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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ges
an den Säulenordnungen genommen. Die Ge-
simse an den Wänden der Zimmer aber, wo sehr
selten die Glieder, die den Unterbalken und den Fries
vorstellen, angebracht werden, können nach dem
Verhältnis des Kranzes am Gebälke gemacht wer-
den, vom zwölften bis zum funfzehenden oder
sechszehenden Theil der Höhe der Wand.

Die Menge der kleinen Glieder muß man dabey
vermeiden, und die Auslaufungen müssen vom un-
tersten bis zum obersten Glied immer zunehmen.
Die ganze Ausladung kann der Höhe des Gesimses
gleich seyn, oder gegen sie das Verhältnis wie 3 : 4,
oder wie 2 : 3 haben.

Die Wandgesimse in den Zimmern werden gegen-
wärtig so gemacht, daß das oberste Glied nicht un-
mittelbar an die Deke anschließt; man läßt über
dem Gesims eine große Holkehle an die Deke an-
laufen. Dieses ist unstreitig besser, als die alte
Art; denn ein Gesims kann wegen seiner Aus-
laufung nichts tragen, sondern alle Last muß auf
die feste Mauer gesetzt werden.

Gespräch.

Kurze unter mehrern Personen abwechselnde Re-
den, nach Art derjenigen, die in dem täglichen Um-
gang über Geschäfte, Angelegenheiten oder über
spekulative Materien vorfallen. Dergleichen Ge-
spräche machen eine besondere Gattung der Werke
redender Künste, die eine nähere Beleuchtung der
Critik verdienet. Es ist aber hier blos von den Ge-
sprächen die Rede, die eine ästhetische Behandlung
vertragen, und als Werke des Geschmaks erschei-
nen; denn diejenigen, die philosophische Untersu-
chungen, oder Beweise gewisser Wahrheiten nach
den Regeln der Vernunftlehre zum Grunde haben,
wie die Gespräche, darin Plato und Xenophon die
sokratische Philosophie vorgetragen, oder die Dialo-
gen des Cicero, gehören der Philosophie zu, und kön-
nen nicht eigentlich zu den Werken der Beredsam-
keit oder Dichtkunst gerechnet werden. Die philo-
sophischen Gespräche haben mehr deutliche Erkennt-
nis, als lebhaftes Gefühl der Sachen zum Endzwek;
deswegen auch Quintilian sie den Werken der Be-
redsamkeit entgegen setzt. [Spaltenumbruch] (+)

[Spaltenumbruch]
Ges

Gespräche, die man als Werke des Geschmaks
anzusehen hat, zielen nicht auf methodische Unter-
suchungen ab; sie sind Aeusserungen der Sinnesart
der sich unterredenden Personen, die darin ihren
Geist und ihr Herz entfalten, ihre eigene Art die Sa-
chen zu sehen und zu empfinden an den Tag legen.
So sind die Gespräche, die Lucianus geschrieben,
und die in dem Drama vorkommenden Reden.

Wir müssen uns, um den Werth dieser Gattung
richtig zu beurtheilen, und auch um zu einigen
Grundsätzen über ihre wahre Beschaffenheit zu ge-
langen, zuvoderst in den eigentlichen Gesichtspunkt
stellen, aus dem man das Gespräch zu beurthei-
len hat.

Unstreitig ist das menschliche Gemüth, dessen Art
zu denken, zu empfinden, zu begehren und zu ver-
abscheuen, der intressanteste Gegenstand unserer Be-
trachtung. Einem denkenden Menschen kann nichts
angenehmeres seyn, als bey gewissen Gelegenheiten
in die Seelen anderer Menschen hineinzuschauen,
ihre Gedanken darin zu lesen und ihre Empfindun-
gen zu fühlen. Es geschieht allemal mit Vergnü-
gen, wenn man unbemerkt Menschen von lebhaf-
ter Physionomie beobachten kann; blos, weil man
die Gedanken und Empfindungen der Seele einiger-
maaßen auf ihren Gesichtern siehet. Dergleichen
Beobachtungen des innern Zustandes der Menschen
sind aber auch zugleich höchst nützlich, indem das
darin liegende Gute und Böse vortheilhafte Ein-
drüke in uns zurüke läßt. Ein scharfer Beobachter
der Menschen därf nur noch einigermaaßen unpar-
theyisch gegen sich selbst seyn, um durch seine Beob-
achtungen jedes Gute, das er sieht, sich zu zueignen
und jedes Schlechte zu Besserung seiner eigenen
Fehler anzuwenden.

Wie nun die schönen Künste überhaupt durch
ihre Schilderungen ersetzen, was uns an würkli-
cher Erfahrung abgeht, so ist es ein wichtiger Theil
ihres Zweks, uns die Beobachtung über die Sin-
nesart der Menschen zu erleichtern. Darum mahlt
der Historienmahler die Scenen, die wir selbst nicht
gesehen haben, und läßt uns durch die Gesichter der
Personen in ihre Seelen hinein schauen; darum schil-
dert uns der Geschichtschreiber die Charaktere der
Personen; darum bringt der epische Dichter diesel-

ben
(+) Er sagt von einer gewissen Art des Vortrages,
in welchem Schlüsse auf Schlüsse folgen, er sey Dia-
[Spaltenumbruch] logis
et dialecticis disputationibus simillor, quam nostri Opt-
ris
actionibus. Jnstit. V.
14. 27.
Erster Theil. O o o

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Geſ
an den Saͤulenordnungen genommen. Die Ge-
ſimſe an den Waͤnden der Zimmer aber, wo ſehr
ſelten die Glieder, die den Unterbalken und den Fries
vorſtellen, angebracht werden, koͤnnen nach dem
Verhaͤltnis des Kranzes am Gebaͤlke gemacht wer-
den, vom zwoͤlften bis zum funfzehenden oder
ſechszehenden Theil der Hoͤhe der Wand.

Die Menge der kleinen Glieder muß man dabey
vermeiden, und die Auslaufungen muͤſſen vom un-
terſten bis zum oberſten Glied immer zunehmen.
Die ganze Ausladung kann der Hoͤhe des Geſimſes
gleich ſeyn, oder gegen ſie das Verhaͤltnis wie 3 : 4,
oder wie 2 : 3 haben.

Die Wandgeſimſe in den Zimmern werden gegen-
waͤrtig ſo gemacht, daß das oberſte Glied nicht un-
mittelbar an die Deke anſchließt; man laͤßt uͤber
dem Geſims eine große Holkehle an die Deke an-
laufen. Dieſes iſt unſtreitig beſſer, als die alte
Art; denn ein Geſims kann wegen ſeiner Aus-
laufung nichts tragen, ſondern alle Laſt muß auf
die feſte Mauer geſetzt werden.

Geſpraͤch.

Kurze unter mehrern Perſonen abwechſelnde Re-
den, nach Art derjenigen, die in dem taͤglichen Um-
gang uͤber Geſchaͤfte, Angelegenheiten oder uͤber
ſpekulative Materien vorfallen. Dergleichen Ge-
ſpraͤche machen eine beſondere Gattung der Werke
redender Kuͤnſte, die eine naͤhere Beleuchtung der
Critik verdienet. Es iſt aber hier blos von den Ge-
ſpraͤchen die Rede, die eine aͤſthetiſche Behandlung
vertragen, und als Werke des Geſchmaks erſchei-
nen; denn diejenigen, die philoſophiſche Unterſu-
chungen, oder Beweiſe gewiſſer Wahrheiten nach
den Regeln der Vernunftlehre zum Grunde haben,
wie die Geſpraͤche, darin Plato und Xenophon die
ſokratiſche Philoſophie vorgetragen, oder die Dialo-
gen des Cicero, gehoͤren der Philoſophie zu, und koͤn-
nen nicht eigentlich zu den Werken der Beredſam-
keit oder Dichtkunſt gerechnet werden. Die philo-
ſophiſchen Geſpraͤche haben mehr deutliche Erkennt-
nis, als lebhaftes Gefuͤhl der Sachen zum Endzwek;
deswegen auch Quintilian ſie den Werken der Be-
redſamkeit entgegen ſetzt. [Spaltenumbruch] (†)

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Geſ

Geſpraͤche, die man als Werke des Geſchmaks
anzuſehen hat, zielen nicht auf methodiſche Unter-
ſuchungen ab; ſie ſind Aeuſſerungen der Sinnesart
der ſich unterredenden Perſonen, die darin ihren
Geiſt und ihr Herz entfalten, ihre eigene Art die Sa-
chen zu ſehen und zu empfinden an den Tag legen.
So ſind die Geſpraͤche, die Lucianus geſchrieben,
und die in dem Drama vorkommenden Reden.

Wir muͤſſen uns, um den Werth dieſer Gattung
richtig zu beurtheilen, und auch um zu einigen
Grundſaͤtzen uͤber ihre wahre Beſchaffenheit zu ge-
langen, zuvoderſt in den eigentlichen Geſichtspunkt
ſtellen, aus dem man das Geſpraͤch zu beurthei-
len hat.

Unſtreitig iſt das menſchliche Gemuͤth, deſſen Art
zu denken, zu empfinden, zu begehren und zu ver-
abſcheuen, der intreſſanteſte Gegenſtand unſerer Be-
trachtung. Einem denkenden Menſchen kann nichts
angenehmeres ſeyn, als bey gewiſſen Gelegenheiten
in die Seelen anderer Menſchen hineinzuſchauen,
ihre Gedanken darin zu leſen und ihre Empfindun-
gen zu fuͤhlen. Es geſchieht allemal mit Vergnuͤ-
gen, wenn man unbemerkt Menſchen von lebhaf-
ter Phyſionomie beobachten kann; blos, weil man
die Gedanken und Empfindungen der Seele einiger-
maaßen auf ihren Geſichtern ſiehet. Dergleichen
Beobachtungen des innern Zuſtandes der Menſchen
ſind aber auch zugleich hoͤchſt nuͤtzlich, indem das
darin liegende Gute und Boͤſe vortheilhafte Ein-
druͤke in uns zuruͤke laͤßt. Ein ſcharfer Beobachter
der Menſchen daͤrf nur noch einigermaaßen unpar-
theyiſch gegen ſich ſelbſt ſeyn, um durch ſeine Beob-
achtungen jedes Gute, das er ſieht, ſich zu zueignen
und jedes Schlechte zu Beſſerung ſeiner eigenen
Fehler anzuwenden.

Wie nun die ſchoͤnen Kuͤnſte uͤberhaupt durch
ihre Schilderungen erſetzen, was uns an wuͤrkli-
cher Erfahrung abgeht, ſo iſt es ein wichtiger Theil
ihres Zweks, uns die Beobachtung uͤber die Sin-
nesart der Menſchen zu erleichtern. Darum mahlt
der Hiſtorienmahler die Scenen, die wir ſelbſt nicht
geſehen haben, und laͤßt uns durch die Geſichter der
Perſonen in ihre Seelen hinein ſchauen; darum ſchil-
dert uns der Geſchichtſchreiber die Charaktere der
Perſonen; darum bringt der epiſche Dichter dieſel-

ben
(†) Er ſagt von einer gewiſſen Art des Vortrages,
in welchem Schluͤſſe auf Schluͤſſe folgen, er ſey Dia-
[Spaltenumbruch] logis
et dialecticis diſputationibus ſimillor, quam noſtri Opt-
ris
actionibus. Jnſtit. V.
14. 27.
Erſter Theil. O o o
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[473/0485] Geſ Geſ an den Saͤulenordnungen genommen. Die Ge- ſimſe an den Waͤnden der Zimmer aber, wo ſehr ſelten die Glieder, die den Unterbalken und den Fries vorſtellen, angebracht werden, koͤnnen nach dem Verhaͤltnis des Kranzes am Gebaͤlke gemacht wer- den, vom zwoͤlften bis zum funfzehenden oder ſechszehenden Theil der Hoͤhe der Wand. Die Menge der kleinen Glieder muß man dabey vermeiden, und die Auslaufungen muͤſſen vom un- terſten bis zum oberſten Glied immer zunehmen. Die ganze Ausladung kann der Hoͤhe des Geſimſes gleich ſeyn, oder gegen ſie das Verhaͤltnis wie 3 : 4, oder wie 2 : 3 haben. Die Wandgeſimſe in den Zimmern werden gegen- waͤrtig ſo gemacht, daß das oberſte Glied nicht un- mittelbar an die Deke anſchließt; man laͤßt uͤber dem Geſims eine große Holkehle an die Deke an- laufen. Dieſes iſt unſtreitig beſſer, als die alte Art; denn ein Geſims kann wegen ſeiner Aus- laufung nichts tragen, ſondern alle Laſt muß auf die feſte Mauer geſetzt werden. Geſpraͤch. Kurze unter mehrern Perſonen abwechſelnde Re- den, nach Art derjenigen, die in dem taͤglichen Um- gang uͤber Geſchaͤfte, Angelegenheiten oder uͤber ſpekulative Materien vorfallen. Dergleichen Ge- ſpraͤche machen eine beſondere Gattung der Werke redender Kuͤnſte, die eine naͤhere Beleuchtung der Critik verdienet. Es iſt aber hier blos von den Ge- ſpraͤchen die Rede, die eine aͤſthetiſche Behandlung vertragen, und als Werke des Geſchmaks erſchei- nen; denn diejenigen, die philoſophiſche Unterſu- chungen, oder Beweiſe gewiſſer Wahrheiten nach den Regeln der Vernunftlehre zum Grunde haben, wie die Geſpraͤche, darin Plato und Xenophon die ſokratiſche Philoſophie vorgetragen, oder die Dialo- gen des Cicero, gehoͤren der Philoſophie zu, und koͤn- nen nicht eigentlich zu den Werken der Beredſam- keit oder Dichtkunſt gerechnet werden. Die philo- ſophiſchen Geſpraͤche haben mehr deutliche Erkennt- nis, als lebhaftes Gefuͤhl der Sachen zum Endzwek; deswegen auch Quintilian ſie den Werken der Be- redſamkeit entgegen ſetzt. (†) Geſpraͤche, die man als Werke des Geſchmaks anzuſehen hat, zielen nicht auf methodiſche Unter- ſuchungen ab; ſie ſind Aeuſſerungen der Sinnesart der ſich unterredenden Perſonen, die darin ihren Geiſt und ihr Herz entfalten, ihre eigene Art die Sa- chen zu ſehen und zu empfinden an den Tag legen. So ſind die Geſpraͤche, die Lucianus geſchrieben, und die in dem Drama vorkommenden Reden. Wir muͤſſen uns, um den Werth dieſer Gattung richtig zu beurtheilen, und auch um zu einigen Grundſaͤtzen uͤber ihre wahre Beſchaffenheit zu ge- langen, zuvoderſt in den eigentlichen Geſichtspunkt ſtellen, aus dem man das Geſpraͤch zu beurthei- len hat. Unſtreitig iſt das menſchliche Gemuͤth, deſſen Art zu denken, zu empfinden, zu begehren und zu ver- abſcheuen, der intreſſanteſte Gegenſtand unſerer Be- trachtung. Einem denkenden Menſchen kann nichts angenehmeres ſeyn, als bey gewiſſen Gelegenheiten in die Seelen anderer Menſchen hineinzuſchauen, ihre Gedanken darin zu leſen und ihre Empfindun- gen zu fuͤhlen. Es geſchieht allemal mit Vergnuͤ- gen, wenn man unbemerkt Menſchen von lebhaf- ter Phyſionomie beobachten kann; blos, weil man die Gedanken und Empfindungen der Seele einiger- maaßen auf ihren Geſichtern ſiehet. Dergleichen Beobachtungen des innern Zuſtandes der Menſchen ſind aber auch zugleich hoͤchſt nuͤtzlich, indem das darin liegende Gute und Boͤſe vortheilhafte Ein- druͤke in uns zuruͤke laͤßt. Ein ſcharfer Beobachter der Menſchen daͤrf nur noch einigermaaßen unpar- theyiſch gegen ſich ſelbſt ſeyn, um durch ſeine Beob- achtungen jedes Gute, das er ſieht, ſich zu zueignen und jedes Schlechte zu Beſſerung ſeiner eigenen Fehler anzuwenden. Wie nun die ſchoͤnen Kuͤnſte uͤberhaupt durch ihre Schilderungen erſetzen, was uns an wuͤrkli- cher Erfahrung abgeht, ſo iſt es ein wichtiger Theil ihres Zweks, uns die Beobachtung uͤber die Sin- nesart der Menſchen zu erleichtern. Darum mahlt der Hiſtorienmahler die Scenen, die wir ſelbſt nicht geſehen haben, und laͤßt uns durch die Geſichter der Perſonen in ihre Seelen hinein ſchauen; darum ſchil- dert uns der Geſchichtſchreiber die Charaktere der Perſonen; darum bringt der epiſche Dichter dieſel- ben (†) Er ſagt von einer gewiſſen Art des Vortrages, in welchem Schluͤſſe auf Schluͤſſe folgen, er ſey Dia- logis et dialecticis diſputationibus ſimillor, quam noſtri Opt- ris actionibus. Jnſtit. V. 14. 27. Erſter Theil. O o o

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/485>, abgerufen am 22.11.2024.