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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Gan
ger ist es zu begreifen, wie griechische Baumei-
ster dorische Säulen ohne Fuß haben setzen kön-
(*) S.
Dorische
Säule.
nen. (*) Vielleicht hat dieses Gefühl auch die
Verjüngung der Säulenstämme hervorgebracht.
Denn sie scheinet doch die Empfindung des obern
Endes der Säule zu erweken. Gewisser aber sind
der Ober- und Unter-Saum des Säulenstammes,
der Ablauf und Anlauf an demselben daher ent-
standen; denn sie sind offenbar die beyden Enden
des Stammes.

Bey einem ganzen Gebäude empfindet jederman,
wie wichtig die beyden Hauptenden, der Fuß des
Gebäudes und das Gebälke seyen. Jeder verstän-
dige Baumeister wird diesen Theilen ein Verhältnis
zu geben suchen, die dem Ganzen wol angemessen
ist, daß das Aug an diesen beyden Enden die Ruhe
finde. Auf der andern Seite wird er auch jeden ein-
zeln Theil des Gebäudes, er sey groß oder klein,
so zu machen suchen, daß er weder als ein unab-
hängliches Ganzes hervorstehe, noch als ein un-
vollendetes Stük ohne Anfang und End erscheine.
Darin besteht ein vornehmer Theil des richtigen
und guten Geschmaks.

Jn der Mahlerey sind ebenfalls besondere Ver-
anstaltungen nöthig, dem Jnhalt des Gemähldes
seine völlige Begränzung zu geben. Daß alles, was
würklich zum Jnhalt gehöret, in eine einzige Haupt-
masse vereiniget werde, ist hiezu noch nicht hinläng-
lich; das Aug muß empfinden, daß dieser Masse
nichts fehlet. Darum erfüllet sie nicht den ganzen
Grund, oder die ganze Tafel des Gemähldes, damit
ringsherum noch Sachen angebracht werden kön-
nen, die ausser dem Jnhalt liegen, und uns empfin-
den machen, daß der Hauptmasse nichts fehlet.
Dieses ist die Ursache, warum meistentheils auf dem
Vorgrund, und oft auch an den Seiten, fremde und
eigentlich ausser dem Jnhalt des Gemähldes liegende
Sachen gesetzt werden. Sie bewürken offenbar das
Gefühl, daß wir die Vorstellung ganz sehen, da sie
ringsherum von den umstehenden Sachen abge-
lößt ist. Darum werden auch diese fremden und
zur Absönderung der Hauptmasse dienenden Dinge
meistentheils nur halb vorgestellt. Ob nun gleich
die Mahler dieses nicht allemal beobachten, so fin-
det man doch, daß die Gemählde, wo diese Ablösung
des Jnhalts von umstehenden Dingen beobachtet
wird, etwas haben, wodurch sie mehr gefallen als
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Jm Gan
andre, da dieses versäumt wird. Niemand ist hierin
sorgfältiger, als die Landschaftmahler. Sie haben
es aber auch am meisten nöthig, um ein Stük Lan-
des als ein Ganzes, und nicht als ein bloßes Stük
sehen zu lassen.

Auch die Form der Hauptmasse im Gemählde
kann hierzu viel beytragen. Es ist schon anderswo
erinnert worden (*), daß für die Hauptmasse die py-(*) Art.
Einheit.

ramidal Form die beste sey. Jhr Vorzug vor an-
dern kömmt blos daher, weil Anfang und Ende da-
ran am deutlichsten zu bemerken sind.

So hat jede Kunst ihre besondern Veranstaltun-
gen, um das, was sie vorstellt, als etwas Ganzes
und nicht blos als ein Stük einer andern Sache er-
scheinen zu machen.

Jm Ganzen.
(Schöne Künste.)

Einen Gegenstand im Ganzen betrachten heißt so
viel, als auf die Würkung Achtung geben, den alle
Theile zugleich, in so fern sie nur Eines ausmachen,
auf uns thun. Man betrachtet ein Gebäude im
Ganzen, indem man auf seine Form und Größe
und auf seinen Charakter Achtung giebt, ohne auf
irgend einen besondern Theil desselben Acht zu haben.
Ein Gemähld wird im Ganzen betrachtet, wenn die
Aufmerksamkeit überhaupt auf die Empfindung ge-
richtet wird, die von der Vereinigung aller Gegen-
stände herkömmt, es sey in Absicht auf den Geist
desselben, oder blos in Absicht auf die Harmonie
der Farben, oder der Haltung, oder des Hellen und
Dunkeln. Es geht auch so gar in solchen Werken,
die man nicht auf einmal, sondern nach und nach
empfindet, wie die Werke redender Künste, doch an,
sie im Ganzen zu betrachten. Solche Werke müssen,
wenn sie vollkommen sind, gleich im Anfang ihren
Charakter empfinden machen. Wenn man nun
währendem Vortrag jedes Einzele in Rüksicht auf
das Ganze, von dem man gleich anfangs sich einen
Begriff gemacht hat, beurtheilet, so sieht man im-
mer auf das Ganze. So wie z. B. ein Tonstük,
es sey Symphonie, Concert oder Arie, anfängt,
so muß gleich alles dahin abzielen, den Charakter
des ganzen Stüks zu bestimmen, und so sollte es
auch in jeder Rede seyn. Wenn man nun im Verfolg
jedes Einzele nicht für sich, und nicht von dem Gan-

zen

[Spaltenumbruch]

Gan
ger iſt es zu begreifen, wie griechiſche Baumei-
ſter doriſche Saͤulen ohne Fuß haben ſetzen koͤn-
(*) S.
Doriſche
Saͤule.
nen. (*) Vielleicht hat dieſes Gefuͤhl auch die
Verjuͤngung der Saͤulenſtaͤmme hervorgebracht.
Denn ſie ſcheinet doch die Empfindung des obern
Endes der Saͤule zu erweken. Gewiſſer aber ſind
der Ober- und Unter-Saum des Saͤulenſtammes,
der Ablauf und Anlauf an demſelben daher ent-
ſtanden; denn ſie ſind offenbar die beyden Enden
des Stammes.

Bey einem ganzen Gebaͤude empfindet jederman,
wie wichtig die beyden Hauptenden, der Fuß des
Gebaͤudes und das Gebaͤlke ſeyen. Jeder verſtaͤn-
dige Baumeiſter wird dieſen Theilen ein Verhaͤltnis
zu geben ſuchen, die dem Ganzen wol angemeſſen
iſt, daß das Aug an dieſen beyden Enden die Ruhe
finde. Auf der andern Seite wird er auch jeden ein-
zeln Theil des Gebaͤudes, er ſey groß oder klein,
ſo zu machen ſuchen, daß er weder als ein unab-
haͤngliches Ganzes hervorſtehe, noch als ein un-
vollendetes Stuͤk ohne Anfang und End erſcheine.
Darin beſteht ein vornehmer Theil des richtigen
und guten Geſchmaks.

Jn der Mahlerey ſind ebenfalls beſondere Ver-
anſtaltungen noͤthig, dem Jnhalt des Gemaͤhldes
ſeine voͤllige Begraͤnzung zu geben. Daß alles, was
wuͤrklich zum Jnhalt gehoͤret, in eine einzige Haupt-
maſſe vereiniget werde, iſt hiezu noch nicht hinlaͤng-
lich; das Aug muß empfinden, daß dieſer Maſſe
nichts fehlet. Darum erfuͤllet ſie nicht den ganzen
Grund, oder die ganze Tafel des Gemaͤhldes, damit
ringsherum noch Sachen angebracht werden koͤn-
nen, die auſſer dem Jnhalt liegen, und uns empfin-
den machen, daß der Hauptmaſſe nichts fehlet.
Dieſes iſt die Urſache, warum meiſtentheils auf dem
Vorgrund, und oft auch an den Seiten, fremde und
eigentlich auſſer dem Jnhalt des Gemaͤhldes liegende
Sachen geſetzt werden. Sie bewuͤrken offenbar das
Gefuͤhl, daß wir die Vorſtellung ganz ſehen, da ſie
ringsherum von den umſtehenden Sachen abge-
loͤßt iſt. Darum werden auch dieſe fremden und
zur Abſoͤnderung der Hauptmaſſe dienenden Dinge
meiſtentheils nur halb vorgeſtellt. Ob nun gleich
die Mahler dieſes nicht allemal beobachten, ſo fin-
det man doch, daß die Gemaͤhlde, wo dieſe Abloͤſung
des Jnhalts von umſtehenden Dingen beobachtet
wird, etwas haben, wodurch ſie mehr gefallen als
[Spaltenumbruch]

Jm Gan
andre, da dieſes verſaͤumt wird. Niemand iſt hierin
ſorgfaͤltiger, als die Landſchaftmahler. Sie haben
es aber auch am meiſten noͤthig, um ein Stuͤk Lan-
des als ein Ganzes, und nicht als ein bloßes Stuͤk
ſehen zu laſſen.

Auch die Form der Hauptmaſſe im Gemaͤhlde
kann hierzu viel beytragen. Es iſt ſchon anderswo
erinnert worden (*), daß fuͤr die Hauptmaſſe die py-(*) Art.
Einheit.

ramidal Form die beſte ſey. Jhr Vorzug vor an-
dern koͤmmt blos daher, weil Anfang und Ende da-
ran am deutlichſten zu bemerken ſind.

So hat jede Kunſt ihre beſondern Veranſtaltun-
gen, um das, was ſie vorſtellt, als etwas Ganzes
und nicht blos als ein Stuͤk einer andern Sache er-
ſcheinen zu machen.

Jm Ganzen.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Einen Gegenſtand im Ganzen betrachten heißt ſo
viel, als auf die Wuͤrkung Achtung geben, den alle
Theile zugleich, in ſo fern ſie nur Eines ausmachen,
auf uns thun. Man betrachtet ein Gebaͤude im
Ganzen, indem man auf ſeine Form und Groͤße
und auf ſeinen Charakter Achtung giebt, ohne auf
irgend einen beſondern Theil deſſelben Acht zu haben.
Ein Gemaͤhld wird im Ganzen betrachtet, wenn die
Aufmerkſamkeit uͤberhaupt auf die Empfindung ge-
richtet wird, die von der Vereinigung aller Gegen-
ſtaͤnde herkoͤmmt, es ſey in Abſicht auf den Geiſt
deſſelben, oder blos in Abſicht auf die Harmonie
der Farben, oder der Haltung, oder des Hellen und
Dunkeln. Es geht auch ſo gar in ſolchen Werken,
die man nicht auf einmal, ſondern nach und nach
empfindet, wie die Werke redender Kuͤnſte, doch an,
ſie im Ganzen zu betrachten. Solche Werke muͤſſen,
wenn ſie vollkommen ſind, gleich im Anfang ihren
Charakter empfinden machen. Wenn man nun
waͤhrendem Vortrag jedes Einzele in Ruͤkſicht auf
das Ganze, von dem man gleich anfangs ſich einen
Begriff gemacht hat, beurtheilet, ſo ſieht man im-
mer auf das Ganze. So wie z. B. ein Tonſtuͤk,
es ſey Symphonie, Concert oder Arie, anfaͤngt,
ſo muß gleich alles dahin abzielen, den Charakter
des ganzen Stuͤks zu beſtimmen, und ſo ſollte es
auch in jeder Rede ſeyn. Wenn man nun im Verfolg
jedes Einzele nicht fuͤr ſich, und nicht von dem Gan-

zen
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[420/0432] Gan Jm Gan ger iſt es zu begreifen, wie griechiſche Baumei- ſter doriſche Saͤulen ohne Fuß haben ſetzen koͤn- nen. (*) Vielleicht hat dieſes Gefuͤhl auch die Verjuͤngung der Saͤulenſtaͤmme hervorgebracht. Denn ſie ſcheinet doch die Empfindung des obern Endes der Saͤule zu erweken. Gewiſſer aber ſind der Ober- und Unter-Saum des Saͤulenſtammes, der Ablauf und Anlauf an demſelben daher ent- ſtanden; denn ſie ſind offenbar die beyden Enden des Stammes. (*) S. Doriſche Saͤule. Bey einem ganzen Gebaͤude empfindet jederman, wie wichtig die beyden Hauptenden, der Fuß des Gebaͤudes und das Gebaͤlke ſeyen. Jeder verſtaͤn- dige Baumeiſter wird dieſen Theilen ein Verhaͤltnis zu geben ſuchen, die dem Ganzen wol angemeſſen iſt, daß das Aug an dieſen beyden Enden die Ruhe finde. Auf der andern Seite wird er auch jeden ein- zeln Theil des Gebaͤudes, er ſey groß oder klein, ſo zu machen ſuchen, daß er weder als ein unab- haͤngliches Ganzes hervorſtehe, noch als ein un- vollendetes Stuͤk ohne Anfang und End erſcheine. Darin beſteht ein vornehmer Theil des richtigen und guten Geſchmaks. Jn der Mahlerey ſind ebenfalls beſondere Ver- anſtaltungen noͤthig, dem Jnhalt des Gemaͤhldes ſeine voͤllige Begraͤnzung zu geben. Daß alles, was wuͤrklich zum Jnhalt gehoͤret, in eine einzige Haupt- maſſe vereiniget werde, iſt hiezu noch nicht hinlaͤng- lich; das Aug muß empfinden, daß dieſer Maſſe nichts fehlet. Darum erfuͤllet ſie nicht den ganzen Grund, oder die ganze Tafel des Gemaͤhldes, damit ringsherum noch Sachen angebracht werden koͤn- nen, die auſſer dem Jnhalt liegen, und uns empfin- den machen, daß der Hauptmaſſe nichts fehlet. Dieſes iſt die Urſache, warum meiſtentheils auf dem Vorgrund, und oft auch an den Seiten, fremde und eigentlich auſſer dem Jnhalt des Gemaͤhldes liegende Sachen geſetzt werden. Sie bewuͤrken offenbar das Gefuͤhl, daß wir die Vorſtellung ganz ſehen, da ſie ringsherum von den umſtehenden Sachen abge- loͤßt iſt. Darum werden auch dieſe fremden und zur Abſoͤnderung der Hauptmaſſe dienenden Dinge meiſtentheils nur halb vorgeſtellt. Ob nun gleich die Mahler dieſes nicht allemal beobachten, ſo fin- det man doch, daß die Gemaͤhlde, wo dieſe Abloͤſung des Jnhalts von umſtehenden Dingen beobachtet wird, etwas haben, wodurch ſie mehr gefallen als andre, da dieſes verſaͤumt wird. Niemand iſt hierin ſorgfaͤltiger, als die Landſchaftmahler. Sie haben es aber auch am meiſten noͤthig, um ein Stuͤk Lan- des als ein Ganzes, und nicht als ein bloßes Stuͤk ſehen zu laſſen. Auch die Form der Hauptmaſſe im Gemaͤhlde kann hierzu viel beytragen. Es iſt ſchon anderswo erinnert worden (*), daß fuͤr die Hauptmaſſe die py- ramidal Form die beſte ſey. Jhr Vorzug vor an- dern koͤmmt blos daher, weil Anfang und Ende da- ran am deutlichſten zu bemerken ſind. (*) Art. Einheit. So hat jede Kunſt ihre beſondern Veranſtaltun- gen, um das, was ſie vorſtellt, als etwas Ganzes und nicht blos als ein Stuͤk einer andern Sache er- ſcheinen zu machen. Jm Ganzen. (Schoͤne Kuͤnſte.) Einen Gegenſtand im Ganzen betrachten heißt ſo viel, als auf die Wuͤrkung Achtung geben, den alle Theile zugleich, in ſo fern ſie nur Eines ausmachen, auf uns thun. Man betrachtet ein Gebaͤude im Ganzen, indem man auf ſeine Form und Groͤße und auf ſeinen Charakter Achtung giebt, ohne auf irgend einen beſondern Theil deſſelben Acht zu haben. Ein Gemaͤhld wird im Ganzen betrachtet, wenn die Aufmerkſamkeit uͤberhaupt auf die Empfindung ge- richtet wird, die von der Vereinigung aller Gegen- ſtaͤnde herkoͤmmt, es ſey in Abſicht auf den Geiſt deſſelben, oder blos in Abſicht auf die Harmonie der Farben, oder der Haltung, oder des Hellen und Dunkeln. Es geht auch ſo gar in ſolchen Werken, die man nicht auf einmal, ſondern nach und nach empfindet, wie die Werke redender Kuͤnſte, doch an, ſie im Ganzen zu betrachten. Solche Werke muͤſſen, wenn ſie vollkommen ſind, gleich im Anfang ihren Charakter empfinden machen. Wenn man nun waͤhrendem Vortrag jedes Einzele in Ruͤkſicht auf das Ganze, von dem man gleich anfangs ſich einen Begriff gemacht hat, beurtheilet, ſo ſieht man im- mer auf das Ganze. So wie z. B. ein Tonſtuͤk, es ſey Symphonie, Concert oder Arie, anfaͤngt, ſo muß gleich alles dahin abzielen, den Charakter des ganzen Stuͤks zu beſtimmen, und ſo ſollte es auch in jeder Rede ſeyn. Wenn man nun im Verfolg jedes Einzele nicht fuͤr ſich, und nicht von dem Gan- zen

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/432>, abgerufen am 25.11.2024.