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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ged
kunst hat mehr den lebhaften Ausdruk des Gegen-
stands ihrer Vorstellung, als die besondere Wür-
kung, die er auf andre thun soll, zum Augenmerk.
Der Dichter ist selbst lebhaft gerührt und von sei-
nem Gegenstand in Leidenschaft, wenigstens in Laune
gesetzt: er kann der Begierde, seine Empfindung zu
äussern, nicht widerstehen; er wird hingerissen.
Seine Hauptabsicht ist, den Gegenstand der ihn
rühret, lebhaft zu schildern, und zugleich den Ein-
druk, den er davon empfindet, zu äussern: er redet,
wenn ihm auch niemand zuhören sollte, weil ihn
seine Empfindung nicht schweigen läßt. Er überläßt
sich den Eindrüken, die seine Materie auf ihn macht,
so sehr, daß man aus seinem Ton und aus seinem we-
nig überlegten Ausdruk merkt, er sey ganz von sei-
nem Gegenstand eingenommen. Dieses giebt seiner
Rede etwas ausserordentliches und phantastisches,
dergleichen Menschen annehmen, die bey starken
Empfindungen sich selbst vergessen, und selbst in
Gesellschaft so reden und handeln, als wenn sie
allein wären.

Es scheinet, daß dieser sich mehr oder weniger
äussernde phantastische Ton, den man in der Rede
bemerkt, den eigentlichen Charakter des Gedichts
ausmache, und daß die einigermaaßen schwermeri-
sche Gemüthsfaßung, in welche lebhafte Köpfe bey
Erblickung gewisser Gegenstände gesetzt werden, die
Quelle der Dichtkunst sey. Ohne merkliche Leiden-
schaft und Ueberwältigung von derselben, scheinet
natürlicher Weise kein Gedicht entstehen zu können.
Nur itzt, da die Poesie zu einer gewöhnlichen Kunst
worden ist, thut die Nachahmung dieses natürlichen
Zustandes das, was in dem Stande der bloßen
Natur nur die starke Rührung thun würde. Da-
her sehen wir, daß die Dichter sich noch oft anstel-
len, als wenn sie auch wider ihren Willen getrie-
ben würden, ihr Herz auszuschütten. Es ist damit,
wie mit dem Tanz, der in seinem Ursprung nichts
anders, als ein leidenschaftlicher, schwermerischer
Gang ist. Wilde Völker, bey denen noch nichts
zur Kunst geworden, tanzen nie, als wenn sie in
Leidenschaft gesetzt sind: aber wo das Tanzen zur
Kunst geworden, da tanzt man auch mit kaltem Ge-
blüte. Doch stellt man sich immer dabey an, als
wenn irgend ein kräftiger Gegenstand diese phan-
tastische Gemüthslage hervorgebracht habe. Daß so
wol Poesie, als Tanz eine solche Faßung zum Grund
haben, wird auch noch dadurch offenbar, daß beyde
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Ged
die Unterstützung der Musik bedürfen. Diese unter-
hält die Empfindung, und reizet die schon aufgebrachte
Einbildungskraft noch mehr. Sie wieget das Ge-
müth in seiner eigenen Empfindung ein, daß der
Dichter und Tänzer sich völlig vergessen und blos
dem nachhängen, was sie empfinden.

Aus dieser Entwiklung des Ursprungs der Poesie
läßt sich der wahre Charakter des Gedichts bestim-
men. Wer der Gemüthsfaßung, die eine so ausser-
ordentliche Rede, als das Gedicht ist, natürlicher
Weise hervorzubringen vermag, nachdenkt, wird
finden, daß sie der Rede viel Eigenes und Charak-
teristisches geben müsse. Und eben darin wird das
Wesen des Gedichts zu suchen seyn.

Zuerst wird der Ton der Rede den Charakter
der Empfindung an sich haben. Sie kann nicht so
zufällig und so ungebunden fliessen, als die gemeine
Rede; denn da die Empfindung immer einerley ist,
und sich immer gleichsam auf sich selbst herum dräht,
so entsteht ganz natürlich etwas rhythmisches in der
Rede.| Wer vor Freude hüpft und springt, der wird,
so lange die Empfindung währet, die einfach und im-
mer einerley ist, dieselben Sprünge oft wiederholen;
und so wird es auch mit den Sätzen der Rede ge-
hen. Jhr Ton und Abfall ist eine Würkung der
Empfindung, und da er zugleich auf die Sinnen
würkt, so unterhält und stärkt er auch wiederum
die Empfindung selbst. Hieraus läßt sich einiger-
maaßen der Ursprung des Verses begreifen, der frey-
lich im Anfang sehr roh gewesen, aber nachher
durch die Kunst seine Formen bekommen hat. Man
kann also sagen, daß der Vers dem Gedichte natür-
lich sey.

Weil aber ein rythmischer Fall der Rede nur eine
der verschiedenen Würkungen der poetischen Laune
ist, und weil ohne den, durch die hinzugekommene
Kunst, regelmäßig gemachten Vers, die Rede einen
ungekünstelten Rythmus haben kann, so berechtiget
uns der Mangel der regelmäßigen Versification noch
nicht, einer die übrigen Kennzeichen des Gedichts
habenden Rede, den Namen des Gedichts zu versa-
gen. Doch ist unfehlbar in jeder Rede, die aus
würklicher dichterischer Laune entstanden, das Perio-
dische ganz anders, als in der gemeinen, oder auch
in der blos beredten Rede. Also hat auch die so ge-
nannte poetische Prosa allemal etwas in ihren Ab-
fällen, wodurch sie sich auszeichnet. Hieraus ist
also klar, daß der regelmäßige Vers, nachdem die

Poesie

[Spaltenumbruch]

Ged
kunſt hat mehr den lebhaften Ausdruk des Gegen-
ſtands ihrer Vorſtellung, als die beſondere Wuͤr-
kung, die er auf andre thun ſoll, zum Augenmerk.
Der Dichter iſt ſelbſt lebhaft geruͤhrt und von ſei-
nem Gegenſtand in Leidenſchaft, wenigſtens in Laune
geſetzt: er kann der Begierde, ſeine Empfindung zu
aͤuſſern, nicht widerſtehen; er wird hingeriſſen.
Seine Hauptabſicht iſt, den Gegenſtand der ihn
ruͤhret, lebhaft zu ſchildern, und zugleich den Ein-
druk, den er davon empfindet, zu aͤuſſern: er redet,
wenn ihm auch niemand zuhoͤren ſollte, weil ihn
ſeine Empfindung nicht ſchweigen laͤßt. Er uͤberlaͤßt
ſich den Eindruͤken, die ſeine Materie auf ihn macht,
ſo ſehr, daß man aus ſeinem Ton und aus ſeinem we-
nig uͤberlegten Ausdruk merkt, er ſey ganz von ſei-
nem Gegenſtand eingenommen. Dieſes giebt ſeiner
Rede etwas auſſerordentliches und phantaſtiſches,
dergleichen Menſchen annehmen, die bey ſtarken
Empfindungen ſich ſelbſt vergeſſen, und ſelbſt in
Geſellſchaft ſo reden und handeln, als wenn ſie
allein waͤren.

Es ſcheinet, daß dieſer ſich mehr oder weniger
aͤuſſernde phantaſtiſche Ton, den man in der Rede
bemerkt, den eigentlichen Charakter des Gedichts
ausmache, und daß die einigermaaßen ſchwermeri-
ſche Gemuͤthsfaßung, in welche lebhafte Koͤpfe bey
Erblickung gewiſſer Gegenſtaͤnde geſetzt werden, die
Quelle der Dichtkunſt ſey. Ohne merkliche Leiden-
ſchaft und Ueberwaͤltigung von derſelben, ſcheinet
natuͤrlicher Weiſe kein Gedicht entſtehen zu koͤnnen.
Nur itzt, da die Poeſie zu einer gewoͤhnlichen Kunſt
worden iſt, thut die Nachahmung dieſes natuͤrlichen
Zuſtandes das, was in dem Stande der bloßen
Natur nur die ſtarke Ruͤhrung thun wuͤrde. Da-
her ſehen wir, daß die Dichter ſich noch oft anſtel-
len, als wenn ſie auch wider ihren Willen getrie-
ben wuͤrden, ihr Herz auszuſchuͤtten. Es iſt damit,
wie mit dem Tanz, der in ſeinem Urſprung nichts
anders, als ein leidenſchaftlicher, ſchwermeriſcher
Gang iſt. Wilde Voͤlker, bey denen noch nichts
zur Kunſt geworden, tanzen nie, als wenn ſie in
Leidenſchaft geſetzt ſind: aber wo das Tanzen zur
Kunſt geworden, da tanzt man auch mit kaltem Ge-
bluͤte. Doch ſtellt man ſich immer dabey an, als
wenn irgend ein kraͤftiger Gegenſtand dieſe phan-
taſtiſche Gemuͤthslage hervorgebracht habe. Daß ſo
wol Poeſie, als Tanz eine ſolche Faßung zum Grund
haben, wird auch noch dadurch offenbar, daß beyde
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Ged
die Unterſtuͤtzung der Muſik beduͤrfen. Dieſe unter-
haͤlt die Empfindung, und reizet die ſchon aufgebrachte
Einbildungskraft noch mehr. Sie wieget das Ge-
muͤth in ſeiner eigenen Empfindung ein, daß der
Dichter und Taͤnzer ſich voͤllig vergeſſen und blos
dem nachhaͤngen, was ſie empfinden.

Aus dieſer Entwiklung des Urſprungs der Poeſie
laͤßt ſich der wahre Charakter des Gedichts beſtim-
men. Wer der Gemuͤthsfaßung, die eine ſo auſſer-
ordentliche Rede, als das Gedicht iſt, natuͤrlicher
Weiſe hervorzubringen vermag, nachdenkt, wird
finden, daß ſie der Rede viel Eigenes und Charak-
teriſtiſches geben muͤſſe. Und eben darin wird das
Weſen des Gedichts zu ſuchen ſeyn.

Zuerſt wird der Ton der Rede den Charakter
der Empfindung an ſich haben. Sie kann nicht ſo
zufaͤllig und ſo ungebunden flieſſen, als die gemeine
Rede; denn da die Empfindung immer einerley iſt,
und ſich immer gleichſam auf ſich ſelbſt herum draͤht,
ſo entſteht ganz natuͤrlich etwas rhythmiſches in der
Rede.| Wer vor Freude huͤpft und ſpringt, der wird,
ſo lange die Empfindung waͤhret, die einfach und im-
mer einerley iſt, dieſelben Spruͤnge oft wiederholen;
und ſo wird es auch mit den Saͤtzen der Rede ge-
hen. Jhr Ton und Abfall iſt eine Wuͤrkung der
Empfindung, und da er zugleich auf die Sinnen
wuͤrkt, ſo unterhaͤlt und ſtaͤrkt er auch wiederum
die Empfindung ſelbſt. Hieraus laͤßt ſich einiger-
maaßen der Urſprung des Verſes begreifen, der frey-
lich im Anfang ſehr roh geweſen, aber nachher
durch die Kunſt ſeine Formen bekommen hat. Man
kann alſo ſagen, daß der Vers dem Gedichte natuͤr-
lich ſey.

Weil aber ein rythmiſcher Fall der Rede nur eine
der verſchiedenen Wuͤrkungen der poetiſchen Laune
iſt, und weil ohne den, durch die hinzugekommene
Kunſt, regelmaͤßig gemachten Vers, die Rede einen
ungekuͤnſtelten Rythmus haben kann, ſo berechtiget
uns der Mangel der regelmaͤßigen Verſification noch
nicht, einer die uͤbrigen Kennzeichen des Gedichts
habenden Rede, den Namen des Gedichts zu verſa-
gen. Doch iſt unfehlbar in jeder Rede, die aus
wuͤrklicher dichteriſcher Laune entſtanden, das Perio-
diſche ganz anders, als in der gemeinen, oder auch
in der blos beredten Rede. Alſo hat auch die ſo ge-
nannte poetiſche Proſa allemal etwas in ihren Ab-
faͤllen, wodurch ſie ſich auszeichnet. Hieraus iſt
alſo klar, daß der regelmaͤßige Vers, nachdem die

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[434/0446] Ged Ged kunſt hat mehr den lebhaften Ausdruk des Gegen- ſtands ihrer Vorſtellung, als die beſondere Wuͤr- kung, die er auf andre thun ſoll, zum Augenmerk. Der Dichter iſt ſelbſt lebhaft geruͤhrt und von ſei- nem Gegenſtand in Leidenſchaft, wenigſtens in Laune geſetzt: er kann der Begierde, ſeine Empfindung zu aͤuſſern, nicht widerſtehen; er wird hingeriſſen. Seine Hauptabſicht iſt, den Gegenſtand der ihn ruͤhret, lebhaft zu ſchildern, und zugleich den Ein- druk, den er davon empfindet, zu aͤuſſern: er redet, wenn ihm auch niemand zuhoͤren ſollte, weil ihn ſeine Empfindung nicht ſchweigen laͤßt. Er uͤberlaͤßt ſich den Eindruͤken, die ſeine Materie auf ihn macht, ſo ſehr, daß man aus ſeinem Ton und aus ſeinem we- nig uͤberlegten Ausdruk merkt, er ſey ganz von ſei- nem Gegenſtand eingenommen. Dieſes giebt ſeiner Rede etwas auſſerordentliches und phantaſtiſches, dergleichen Menſchen annehmen, die bey ſtarken Empfindungen ſich ſelbſt vergeſſen, und ſelbſt in Geſellſchaft ſo reden und handeln, als wenn ſie allein waͤren. Es ſcheinet, daß dieſer ſich mehr oder weniger aͤuſſernde phantaſtiſche Ton, den man in der Rede bemerkt, den eigentlichen Charakter des Gedichts ausmache, und daß die einigermaaßen ſchwermeri- ſche Gemuͤthsfaßung, in welche lebhafte Koͤpfe bey Erblickung gewiſſer Gegenſtaͤnde geſetzt werden, die Quelle der Dichtkunſt ſey. Ohne merkliche Leiden- ſchaft und Ueberwaͤltigung von derſelben, ſcheinet natuͤrlicher Weiſe kein Gedicht entſtehen zu koͤnnen. Nur itzt, da die Poeſie zu einer gewoͤhnlichen Kunſt worden iſt, thut die Nachahmung dieſes natuͤrlichen Zuſtandes das, was in dem Stande der bloßen Natur nur die ſtarke Ruͤhrung thun wuͤrde. Da- her ſehen wir, daß die Dichter ſich noch oft anſtel- len, als wenn ſie auch wider ihren Willen getrie- ben wuͤrden, ihr Herz auszuſchuͤtten. Es iſt damit, wie mit dem Tanz, der in ſeinem Urſprung nichts anders, als ein leidenſchaftlicher, ſchwermeriſcher Gang iſt. Wilde Voͤlker, bey denen noch nichts zur Kunſt geworden, tanzen nie, als wenn ſie in Leidenſchaft geſetzt ſind: aber wo das Tanzen zur Kunſt geworden, da tanzt man auch mit kaltem Ge- bluͤte. Doch ſtellt man ſich immer dabey an, als wenn irgend ein kraͤftiger Gegenſtand dieſe phan- taſtiſche Gemuͤthslage hervorgebracht habe. Daß ſo wol Poeſie, als Tanz eine ſolche Faßung zum Grund haben, wird auch noch dadurch offenbar, daß beyde die Unterſtuͤtzung der Muſik beduͤrfen. Dieſe unter- haͤlt die Empfindung, und reizet die ſchon aufgebrachte Einbildungskraft noch mehr. Sie wieget das Ge- muͤth in ſeiner eigenen Empfindung ein, daß der Dichter und Taͤnzer ſich voͤllig vergeſſen und blos dem nachhaͤngen, was ſie empfinden. Aus dieſer Entwiklung des Urſprungs der Poeſie laͤßt ſich der wahre Charakter des Gedichts beſtim- men. Wer der Gemuͤthsfaßung, die eine ſo auſſer- ordentliche Rede, als das Gedicht iſt, natuͤrlicher Weiſe hervorzubringen vermag, nachdenkt, wird finden, daß ſie der Rede viel Eigenes und Charak- teriſtiſches geben muͤſſe. Und eben darin wird das Weſen des Gedichts zu ſuchen ſeyn. Zuerſt wird der Ton der Rede den Charakter der Empfindung an ſich haben. Sie kann nicht ſo zufaͤllig und ſo ungebunden flieſſen, als die gemeine Rede; denn da die Empfindung immer einerley iſt, und ſich immer gleichſam auf ſich ſelbſt herum draͤht, ſo entſteht ganz natuͤrlich etwas rhythmiſches in der Rede.| Wer vor Freude huͤpft und ſpringt, der wird, ſo lange die Empfindung waͤhret, die einfach und im- mer einerley iſt, dieſelben Spruͤnge oft wiederholen; und ſo wird es auch mit den Saͤtzen der Rede ge- hen. Jhr Ton und Abfall iſt eine Wuͤrkung der Empfindung, und da er zugleich auf die Sinnen wuͤrkt, ſo unterhaͤlt und ſtaͤrkt er auch wiederum die Empfindung ſelbſt. Hieraus laͤßt ſich einiger- maaßen der Urſprung des Verſes begreifen, der frey- lich im Anfang ſehr roh geweſen, aber nachher durch die Kunſt ſeine Formen bekommen hat. Man kann alſo ſagen, daß der Vers dem Gedichte natuͤr- lich ſey. Weil aber ein rythmiſcher Fall der Rede nur eine der verſchiedenen Wuͤrkungen der poetiſchen Laune iſt, und weil ohne den, durch die hinzugekommene Kunſt, regelmaͤßig gemachten Vers, die Rede einen ungekuͤnſtelten Rythmus haben kann, ſo berechtiget uns der Mangel der regelmaͤßigen Verſification noch nicht, einer die uͤbrigen Kennzeichen des Gedichts habenden Rede, den Namen des Gedichts zu verſa- gen. Doch iſt unfehlbar in jeder Rede, die aus wuͤrklicher dichteriſcher Laune entſtanden, das Perio- diſche ganz anders, als in der gemeinen, oder auch in der blos beredten Rede. Alſo hat auch die ſo ge- nannte poetiſche Proſa allemal etwas in ihren Ab- faͤllen, wodurch ſie ſich auszeichnet. Hieraus iſt alſo klar, daß der regelmaͤßige Vers, nachdem die Poeſie

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/446>, abgerufen am 22.11.2024.