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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Geb
zeichneten Muscheln, Pflanzen und Jnsekten? Und
warum sollte man, wenn dieses Studium einmal
mit Ernst getrieben würde, die dazu gehörige Kunst-
sprach und Terminologie nicht eben so gut finden
können, als sie für die Naturgeschichte gefunden
worden?

Dieses würde den Weg bahnen, dem Redner, dem
Schauspieler und dem Mahler, den wichtigsten Theil
der Kunst zu erleichtern.

Man kann dem Redner und dem Schauspieler
nie genug wiederholen und nicht nachdrüklich genug
sagen, daß die Gebehrden redend seyn müssen, noch
dem Zeichner, daß seine Figuren allemal verwerf-
lich sind, wenn er ihnen nicht redende Stellungen
und Gebehrden geben kann. Demosthenes hielt es
für so wichtig, daß er auf Befragen, was in der
Beredsamkeit das wichtigste sey, antwortete: Der
Vortrag (wodurch er Stimm und Gebehrden ver-
stuhnd): und auf die weitere Fragen, was nach dem
zum zweyten und dritten, als das wichtigste zu su-
chen sey, immer dieselbe Antwort wiederholte. Was
man an dem Redner sieht, das wird unmittelbar
auf dem Grund der Seele empfunden; aber die
Worte kommen erst in den Verstand, und von da
durch eine Art der Uebersetzung, wenigstens durch
eine zweyte Handlung des Geistes, aber verschwächt,
an das Herz. Welche Worte sind vermögend die
innigste Sehnsucht eines Verliebten, nach dem Ge-
genstand seiner Wünsche, so auszudrüken, wie seine
Blicke und seine Gebehrden? Einigermaaßen ist es
der Sappho in dem bekannten Lied an Phaon gelun-
gen, dieses in Worten auszudrüken: deßwegen auch
(*) Lon-
ginus.
ein feiner Kenner (*) diese Ode unter die erhaben-
sten Werke der Dichtkunst zählt.

Wenn der Künstler durch genaue Beobachtung
der in Gebehrden liegenden Kraft, sich von ihrer
Wichtigkeit völlig überzeuget hat, so muß er nun
das besondere Studium dieses Theils der Kunst vor-
nehmen. Darüber findet er aber bey dem Lehrer der
Redner, aus angezeigten Ursachen, nichts, als sehr
allgemeine Anmerkungen; sein Genie und sein Fleiß
müssen die besondern Mittel finden. Eine der wich-
tigsten allgemeinen Anmerkungen ist diese: daß er
[Spaltenumbruch]

Geb
überhaupt den allgemeinen Ton der Rede durch
seine Gebehrden ausdrüke, und hingegen sich sehr
in Acht nehme, dasjenige, was blos für den Verstand
und nicht für die Empfindung ist, gleichsam durch
mahlende Zeichen auszudrüken. Man muß, sagt Ci-
cero, nicht einzele Worte, sondern das, was man
im Ganzen empfindet, nicht durch Abzeichnung,
sondern durch Andeutung, ausdruken [Spaltenumbruch] (+). Was
der große Mann in der angezogenen Stelle demon-
strationem verba exprimentem
nennt, und hier durch
Abzeichnung übersetzt ist, muß von dem Redner sehr
sorgfältig vermieden werden. Es kann nichts fro-
stiger seyn, als wenn ein Redner jedes Wort mit
Zügen und Bewegungen der Hände und der Aerme
abbilden, besonders, wenn er bloße Begriffe, die nur
den Verstand angehen, wie das Nahe und Ferne,
das Hohe und Niedrige und dergleichen Dinge, zeich-
nen will. Die Gebehrden follen uns nicht deutliche
Begriffe geben, sondern Empfindungen verstärken
oder unterhalten.

Hiernächst muß der Redner sich auch von dem
Schauspieler unterscheiden. Er tritt wol vorberei-
tet auf, hat auf einmal den ganzen Umfang seiner
Materie vor sich, ist ganz und allein davon durch-
drungen, und behandelt sie, als ein Mann, der
alles auf das genaueste überlegt hat. Darum muß
auch Einförmigkeit, Bedachtsamkeit und gute Fas-
fung in seinen Gebehrden seyn. Bey dem Schau-
spieler verhält sich die Sache ganz anders. Er
nihmt jeden Augenblik die Gebehrden desselben Au-
genbliks an; bald redet er, bald hört er zu. Die
Handlung reißt ihn mit fort, da der Redner seines
Vortrages Meister seyn muß. Der Schauspieler
stellt einen für alles, was auf der Bühne vorgeht,
unvorbereiteten Menschen vor, der plötzlich, bald
angenehm, bald unangenehm gerührt wird: seine
Gebehrden müssen eben die Abwechslungen und die
Vermischung des Guten und Bösen, so wie sie im
Leben vorkömmt, ausdrüken. Er muß in einem
Augenblik sauer oder verdrießlich, und wieder ver-
gnügt aussehen. Also sind die Gebehrden bey ihm
weit schnellern Abwechslungen und weit lebhaftern
Bewegungen unterworfen, als bey dem Redner.
Deßwegen will Cicero auch nicht, daß der Redner

die
(+) Omnes autem hos motus subsequi debet gestus, non
hic verba exprimens, scenicus, sed universam rem et seu-
[Spaltenumbruch] tentiam,
non demonstratione, sed significatione declarans.
Cic. in Bruto. L. III.
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[Spaltenumbruch]

Geb
zeichneten Muſcheln, Pflanzen und Jnſekten? Und
warum ſollte man, wenn dieſes Studium einmal
mit Ernſt getrieben wuͤrde, die dazu gehoͤrige Kunſt-
ſprach und Terminologie nicht eben ſo gut finden
koͤnnen, als ſie fuͤr die Naturgeſchichte gefunden
worden?

Dieſes wuͤrde den Weg bahnen, dem Redner, dem
Schauſpieler und dem Mahler, den wichtigſten Theil
der Kunſt zu erleichtern.

Man kann dem Redner und dem Schauſpieler
nie genug wiederholen und nicht nachdruͤklich genug
ſagen, daß die Gebehrden redend ſeyn muͤſſen, noch
dem Zeichner, daß ſeine Figuren allemal verwerf-
lich ſind, wenn er ihnen nicht redende Stellungen
und Gebehrden geben kann. Demoſthenes hielt es
fuͤr ſo wichtig, daß er auf Befragen, was in der
Beredſamkeit das wichtigſte ſey, antwortete: Der
Vortrag (wodurch er Stimm und Gebehrden ver-
ſtuhnd): und auf die weitere Fragen, was nach dem
zum zweyten und dritten, als das wichtigſte zu ſu-
chen ſey, immer dieſelbe Antwort wiederholte. Was
man an dem Redner ſieht, das wird unmittelbar
auf dem Grund der Seele empfunden; aber die
Worte kommen erſt in den Verſtand, und von da
durch eine Art der Ueberſetzung, wenigſtens durch
eine zweyte Handlung des Geiſtes, aber verſchwaͤcht,
an das Herz. Welche Worte ſind vermoͤgend die
innigſte Sehnſucht eines Verliebten, nach dem Ge-
genſtand ſeiner Wuͤnſche, ſo auszudruͤken, wie ſeine
Blicke und ſeine Gebehrden? Einigermaaßen iſt es
der Sappho in dem bekannten Lied an Phaon gelun-
gen, dieſes in Worten auszudruͤken: deßwegen auch
(*) Lon-
ginus.
ein feiner Kenner (*) dieſe Ode unter die erhaben-
ſten Werke der Dichtkunſt zaͤhlt.

Wenn der Kuͤnſtler durch genaue Beobachtung
der in Gebehrden liegenden Kraft, ſich von ihrer
Wichtigkeit voͤllig uͤberzeuget hat, ſo muß er nun
das beſondere Studium dieſes Theils der Kunſt vor-
nehmen. Daruͤber findet er aber bey dem Lehrer der
Redner, aus angezeigten Urſachen, nichts, als ſehr
allgemeine Anmerkungen; ſein Genie und ſein Fleiß
muͤſſen die beſondern Mittel finden. Eine der wich-
tigſten allgemeinen Anmerkungen iſt dieſe: daß er
[Spaltenumbruch]

Geb
uͤberhaupt den allgemeinen Ton der Rede durch
ſeine Gebehrden ausdruͤke, und hingegen ſich ſehr
in Acht nehme, dasjenige, was blos fuͤr den Verſtand
und nicht fuͤr die Empfindung iſt, gleichſam durch
mahlende Zeichen auszudruͤken. Man muß, ſagt Ci-
cero, nicht einzele Worte, ſondern das, was man
im Ganzen empfindet, nicht durch Abzeichnung,
ſondern durch Andeutung, ausdruken [Spaltenumbruch] (†). Was
der große Mann in der angezogenen Stelle demon-
ſtrationem verba exprimentem
nennt, und hier durch
Abzeichnung uͤberſetzt iſt, muß von dem Redner ſehr
ſorgfaͤltig vermieden werden. Es kann nichts fro-
ſtiger ſeyn, als wenn ein Redner jedes Wort mit
Zuͤgen und Bewegungen der Haͤnde und der Aerme
abbilden, beſonders, wenn er bloße Begriffe, die nur
den Verſtand angehen, wie das Nahe und Ferne,
das Hohe und Niedrige und dergleichen Dinge, zeich-
nen will. Die Gebehrden follen uns nicht deutliche
Begriffe geben, ſondern Empfindungen verſtaͤrken
oder unterhalten.

Hiernaͤchſt muß der Redner ſich auch von dem
Schauſpieler unterſcheiden. Er tritt wol vorberei-
tet auf, hat auf einmal den ganzen Umfang ſeiner
Materie vor ſich, iſt ganz und allein davon durch-
drungen, und behandelt ſie, als ein Mann, der
alles auf das genaueſte uͤberlegt hat. Darum muß
auch Einfoͤrmigkeit, Bedachtſamkeit und gute Faſ-
fung in ſeinen Gebehrden ſeyn. Bey dem Schau-
ſpieler verhaͤlt ſich die Sache ganz anders. Er
nihmt jeden Augenblik die Gebehrden deſſelben Au-
genbliks an; bald redet er, bald hoͤrt er zu. Die
Handlung reißt ihn mit fort, da der Redner ſeines
Vortrages Meiſter ſeyn muß. Der Schauſpieler
ſtellt einen fuͤr alles, was auf der Buͤhne vorgeht,
unvorbereiteten Menſchen vor, der ploͤtzlich, bald
angenehm, bald unangenehm geruͤhrt wird: ſeine
Gebehrden muͤſſen eben die Abwechslungen und die
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Leben vorkoͤmmt, ausdruͤken. Er muß in einem
Augenblik ſauer oder verdrießlich, und wieder ver-
gnuͤgt ausſehen. Alſo ſind die Gebehrden bey ihm
weit ſchnellern Abwechslungen und weit lebhaftern
Bewegungen unterworfen, als bey dem Redner.
Deßwegen will Cicero auch nicht, daß der Redner

die
(†) Omnes autem hos motus ſubſequi debet geſtus, non
hic verba exprimens, ſcenicus, ſed univerſam rem et ſeu-
[Spaltenumbruch] tentiam,
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Cic. in Bruto. L. III.
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[429/0441] Geb Geb zeichneten Muſcheln, Pflanzen und Jnſekten? Und warum ſollte man, wenn dieſes Studium einmal mit Ernſt getrieben wuͤrde, die dazu gehoͤrige Kunſt- ſprach und Terminologie nicht eben ſo gut finden koͤnnen, als ſie fuͤr die Naturgeſchichte gefunden worden? Dieſes wuͤrde den Weg bahnen, dem Redner, dem Schauſpieler und dem Mahler, den wichtigſten Theil der Kunſt zu erleichtern. Man kann dem Redner und dem Schauſpieler nie genug wiederholen und nicht nachdruͤklich genug ſagen, daß die Gebehrden redend ſeyn muͤſſen, noch dem Zeichner, daß ſeine Figuren allemal verwerf- lich ſind, wenn er ihnen nicht redende Stellungen und Gebehrden geben kann. Demoſthenes hielt es fuͤr ſo wichtig, daß er auf Befragen, was in der Beredſamkeit das wichtigſte ſey, antwortete: Der Vortrag (wodurch er Stimm und Gebehrden ver- ſtuhnd): und auf die weitere Fragen, was nach dem zum zweyten und dritten, als das wichtigſte zu ſu- chen ſey, immer dieſelbe Antwort wiederholte. Was man an dem Redner ſieht, das wird unmittelbar auf dem Grund der Seele empfunden; aber die Worte kommen erſt in den Verſtand, und von da durch eine Art der Ueberſetzung, wenigſtens durch eine zweyte Handlung des Geiſtes, aber verſchwaͤcht, an das Herz. Welche Worte ſind vermoͤgend die innigſte Sehnſucht eines Verliebten, nach dem Ge- genſtand ſeiner Wuͤnſche, ſo auszudruͤken, wie ſeine Blicke und ſeine Gebehrden? Einigermaaßen iſt es der Sappho in dem bekannten Lied an Phaon gelun- gen, dieſes in Worten auszudruͤken: deßwegen auch ein feiner Kenner (*) dieſe Ode unter die erhaben- ſten Werke der Dichtkunſt zaͤhlt. (*) Lon- ginus. Wenn der Kuͤnſtler durch genaue Beobachtung der in Gebehrden liegenden Kraft, ſich von ihrer Wichtigkeit voͤllig uͤberzeuget hat, ſo muß er nun das beſondere Studium dieſes Theils der Kunſt vor- nehmen. Daruͤber findet er aber bey dem Lehrer der Redner, aus angezeigten Urſachen, nichts, als ſehr allgemeine Anmerkungen; ſein Genie und ſein Fleiß muͤſſen die beſondern Mittel finden. Eine der wich- tigſten allgemeinen Anmerkungen iſt dieſe: daß er uͤberhaupt den allgemeinen Ton der Rede durch ſeine Gebehrden ausdruͤke, und hingegen ſich ſehr in Acht nehme, dasjenige, was blos fuͤr den Verſtand und nicht fuͤr die Empfindung iſt, gleichſam durch mahlende Zeichen auszudruͤken. Man muß, ſagt Ci- cero, nicht einzele Worte, ſondern das, was man im Ganzen empfindet, nicht durch Abzeichnung, ſondern durch Andeutung, ausdruken (†). Was der große Mann in der angezogenen Stelle demon- ſtrationem verba exprimentem nennt, und hier durch Abzeichnung uͤberſetzt iſt, muß von dem Redner ſehr ſorgfaͤltig vermieden werden. Es kann nichts fro- ſtiger ſeyn, als wenn ein Redner jedes Wort mit Zuͤgen und Bewegungen der Haͤnde und der Aerme abbilden, beſonders, wenn er bloße Begriffe, die nur den Verſtand angehen, wie das Nahe und Ferne, das Hohe und Niedrige und dergleichen Dinge, zeich- nen will. Die Gebehrden follen uns nicht deutliche Begriffe geben, ſondern Empfindungen verſtaͤrken oder unterhalten. Hiernaͤchſt muß der Redner ſich auch von dem Schauſpieler unterſcheiden. Er tritt wol vorberei- tet auf, hat auf einmal den ganzen Umfang ſeiner Materie vor ſich, iſt ganz und allein davon durch- drungen, und behandelt ſie, als ein Mann, der alles auf das genaueſte uͤberlegt hat. Darum muß auch Einfoͤrmigkeit, Bedachtſamkeit und gute Faſ- fung in ſeinen Gebehrden ſeyn. Bey dem Schau- ſpieler verhaͤlt ſich die Sache ganz anders. Er nihmt jeden Augenblik die Gebehrden deſſelben Au- genbliks an; bald redet er, bald hoͤrt er zu. Die Handlung reißt ihn mit fort, da der Redner ſeines Vortrages Meiſter ſeyn muß. Der Schauſpieler ſtellt einen fuͤr alles, was auf der Buͤhne vorgeht, unvorbereiteten Menſchen vor, der ploͤtzlich, bald angenehm, bald unangenehm geruͤhrt wird: ſeine Gebehrden muͤſſen eben die Abwechslungen und die Vermiſchung des Guten und Boͤſen, ſo wie ſie im Leben vorkoͤmmt, ausdruͤken. Er muß in einem Augenblik ſauer oder verdrießlich, und wieder ver- gnuͤgt ausſehen. Alſo ſind die Gebehrden bey ihm weit ſchnellern Abwechslungen und weit lebhaftern Bewegungen unterworfen, als bey dem Redner. Deßwegen will Cicero auch nicht, daß der Redner die (†) Omnes autem hos motus ſubſequi debet geſtus, non hic verba exprimens, ſcenicus, ſed univerſam rem et ſeu- tentiam, non demonſtratione, ſed ſignificatione declarans. Cic. in Bruto. L. III. H h h 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/441>, abgerufen am 22.11.2024.