Aehnlichkeit zu bekuͤm-
mern, ſucht er nur etwas, wodurch die Empfindung
der Furcht unterhalten wird, weil dieſes ſeine Haupt-
abſicht iſt. Darum beſchreibet er uns folgende
Scene, die uns nothwendig in dieſe Empfindung
ſetzen muß, wenn wir ſie nur nahe vor uns haben.

— Wie tief in der Feldſchlacht
Kriegriſche Roſſe vorm eiſernen Wagen ſich zuͤgellos heben.
Wenn die klingende Lanze daher debt, dem rufenden
Feldherrn
Den ſie zogen, den Tod traͤgt, und unter ſie, ihn blut-
athmend
Stuͤrzt. Sie wiehern hoch her, und drohn mit funkeln-
den Augen,
Stampfen die Erde, die bebet, und hauchen dem Sturm-
wind entgegen.

Dadurch befinden wir uns ploͤtzlich mitten in einem
fuͤrchterlichen Auftritt, aus dem wir uns durch die
Flucht zu retten wuͤnſchen. Dieſes iſt eben der Zu-
ſtand, in den uns der Dichter verſetzen wollte, da-
mit er in uns den Abſcheu gegen die wuͤthenden Sad-
ducaͤer erweken moͤchte, die wir itzt, als die Urhe-
ber dieſer Furcht anſehen.

Die Gleichniſſe alſo, welche eine leidenſchaftliche
Empfindung zu unterſtuͤtzen dienen, ſind um ſo viel
wuͤrkſamer, je mehr die Aufmerkſamkeit blos auf
das Bild geheftet wird. Deswegen werden ſie
von dem Dichter insgemein ſo vorgetragen, daß
man das Gegenbild eine Zeitlang aus dem Geſichte
verliehrt, damit die Lebhaftigkeit der Empfindung
durch nichts unterbrochen werde; und durch dieſen
beſondern Vortrag naͤhern ſie ſich in etwas der Alle-
gorie, die auch das Gegenbild nicht neben ſich hat,
und werden um ſo viel lebhafter.

Es ließe ſich uͤber die verſchiedenen Formen und
uͤber die Ausbildung der Gleichniſſe noch viel ſagen;
man muß es aber dem Geſchmak und dem Urtheile
des Dichters uͤberlaſſen. Wer indeſſen eine ausfuͤhr-

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[486/0498] Gle Gle in dem Vortrage des Gleichniſſes alles damit uͤber- einſtimme. Denn jede Empfindung hat ihren eige- nen Ton; einige ſind heftig, andre zaͤrtlich und ſanft, einige vergnuͤgt, andre traurig. Wie nun das Bild zum Gleichnis auf das genaueſte mit der Art der Empfindung uͤbereinkommen muß, ſo ſoll auch der Ausdruk und Ton deſſelben ihr angemeſſen ſeyn. Wenn Klopſtok uns recht in die Empfindung ſetzen will, in welcher die Schutzengel der Juͤnger Jeſu ge- weſen, da ſie den am Oelberge ſchlafenden Johannes betrachten, ſo bedienet er ſich dieſes Gleichniſſes: Alſo ſtehen brey Bruͤder um eine geliebteſte Schweſter, Zaͤrtlich herum, wenn ſie auf weich verbreiteten Blumen Unbeſorgt ſchlaͤft, und in bluͤhender Jugend Unſterblichen gleichet. Ach ſie weiß es noch nicht, daß ihrem redlichen Vater Seiner Tugenden Ende ſich naht. Jhr dieſes zu ſagen Kamen die Bruͤder; allein ſie ſahen, ſie ſchlummern und ſchwiegen (*). Weil hier die Empfindung, die wir recht fuͤhlen und genießen ſollen, von zaͤrtlich trauriger Art iſt, ſo iſt nicht nur das Bild ſelbſt vollkommen in dieſer Art, ſondern auch der Ausdruk und der Ton; alles bis auf die kleineſten Nebenbegriffe, und auch der Ton der Worte und der Fluß des Verſes iſt zaͤrtlich und traurig. Hingegen da, wo eben dieſer große Dichter uns die ſchrekliche Unruhe will empfinden machen, die Kaiphas von dem, ihm vom Satan eingehauch- ten, Traum gehabt hat, iſt nicht blos das Bild der Vergleichung, ſondern auch der Ausdruk und der Ton erſchreklich (*). (*) im An- fange des IV Geſ. Jn der Behandlung unterſcheiden ſich dieſe Gleich- niſſe von den Erlaͤuternden auch dadurch, daß nicht jeder Nebenbegriff in dem Bilde bedeutend ſeyn daͤrf. Da es hier nicht auf Unterricht, ſondern auf Ruͤhrung ankoͤmmt, ſo iſt darin alles gut, was die Art der Empfindung unterſtuͤtzet, wenn es gleich zur Aehnlichkeit nichts beytraͤgt. Das Gleichnis, das Klopſtok braucht, die Wuth der Sadducaͤer gegen den Philo lebhaft zu ſchildern, (*) enthaͤlt verſchiedene kleine Umſtaͤnde, die nichts zur Aehnlichkeit beytra- gen, ſondern nur uͤberhaupt dienen, den ſchrekhaf- ten Eindruk zu unterſtuͤtzen. Jn allen ſolchen Faͤl- len iſt es vortheilhaft, das Bild nicht nur genau auszumahlen, ſondern es der Phantaſie ſo vorzu- halten, daß man das Gegenbild eine Zeitlang aus dem Geſichte verliehrt. Denn da es hier blos dar- um zu thun iſt, daß die ſich ſchon aͤuſſernde Empfin- dung unterſtuͤtzt werde, ſo muß das hiezu dienliche Bild ſo nahe vors Geſicht gebracht werden, daß man es zu ſehen glaubt. Dieſes aber kann nicht anders, als durch Bezeichnung der kleineſten Um- ſtaͤnde geſchehen. Jn dem ſo eben erwaͤhnten Fall, wenn der Dichter geſagt hat: — Jhn ſahn die Sadducaͤer, und ſtanden Gegen Philo mit Ungeſtuͤhm auf. ſo entſteht bey dem Leſer die Erwartung einer fuͤrch- terlichen Scene. Jtzt iſt es dem Dichter nur darum zu thun, daß die Phantaſie ein fuͤrchterliches Stuͤrmen vor ſich ſehe, damit die Empfindung lebhaft werde. Ohne ſich aͤngſtlich um voͤllige Aehnlichkeit zu bekuͤm- mern, ſucht er nur etwas, wodurch die Empfindung der Furcht unterhalten wird, weil dieſes ſeine Haupt- abſicht iſt. Darum beſchreibet er uns folgende Scene, die uns nothwendig in dieſe Empfindung ſetzen muß, wenn wir ſie nur nahe vor uns haben. (*) Meßias IV Geſ. — Wie tief in der Feldſchlacht Kriegriſche Roſſe vorm eiſernen Wagen ſich zuͤgellos heben. Wenn die klingende Lanze daher debt, dem rufenden Feldherrn Den ſie zogen, den Tod traͤgt, und unter ſie, ihn blut- athmend Stuͤrzt. Sie wiehern hoch her, und drohn mit funkeln- den Augen, Stampfen die Erde, die bebet, und hauchen dem Sturm- wind entgegen. Dadurch befinden wir uns ploͤtzlich mitten in einem fuͤrchterlichen Auftritt, aus dem wir uns durch die Flucht zu retten wuͤnſchen. Dieſes iſt eben der Zu- ſtand, in den uns der Dichter verſetzen wollte, da- mit er in uns den Abſcheu gegen die wuͤthenden Sad- ducaͤer erweken moͤchte, die wir itzt, als die Urhe- ber dieſer Furcht anſehen. Die Gleichniſſe alſo, welche eine leidenſchaftliche Empfindung zu unterſtuͤtzen dienen, ſind um ſo viel wuͤrkſamer, je mehr die Aufmerkſamkeit blos auf das Bild geheftet wird. Deswegen werden ſie von dem Dichter insgemein ſo vorgetragen, daß man das Gegenbild eine Zeitlang aus dem Geſichte verliehrt, damit die Lebhaftigkeit der Empfindung durch nichts unterbrochen werde; und durch dieſen beſondern Vortrag naͤhern ſie ſich in etwas der Alle- gorie, die auch das Gegenbild nicht neben ſich hat, und werden um ſo viel lebhafter. Es ließe ſich uͤber die verſchiedenen Formen und uͤber die Ausbildung der Gleichniſſe noch viel ſagen; man muß es aber dem Geſchmak und dem Urtheile des Dichters uͤberlaſſen. Wer indeſſen eine ausfuͤhr- liche

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 486. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/498>, abgerufen am 25.11.2024.