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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Gem
-- -- pellitur paternos
In sinu serens Deos
Et Uxor et vir, sordidosque natos.

werden wir noch weit lebhafter gerührt. Wir sehen
nun, wie ein von ihm unterdrükter Landmann,
nakend und blos von Haus und Hof vertrieben wird,
und werden dadurch äußerst auf den Tyrannen
aufgebracht.

Die Natur dieser Gemählde besteht darin, daß
der Gegenstand umständlicher, als es in der übri-
gen Materie des Gedichtes geschieht, ausgezeichnet
und durch einen mahlerischen Ausdruk gleichsam
mit lebendigen Farben bemahlt wird. Der Dichter
verfährt hierin genau wie der Mahler, der in einer
Landschaft den größten Theil der Gegenstände nur
überhaupt so vorstellt, wie sie in der Entfernung
erscheinen, und nur einige wenige Theile genau aus-
zeichnet und mit allen Schattirungen und Mittel-
farben mahlt. So macht es Homer, wenn er
Schlachten beschreibet. Von weitem stellt er das
Heer überhaupt vor, in welchem man wol die Wen-
dungen und Bewegungen des ganzen Haufens, aber
keinen einzeln Streiter gewahr wird; einige Haupt-
personen aber bringt er ganz nahe vors Gesicht;
denn man hört sie reden, sieht sie nicht nur einzeln
und vom Heer abgesöndert, sondern bemerkt genau
ihre Rüstung, ihre Stellung und so gar einzele Ge-
sichtszüge.

Es wird also überhaupt zu Verfertigung eines
poetischen Gemähldes weiter nichts erfodert, als daß
der Dichter seinen Gegenstand genau und bisweilen
nach den kleinesten Theilen zu beschreiben, und dem
Ausdruk die nöthigen poetischen Farben zu geben
(*) S.
Farben
(poetische)
wisse (*). Ueberall wo er dieses thut, hat er ein
poetisches Gemählde gemacht. Aber das Feine der
Kunst besteht darin, daß er bey dem Gemählde kurz
und nachdrüklich sey, daß er ihm mit wenig meister-
haften Zügen das wahre Leben zu geben wisse. Es
ist eine schweere Kunst sichtbare Gegenstände in we-
nig Worten zu beschreiben. Und doch ist die Kürze
dabey unumgänglich nothwendig; denn es würde
höchst langweilig und verdrießlich seyn, jedes Ein-
zele, das der Phantaste vorschweben muß, um
einen Gegenstand als ganz nahe zu sehen, besonders
auszudrüken. Darum muß der Dichter hier Worte
zu wählen wissen, die sehr viel mehr Begriffe erwe-
ken, als unmittelbar darin liegen; er muß Aus-
drüke und Wendungen finden, die plötzlich alle Ne-
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Gem
benbegriffe erweken, die sich einzeln nicht ausdrüken
lassen. Darin besteht die eigentliche Kunst der poe-
tischen Mahlerey. Das vorher angeführte kleine
Gemählde des Horaz, wird durch das einzige mah-
lerische Wort Sordidos, sehr lebhaft, man glaubt
die mit Lumpen bedekte, und aus höchster Armuth
schmutzige Kinder zu sehen. Der kleine Umstand
paternos in sinu ferens Deos, zeigt mit wenig Wor-
ten sehr viel an. Die Vertriebenen sind ehrliche,
fromme Leute, ihnen ist gar nichts mehr übrig ge-
lassen, das sie aus ihrer Wohnung wegtragen könn-
ten, als die von ihren Aeltern ererbten elenden Bil-
der ihrer Hausgötter, und die tragen sie, nebst ihren
Kindern auf den Armen weg u. s. f.

Die Gemählde sind überhaupt in der Dichtkunst
von der größten Wichtigkeit, weil sie den Gegenstän-
den die höchste Deutlichkeit und Kraft geben. Was
man nur obenhin und gleichsam von weitem sieht,
erwekt auch nur allgemeine und undeutliche Vor-
stellungen, davon keine große Würkung zu erwarten
ist: jeder Eindruk, der im Gemüthe würksam seyn soll,
muß von nahen Gegenständen verursachet werden.
Es ist mit allen Arten der Vorstellungen so, wie mit
Erzählungen von glüklichen oder unglüklichen Bege-
benheiten, die uns immer nach der Entfernung des
Orts, da sie vorgefallen sind, weniger rühren. All-
gemeine Drangsalen und Unglüksfälle, wie Krieg,
Pest, Feuer- und Wassersnoth, die in weit entlege-
nen Ländern sich eräugnen, machen nur schwachen
Eindruk: aber je näher die Scene der Noth uns
liegt, je würksamer ist die Vorstellung, und wenn
wir sie selbst sehen, so empfinden wir die höchste Wür-
kung davon. So ist es mit allen Vorstellungen be-
schaffen.

Deswegen soll der Dichter, wo er das Gemüth
recht angreifen will, die dazu nöthigen Gegenstände
uns so nahe fürs Gesichte bringen, daß wir sie dichte
vor uns zu sehen glauben: und darin besteht die
Kunst der poetischen Mahlerey. Wer diese nicht
versteht, der kann nie starken Eindruk machen. Es
scheinet, daß das Wesentliche der Kunst in der ge-
nauen Beobachtung der allgemeinen Perspektiv,
wenn man es so nennen därf, bestehe, die jedem
einzeln Theil des Gedichts seine Entfernung, seine
Größe, seine Ausführlichkeit in Zeichnung und Far-
be bestimmt. Nur da, wo alle Regeln dieser Per-
spektiv genau beobachtet sind, entsteht die vollkom-
men gute Würkung des Ganzen. Diese Kunst muß

der
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Gem
— — pellitur paternos
In ſinu ſerens Deos
Et Uxor et vir, ſordidosque natos.

werden wir noch weit lebhafter geruͤhrt. Wir ſehen
nun, wie ein von ihm unterdruͤkter Landmann,
nakend und blos von Haus und Hof vertrieben wird,
und werden dadurch aͤußerſt auf den Tyrannen
aufgebracht.

Die Natur dieſer Gemaͤhlde beſteht darin, daß
der Gegenſtand umſtaͤndlicher, als es in der uͤbri-
gen Materie des Gedichtes geſchieht, ausgezeichnet
und durch einen mahleriſchen Ausdruk gleichſam
mit lebendigen Farben bemahlt wird. Der Dichter
verfaͤhrt hierin genau wie der Mahler, der in einer
Landſchaft den groͤßten Theil der Gegenſtaͤnde nur
uͤberhaupt ſo vorſtellt, wie ſie in der Entfernung
erſcheinen, und nur einige wenige Theile genau aus-
zeichnet und mit allen Schattirungen und Mittel-
farben mahlt. So macht es Homer, wenn er
Schlachten beſchreibet. Von weitem ſtellt er das
Heer uͤberhaupt vor, in welchem man wol die Wen-
dungen und Bewegungen des ganzen Haufens, aber
keinen einzeln Streiter gewahr wird; einige Haupt-
perſonen aber bringt er ganz nahe vors Geſicht;
denn man hoͤrt ſie reden, ſieht ſie nicht nur einzeln
und vom Heer abgeſoͤndert, ſondern bemerkt genau
ihre Ruͤſtung, ihre Stellung und ſo gar einzele Ge-
ſichtszuͤge.

Es wird alſo uͤberhaupt zu Verfertigung eines
poetiſchen Gemaͤhldes weiter nichts erfodert, als daß
der Dichter ſeinen Gegenſtand genau und bisweilen
nach den kleineſten Theilen zu beſchreiben, und dem
Ausdruk die noͤthigen poetiſchen Farben zu geben
(*) S.
Farben
(poetiſche)
wiſſe (*). Ueberall wo er dieſes thut, hat er ein
poetiſches Gemaͤhlde gemacht. Aber das Feine der
Kunſt beſteht darin, daß er bey dem Gemaͤhlde kurz
und nachdruͤklich ſey, daß er ihm mit wenig meiſter-
haften Zuͤgen das wahre Leben zu geben wiſſe. Es
iſt eine ſchweere Kunſt ſichtbare Gegenſtaͤnde in we-
nig Worten zu beſchreiben. Und doch iſt die Kuͤrze
dabey unumgaͤnglich nothwendig; denn es wuͤrde
hoͤchſt langweilig und verdrießlich ſeyn, jedes Ein-
zele, das der Phantaſte vorſchweben muß, um
einen Gegenſtand als ganz nahe zu ſehen, beſonders
auszudruͤken. Darum muß der Dichter hier Worte
zu waͤhlen wiſſen, die ſehr viel mehr Begriffe erwe-
ken, als unmittelbar darin liegen; er muß Aus-
druͤke und Wendungen finden, die ploͤtzlich alle Ne-
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Gem
benbegriffe erweken, die ſich einzeln nicht ausdruͤken
laſſen. Darin beſteht die eigentliche Kunſt der poe-
tiſchen Mahlerey. Das vorher angefuͤhrte kleine
Gemaͤhlde des Horaz, wird durch das einzige mah-
leriſche Wort Sordidos, ſehr lebhaft, man glaubt
die mit Lumpen bedekte, und aus hoͤchſter Armuth
ſchmutzige Kinder zu ſehen. Der kleine Umſtand
paternos in ſinu ferens Deos, zeigt mit wenig Wor-
ten ſehr viel an. Die Vertriebenen ſind ehrliche,
fromme Leute, ihnen iſt gar nichts mehr uͤbrig ge-
laſſen, das ſie aus ihrer Wohnung wegtragen koͤnn-
ten, als die von ihren Aeltern ererbten elenden Bil-
der ihrer Hausgoͤtter, und die tragen ſie, nebſt ihren
Kindern auf den Armen weg u. ſ. f.

Die Gemaͤhlde ſind uͤberhaupt in der Dichtkunſt
von der groͤßten Wichtigkeit, weil ſie den Gegenſtaͤn-
den die hoͤchſte Deutlichkeit und Kraft geben. Was
man nur obenhin und gleichſam von weitem ſieht,
erwekt auch nur allgemeine und undeutliche Vor-
ſtellungen, davon keine große Wuͤrkung zu erwarten
iſt: jeder Eindruk, der im Gemuͤthe wuͤrkſam ſeyn ſoll,
muß von nahen Gegenſtaͤnden verurſachet werden.
Es iſt mit allen Arten der Vorſtellungen ſo, wie mit
Erzaͤhlungen von gluͤklichen oder ungluͤklichen Bege-
benheiten, die uns immer nach der Entfernung des
Orts, da ſie vorgefallen ſind, weniger ruͤhren. All-
gemeine Drangſalen und Ungluͤksfaͤlle, wie Krieg,
Peſt, Feuer- und Waſſersnoth, die in weit entlege-
nen Laͤndern ſich eraͤugnen, machen nur ſchwachen
Eindruk: aber je naͤher die Scene der Noth uns
liegt, je wuͤrkſamer iſt die Vorſtellung, und wenn
wir ſie ſelbſt ſehen, ſo empfinden wir die hoͤchſte Wuͤr-
kung davon. So iſt es mit allen Vorſtellungen be-
ſchaffen.

Deswegen ſoll der Dichter, wo er das Gemuͤth
recht angreifen will, die dazu noͤthigen Gegenſtaͤnde
uns ſo nahe fuͤrs Geſichte bringen, daß wir ſie dichte
vor uns zu ſehen glauben: und darin beſteht die
Kunſt der poetiſchen Mahlerey. Wer dieſe nicht
verſteht, der kann nie ſtarken Eindruk machen. Es
ſcheinet, daß das Weſentliche der Kunſt in der ge-
nauen Beobachtung der allgemeinen Perſpektiv,
wenn man es ſo nennen daͤrf, beſtehe, die jedem
einzeln Theil des Gedichts ſeine Entfernung, ſeine
Groͤße, ſeine Ausfuͤhrlichkeit in Zeichnung und Far-
be beſtimmt. Nur da, wo alle Regeln dieſer Per-
ſpektiv genau beobachtet ſind, entſteht die vollkom-
men gute Wuͤrkung des Ganzen. Dieſe Kunſt muß

der
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[453/0465] Gem Gem — — pellitur paternos In ſinu ſerens Deos Et Uxor et vir, ſordidosque natos. werden wir noch weit lebhafter geruͤhrt. Wir ſehen nun, wie ein von ihm unterdruͤkter Landmann, nakend und blos von Haus und Hof vertrieben wird, und werden dadurch aͤußerſt auf den Tyrannen aufgebracht. Die Natur dieſer Gemaͤhlde beſteht darin, daß der Gegenſtand umſtaͤndlicher, als es in der uͤbri- gen Materie des Gedichtes geſchieht, ausgezeichnet und durch einen mahleriſchen Ausdruk gleichſam mit lebendigen Farben bemahlt wird. Der Dichter verfaͤhrt hierin genau wie der Mahler, der in einer Landſchaft den groͤßten Theil der Gegenſtaͤnde nur uͤberhaupt ſo vorſtellt, wie ſie in der Entfernung erſcheinen, und nur einige wenige Theile genau aus- zeichnet und mit allen Schattirungen und Mittel- farben mahlt. So macht es Homer, wenn er Schlachten beſchreibet. Von weitem ſtellt er das Heer uͤberhaupt vor, in welchem man wol die Wen- dungen und Bewegungen des ganzen Haufens, aber keinen einzeln Streiter gewahr wird; einige Haupt- perſonen aber bringt er ganz nahe vors Geſicht; denn man hoͤrt ſie reden, ſieht ſie nicht nur einzeln und vom Heer abgeſoͤndert, ſondern bemerkt genau ihre Ruͤſtung, ihre Stellung und ſo gar einzele Ge- ſichtszuͤge. Es wird alſo uͤberhaupt zu Verfertigung eines poetiſchen Gemaͤhldes weiter nichts erfodert, als daß der Dichter ſeinen Gegenſtand genau und bisweilen nach den kleineſten Theilen zu beſchreiben, und dem Ausdruk die noͤthigen poetiſchen Farben zu geben wiſſe (*). Ueberall wo er dieſes thut, hat er ein poetiſches Gemaͤhlde gemacht. Aber das Feine der Kunſt beſteht darin, daß er bey dem Gemaͤhlde kurz und nachdruͤklich ſey, daß er ihm mit wenig meiſter- haften Zuͤgen das wahre Leben zu geben wiſſe. Es iſt eine ſchweere Kunſt ſichtbare Gegenſtaͤnde in we- nig Worten zu beſchreiben. Und doch iſt die Kuͤrze dabey unumgaͤnglich nothwendig; denn es wuͤrde hoͤchſt langweilig und verdrießlich ſeyn, jedes Ein- zele, das der Phantaſte vorſchweben muß, um einen Gegenſtand als ganz nahe zu ſehen, beſonders auszudruͤken. Darum muß der Dichter hier Worte zu waͤhlen wiſſen, die ſehr viel mehr Begriffe erwe- ken, als unmittelbar darin liegen; er muß Aus- druͤke und Wendungen finden, die ploͤtzlich alle Ne- benbegriffe erweken, die ſich einzeln nicht ausdruͤken laſſen. Darin beſteht die eigentliche Kunſt der poe- tiſchen Mahlerey. Das vorher angefuͤhrte kleine Gemaͤhlde des Horaz, wird durch das einzige mah- leriſche Wort Sordidos, ſehr lebhaft, man glaubt die mit Lumpen bedekte, und aus hoͤchſter Armuth ſchmutzige Kinder zu ſehen. Der kleine Umſtand paternos in ſinu ferens Deos, zeigt mit wenig Wor- ten ſehr viel an. Die Vertriebenen ſind ehrliche, fromme Leute, ihnen iſt gar nichts mehr uͤbrig ge- laſſen, das ſie aus ihrer Wohnung wegtragen koͤnn- ten, als die von ihren Aeltern ererbten elenden Bil- der ihrer Hausgoͤtter, und die tragen ſie, nebſt ihren Kindern auf den Armen weg u. ſ. f. (*) S. Farben (poetiſche) Die Gemaͤhlde ſind uͤberhaupt in der Dichtkunſt von der groͤßten Wichtigkeit, weil ſie den Gegenſtaͤn- den die hoͤchſte Deutlichkeit und Kraft geben. Was man nur obenhin und gleichſam von weitem ſieht, erwekt auch nur allgemeine und undeutliche Vor- ſtellungen, davon keine große Wuͤrkung zu erwarten iſt: jeder Eindruk, der im Gemuͤthe wuͤrkſam ſeyn ſoll, muß von nahen Gegenſtaͤnden verurſachet werden. Es iſt mit allen Arten der Vorſtellungen ſo, wie mit Erzaͤhlungen von gluͤklichen oder ungluͤklichen Bege- benheiten, die uns immer nach der Entfernung des Orts, da ſie vorgefallen ſind, weniger ruͤhren. All- gemeine Drangſalen und Ungluͤksfaͤlle, wie Krieg, Peſt, Feuer- und Waſſersnoth, die in weit entlege- nen Laͤndern ſich eraͤugnen, machen nur ſchwachen Eindruk: aber je naͤher die Scene der Noth uns liegt, je wuͤrkſamer iſt die Vorſtellung, und wenn wir ſie ſelbſt ſehen, ſo empfinden wir die hoͤchſte Wuͤr- kung davon. So iſt es mit allen Vorſtellungen be- ſchaffen. Deswegen ſoll der Dichter, wo er das Gemuͤth recht angreifen will, die dazu noͤthigen Gegenſtaͤnde uns ſo nahe fuͤrs Geſichte bringen, daß wir ſie dichte vor uns zu ſehen glauben: und darin beſteht die Kunſt der poetiſchen Mahlerey. Wer dieſe nicht verſteht, der kann nie ſtarken Eindruk machen. Es ſcheinet, daß das Weſentliche der Kunſt in der ge- nauen Beobachtung der allgemeinen Perſpektiv, wenn man es ſo nennen daͤrf, beſtehe, die jedem einzeln Theil des Gedichts ſeine Entfernung, ſeine Groͤße, ſeine Ausfuͤhrlichkeit in Zeichnung und Far- be beſtimmt. Nur da, wo alle Regeln dieſer Per- ſpektiv genau beobachtet ſind, entſteht die vollkom- men gute Wuͤrkung des Ganzen. Dieſe Kunſt muß der L l l 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/465>, abgerufen am 22.11.2024.