Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Gle losoph seine Gedanken von der Fürtrefflichkeit derphilosophischen Schriften des Panätius erläutert. "Gleichwie sich kein Mahler gefunden, der sich getrauet hätte, die vom Apelles angefangene Venus fertig zu machen, indem die Schönheit des Gesichts jedem die Hofnung benahm, die übrigen Theile des Leibes auf eine ähnliche Art zu vollenden; so hat auch Niemand das, was Panätius in seinen Schriften unausgeführt gelassen, wegen der Fürtrefflichkeit dessen, was schon (*) Cic. Offic. III. 2.vorhanden war, auszuführen unternommen." (*) Der zweyte Fall hat da statt, wenn uns ein Ge- Man gebe nur Achtung, wie die Phantasie, so So wünschen wir die intressanten Situationen, Gle zu können, und suchen alles hervor, was uns dieseserleichtert. So fand Bodmer den Zustand der Brü- der Josephs, in dem Augenblik, da Josephs Becher in Benjamins Kornsak entdekt wurd, so sehr intres- sant, daß er sich bey diesem Gegenstande nicht nur verweilet, sondern das Bestreben äussert sich die leb- hafteste Vorstellung davon zu machen, wie der betäu- bende Schreken alle Brüder auf einmal befallen; hieraus entstuhnd denn dieses schöne Gleichnis: Wie der Blitz des elektrischen Drats den Körper der(*) Jacob II Gesang. So fand auch Homer die Scene, da Ulysses mit ei- L. IX. vs. 391 f. f. Auch in der lyrischen Dichtkunst liebet der Dich- oder P p p 2
[Spaltenumbruch] Gle loſoph ſeine Gedanken von der Fuͤrtrefflichkeit derphiloſophiſchen Schriften des Panaͤtius erlaͤutert. „Gleichwie ſich kein Mahler gefunden, der ſich getrauet haͤtte, die vom Apelles angefangene Venus fertig zu machen, indem die Schoͤnheit des Geſichts jedem die Hofnung benahm, die uͤbrigen Theile des Leibes auf eine aͤhnliche Art zu vollenden; ſo hat auch Niemand das, was Panaͤtius in ſeinen Schriften unausgefuͤhrt gelaſſen, wegen der Fuͤrtrefflichkeit deſſen, was ſchon (*) Cic. Offic. III. 2.vorhanden war, auszufuͤhren unternommen.‟ (*) Der zweyte Fall hat da ſtatt, wenn uns ein Ge- Man gebe nur Achtung, wie die Phantaſie, ſo So wuͤnſchen wir die intreſſanten Situationen, Gle zu koͤnnen, und ſuchen alles hervor, was uns dieſeserleichtert. So fand Bodmer den Zuſtand der Bruͤ- der Joſephs, in dem Augenblik, da Joſephs Becher in Benjamins Kornſak entdekt wurd, ſo ſehr intreſ- ſant, daß er ſich bey dieſem Gegenſtande nicht nur verweilet, ſondern das Beſtreben aͤuſſert ſich die leb- hafteſte Vorſtellung davon zu machen, wie der betaͤu- bende Schreken alle Bruͤder auf einmal befallen; hieraus entſtuhnd denn dieſes ſchoͤne Gleichnis: Wie der Blitz des elektriſchen Drats den Koͤrper der(*) Jacob II Geſang. So fand auch Homer die Scene, da Ulyſſes mit ei- L. IX. vs. 391 f. f. Auch in der lyriſchen Dichtkunſt liebet der Dich- oder P p p 2
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loſoph ſeine Gedanken von der Fuͤrtrefflichkeit der
philoſophiſchen Schriften des Panaͤtius erlaͤutert.
„Gleichwie ſich kein Mahler gefunden, der ſich getrauet
haͤtte, die vom Apelles angefangene Venus fertig zu
machen, indem die Schoͤnheit des Geſichts jedem die
Hofnung benahm, die uͤbrigen Theile des Leibes auf
eine aͤhnliche Art zu vollenden; ſo hat auch Niemand
das, was Panaͤtius in ſeinen Schriften unausgefuͤhrt
gelaſſen, wegen der Fuͤrtrefflichkeit deſſen, was ſchon
vorhanden war, auszufuͤhren unternommen.‟ (*)
(*) Cic.
Offic. III. 2.
Der zweyte Fall hat da ſtatt, wenn uns ein Ge-
genſtand vorkoͤmmt, der uns lebhaft ruͤhret, es ſey
daß er eine vergnuͤgte oder beunruhigende Empfindung
erweket; denn da entſtehet allemal die Begierde, ſol-
chen Gegenſtand mit voͤlliger Lebhaftigkeit zu em-
pfinden, und ſich bey dieſer Empfindung zu verwei-
len. Beydes koͤmmt ſo wol in der epiſchen, als in
der lyriſchen Dichtkunſt, auch in einigen Reden gar
ofte vor. Man empfindet ſehr klar, wie das vor-
her aus der Jlias angefuͤhrte Gleichnis entſtanden
iſt. Der Dichter ſah in ſeiner Phantaſie, wie dem
verwundeten Menelaus das Blut uͤber den ent-
bloͤßten Schenkel bis auf die Ferſe herunter floß.
So wol die ſchoͤne Geſtalt des Helden, als das her-
unterfließende Blut wird ein Gegenſtand, auf dem
er ſich zu verweilen wuͤnſchet, weil ſie ihn in eine
ſanfte Empfindung ſetzten. Jndem er ſich auf die-
ſem Gegenſtande verweilet, erwekt ſo wol die ſchoͤne
Bildung des verwundeten Gliedes, als das herab-
rinnende Blut, das Bild, welches er zur Verglei-
chung anwendet. So entſteht das Gleichnis, ſo ofte
wir den Eindruk, den die beſondere Beſchaffenheit
eines Gegenſtandes auf uns macht, gerne durch eine
noch lebhaftere Vorſtellung deſſelben zu unterhal-
ten und zu vermehren wuͤnſchen.
Man gebe nur Achtung, wie die Phantaſie, ſo
ofte man uns etwas Jntreſſantes erzaͤhlt, beſchaͤfti-
get iſt, ſich jeden Umſtand auf das lebhafteſte vor-
zumahlen, und wie ſie zu dem Ende uͤberall die hel-
leſten Bilder aufſucht, vermittelſt welcher ſie ſich dieſe
Vorſtellung erleichtert. Man thut es nicht blos bey
Gegenſtaͤnden, die vergnuͤgte Empfindungen erwe-
ken, ſondern auch bey traurigen, ſo gar bisweilen
bey ſchmerzhaften. Denn wir lieben uns in die
lebhaften Empfindungen andrer zu ſetzen, auch als-
dann, wenn ſie unangenehin ſind.
So wuͤnſchen wir die intreſſanten Situationen,
darin wir andre ſehen, uns recht lebhaft vorſtellen
zu koͤnnen, und ſuchen alles hervor, was uns dieſes
erleichtert. So fand Bodmer den Zuſtand der Bruͤ-
der Joſephs, in dem Augenblik, da Joſephs Becher
in Benjamins Kornſak entdekt wurd, ſo ſehr intreſ-
ſant, daß er ſich bey dieſem Gegenſtande nicht nur
verweilet, ſondern das Beſtreben aͤuſſert ſich die leb-
hafteſte Vorſtellung davon zu machen, wie der betaͤu-
bende Schreken alle Bruͤder auf einmal befallen;
hieraus entſtuhnd denn dieſes ſchoͤne Gleichnis:
Wie der Blitz des elektriſchen Drats den Koͤrper der
Menſchen
Ploͤtzlich durchfaͤhrt und die Sinnen betaͤubt; wie er ſchnell
von dem erſten
Zu dem folgenden fortgeht, und alle durchfaͤhrt und betaͤubet:
Alſo durchfuhr der Schlag von Zophnats gefundenem Becher
Benjamius Buſen, bey dem er ſich fand und auf einmal die
Herzen
Seiner Bruͤder: er ſchlug auf ihr aller inwendigſte Sinnen (*)
So fand auch Homer die Scene, da Ulyſſes mit ei-
nem gluͤhenden Pfahl dem Cyclopen das Aug aus-
brennt, ſo intreſſant, daß er ſich jeden Umſtand der-
ſelben auf das Lebhafteſte vorzuſtellen beſtrebte. Wie
ein aͤuſſerſt neugieriger Zuſchauer naͤhert er ſich der-
ſelben, ſo weit er kann, damit ihm gar nichts davon
entgehe. Nun ſieht er, wie die Maͤnner die gluͤhende
Spitze des Pfahls auf das Aug des Rieſen ſetzen und
ſchnell, wie einen Bohrer herum draͤhen; dieſes
mahlt er durch ein Gleichnis. Dann hoͤret er das
Ziſchen, das die Gluth in dem feuchten Auge verur-
ſachet. Dieſer Umſtand ruͤhrt ihn wieder beſonders
und bringt ihm das Ziſchen zu Sinne, welches ein
in kaltem Waſſer abgeloͤſchtes gluͤhendes Eiſen verur-
ſachet; daher entſteht das zweyte Gleichnis. „Wie
eine Axt oder Schaufel, die der Schmidt zum Haͤrt-
nen ins kalte Waſſer tauchet (denn davon bekoͤmmt
das Eiſen ſeine Staͤrke) ſo ziſchete und brauſete das
Aug des Cyklopen, als es von der Spitze des Oli-
ven Pfahles beruͤhrt wurd.‟ (*)
Auch in der lyriſchen Dichtkunſt liebet der Dich-
ter bisweilen ſich auf dem Gegenſtande zu verweilen.
Wo die Begeiſterung ſehr lebhaft iſt, da geht das
Gleichnis leicht in die Allegorie uͤber; aber bey etwas
gemaͤßigter Empfindung erſcheinet es in ſeiner eige-
nen Geſtalt. Wenn der Dichter den Gegenſtand
ſeiner Empfindung ſchildert, ſo wird es ihm natuͤr-
lich; denn nirgend verweilet man ſich lieber, als
auf einem Gegenſtande zaͤrtlicher Empfindungen.
Das hohe Lied Salomons zeiget einen großen Reich-
thum deſſelben. Auch da, wo die Empfindung ſelbſt,
oder
P p p 2
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