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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Gan
völlig begränzt oder einschließt, so daß alles, was
man hinzusetzen wollte, ausser dem Raum läge, hin-
gegen jeder von dem Umriß weggenommene Theil
so gleich einen Mangel anzeigen würde. Eine gerade
Linie hingegen ist nichts Ganzes; man kann sie nach
Belieben verlängern oder verkürzen, das ist, Theile
hinzusetzen und davon nehmen, ohne den Begriff
des Ueberflusses oder des Mangels zu erweken: sie
ist kein Ganzes, weil ihre Schranken nicht be-
stimmt sind.

Hieraus läßt sich abnehmen, daß zweyerley Be-
dingungen erfodert werden, um einen Gegenstand zu
einem Ganzen zu machen, nämlich: eine ununter-
brochene Verbindung der Theile, und eine völlige
Begränzung des Gegenstandes. Durch die Ver-
bindung werden die Theile in einen Gegenstand zu-
sammengefaßt, und durch die völlige Beschränkung
wird dieser Gegenstand Ganz. Verschiedene neben
einander gesetzte Punkte erscheinen nicht als Ein
Gegenstand; so bald man aber durch alle Punkte
eine Linie zieht, und sie dadurch verbindet oder zu-
sammenhängt, so machen sie nun eine Linie, oder
einen Weg aus; itzt sind sie Eines, aber darum
kein Ganzes. Jst aber nun diese Linie am Anfang
und Ende begränzt, so wird sie zu einem Ganzen.
Folgende lateinische Buchstaben A, T, I, werden
in der Runischen Schrift so bezeichnet, #, #, #.
Keiner dieser leztern Buchstaben ist ein Ganzes, weil
die Striche keine Begränzung, das ist, weder Anfang
noch End haben; man kann jeden verlängern oder
verkürzen, ohne das geringste in seiner Art zu än-
dern. Dieses kann man mit keinem der lateinischen
Buchstaben thun, weil jeder Strich darin seine Be-
gränzung hat. Darum sieht man, daß sie ganz
sind, welches man an den Runischen nicht sieht.

(*) Rhe-
tor. L. III.
c.
8.

Aristoteles hat schon angemerkt, (*) daß das Un-
beschränkte nicht angenehm, ja so gar nicht begreif-
lich sey. Der Grund ist offenbar; denn der Man-
gel der Begränzung hindert uns, einen bestimmten
Begriff von der Sache zu haben; wir können nicht
wissen, was sie seyn soll. Da wir also auch nicht
urtheilen können, ob sie das ist, was sie seyn soll,
so kann sie auch nicht gefallen. Und hieraus erhellet,
daß jedes Werk der Kunst ein wahres Ganzes seyn
müsse, weil es sonst nicht gefallen könnte. Darum
gehört die Betrachtung derjenigen Eigenschaften der
Gegenstände, wodurch sie zum Ganzen werden, in
die Theorie der Künste.

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Gan

Wir wollen also die schon entwikelten allgemei-
nen Begriffe nun auf die Werke der Kunst anwen-
den. Es gehören zwey Eigenschaften dazu, daß
ein Werk der Kunst ein Ganzes werde; Verbindung
oder Vereinigung der Theile, und völlige Beschrän-
kung; aus jener entsteht die Einheit, die schon an
einem andern Ort in Betrachtung gezogen wor-
den (*); aus dieser die Vollständigkeit. Ein Gegen-S. S.
Einheit.

stand bekömmt seine eigene Beschränkung, wodurch
er als etwas für sich bestehendes angesehen, und
nicht blos für einen Theil von etwas andern ge-
halten wird, auf zweyerley Weise. Erstlich da-
durch, daß er ausser aller Verbindung mit andern
Dingen gesezt wird; und hernach, daß er seine
merkliche oder sichtbare Begränzung hat.

Jm strengen philosophischen Sinn macht nur die
Welt ein wahres Ganzes; jedes in der Welt vor-
handene Einzele aber, ist ein Theil, der für sich nicht
bestehen, auch nicht einmal erkennt werden kann.
Aber ein so metaphysisches Ganzes därf ein Werk
der Kunst nicht seyn. Die Gegenstände werden da
nie in allen ihren metaphysischen Verhältnissen und
Verbindungen, sondern allemal nur aus einem ein-
zigen Gesichtspunkte betrachtet: also ist es genug,
daß sie in Rüksicht auf denselben ein Ganzes seyen.
Wenn man also nur für den besondern Gesichts-
punkt, aus welchem ein Gegenstand angesehen wird,
ausser ihm zu völliger Kenntnis der Sache nichts
nöthig hat; wenn gar alles vorhanden ist, was zur
besondern Absicht des Künstlers dienet, so ist sein
Gegenstand hinlänglich von der Masse der in der
Welt vorhandenen Dinge abgerissen, um für sich ein
Ganzes auszumachen.

Man kann die Aufmerksamkeit so stark auf einen
Theil richten, daß man das Ganze, dem er zugehö-
ret, kaum gewahr wird. So geschieht es, daß in
einer Reyhe von Regenten ein vorzüglich großer
Fürst sich so sehr ausnihmt, daß man seine Vor-
gänger und Nachfolger aus dem Gesichte verliert.
Wenn also der Künstler seinen Gegenstand intres-
sant zu machen, und unsre Aufmerksamkeit ganz auf
ihn zu lenken weis, so löset er ihn dadurch von dem
Ganzen, dem er zugehört, ab, und kann ihn selbst
leicht zu einem Ganzen machen.

Die Geschichte der Aufopferung der Jphigenia
ist ein Theil der Geschichte des trojanischen Krieges;
dieser ist ein Theil der Geschichte der alten Griechen
und Asiater, die wieder ein Theil der allgemeinen

Ge-
Erster Theil. G g g

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Gan
voͤllig begraͤnzt oder einſchließt, ſo daß alles, was
man hinzuſetzen wollte, auſſer dem Raum laͤge, hin-
gegen jeder von dem Umriß weggenommene Theil
ſo gleich einen Mangel anzeigen wuͤrde. Eine gerade
Linie hingegen iſt nichts Ganzes; man kann ſie nach
Belieben verlaͤngern oder verkuͤrzen, das iſt, Theile
hinzuſetzen und davon nehmen, ohne den Begriff
des Ueberfluſſes oder des Mangels zu erweken: ſie
iſt kein Ganzes, weil ihre Schranken nicht be-
ſtimmt ſind.

Hieraus laͤßt ſich abnehmen, daß zweyerley Be-
dingungen erfodert werden, um einen Gegenſtand zu
einem Ganzen zu machen, naͤmlich: eine ununter-
brochene Verbindung der Theile, und eine voͤllige
Begraͤnzung des Gegenſtandes. Durch die Ver-
bindung werden die Theile in einen Gegenſtand zu-
ſammengefaßt, und durch die voͤllige Beſchraͤnkung
wird dieſer Gegenſtand Ganz. Verſchiedene neben
einander geſetzte Punkte erſcheinen nicht als Ein
Gegenſtand; ſo bald man aber durch alle Punkte
eine Linie zieht, und ſie dadurch verbindet oder zu-
ſammenhaͤngt, ſo machen ſie nun eine Linie, oder
einen Weg aus; itzt ſind ſie Eines, aber darum
kein Ganzes. Jſt aber nun dieſe Linie am Anfang
und Ende begraͤnzt, ſo wird ſie zu einem Ganzen.
Folgende lateiniſche Buchſtaben A, T, I, werden
in der Runiſchen Schrift ſo bezeichnet, #, #, #.
Keiner dieſer leztern Buchſtaben iſt ein Ganzes, weil
die Striche keine Begraͤnzung, das iſt, weder Anfang
noch End haben; man kann jeden verlaͤngern oder
verkuͤrzen, ohne das geringſte in ſeiner Art zu aͤn-
dern. Dieſes kann man mit keinem der lateiniſchen
Buchſtaben thun, weil jeder Strich darin ſeine Be-
graͤnzung hat. Darum ſieht man, daß ſie ganz
ſind, welches man an den Runiſchen nicht ſieht.

(*) Rhe-
tor. L. III.
c.
8.

Ariſtoteles hat ſchon angemerkt, (*) daß das Un-
beſchraͤnkte nicht angenehm, ja ſo gar nicht begreif-
lich ſey. Der Grund iſt offenbar; denn der Man-
gel der Begraͤnzung hindert uns, einen beſtimmten
Begriff von der Sache zu haben; wir koͤnnen nicht
wiſſen, was ſie ſeyn ſoll. Da wir alſo auch nicht
urtheilen koͤnnen, ob ſie das iſt, was ſie ſeyn ſoll,
ſo kann ſie auch nicht gefallen. Und hieraus erhellet,
daß jedes Werk der Kunſt ein wahres Ganzes ſeyn
muͤſſe, weil es ſonſt nicht gefallen koͤnnte. Darum
gehoͤrt die Betrachtung derjenigen Eigenſchaften der
Gegenſtaͤnde, wodurch ſie zum Ganzen werden, in
die Theorie der Kuͤnſte.

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Gan

Wir wollen alſo die ſchon entwikelten allgemei-
nen Begriffe nun auf die Werke der Kunſt anwen-
den. Es gehoͤren zwey Eigenſchaften dazu, daß
ein Werk der Kunſt ein Ganzes werde; Verbindung
oder Vereinigung der Theile, und voͤllige Beſchraͤn-
kung; aus jener entſteht die Einheit, die ſchon an
einem andern Ort in Betrachtung gezogen wor-
den (*); aus dieſer die Vollſtaͤndigkeit. Ein Gegen-S. S.
Einheit.

ſtand bekoͤmmt ſeine eigene Beſchraͤnkung, wodurch
er als etwas fuͤr ſich beſtehendes angeſehen, und
nicht blos fuͤr einen Theil von etwas andern ge-
halten wird, auf zweyerley Weiſe. Erſtlich da-
durch, daß er auſſer aller Verbindung mit andern
Dingen geſezt wird; und hernach, daß er ſeine
merkliche oder ſichtbare Begraͤnzung hat.

Jm ſtrengen philoſophiſchen Sinn macht nur die
Welt ein wahres Ganzes; jedes in der Welt vor-
handene Einzele aber, iſt ein Theil, der fuͤr ſich nicht
beſtehen, auch nicht einmal erkennt werden kann.
Aber ein ſo metaphyſiſches Ganzes daͤrf ein Werk
der Kunſt nicht ſeyn. Die Gegenſtaͤnde werden da
nie in allen ihren metaphyſiſchen Verhaͤltniſſen und
Verbindungen, ſondern allemal nur aus einem ein-
zigen Geſichtspunkte betrachtet: alſo iſt es genug,
daß ſie in Ruͤkſicht auf denſelben ein Ganzes ſeyen.
Wenn man alſo nur fuͤr den beſondern Geſichts-
punkt, aus welchem ein Gegenſtand angeſehen wird,
auſſer ihm zu voͤlliger Kenntnis der Sache nichts
noͤthig hat; wenn gar alles vorhanden iſt, was zur
beſondern Abſicht des Kuͤnſtlers dienet, ſo iſt ſein
Gegenſtand hinlaͤnglich von der Maſſe der in der
Welt vorhandenen Dinge abgeriſſen, um fuͤr ſich ein
Ganzes auszumachen.

Man kann die Aufmerkſamkeit ſo ſtark auf einen
Theil richten, daß man das Ganze, dem er zugehoͤ-
ret, kaum gewahr wird. So geſchieht es, daß in
einer Reyhe von Regenten ein vorzuͤglich großer
Fuͤrſt ſich ſo ſehr ausnihmt, daß man ſeine Vor-
gaͤnger und Nachfolger aus dem Geſichte verliert.
Wenn alſo der Kuͤnſtler ſeinen Gegenſtand intreſ-
ſant zu machen, und unſre Aufmerkſamkeit ganz auf
ihn zu lenken weis, ſo loͤſet er ihn dadurch von dem
Ganzen, dem er zugehoͤrt, ab, und kann ihn ſelbſt
leicht zu einem Ganzen machen.

Die Geſchichte der Aufopferung der Jphigenia
iſt ein Theil der Geſchichte des trojaniſchen Krieges;
dieſer iſt ein Theil der Geſchichte der alten Griechen
und Aſiater, die wieder ein Theil der allgemeinen

Ge-
Erſter Theil. G g g
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[417/0429] Gan Gan voͤllig begraͤnzt oder einſchließt, ſo daß alles, was man hinzuſetzen wollte, auſſer dem Raum laͤge, hin- gegen jeder von dem Umriß weggenommene Theil ſo gleich einen Mangel anzeigen wuͤrde. Eine gerade Linie hingegen iſt nichts Ganzes; man kann ſie nach Belieben verlaͤngern oder verkuͤrzen, das iſt, Theile hinzuſetzen und davon nehmen, ohne den Begriff des Ueberfluſſes oder des Mangels zu erweken: ſie iſt kein Ganzes, weil ihre Schranken nicht be- ſtimmt ſind. Hieraus laͤßt ſich abnehmen, daß zweyerley Be- dingungen erfodert werden, um einen Gegenſtand zu einem Ganzen zu machen, naͤmlich: eine ununter- brochene Verbindung der Theile, und eine voͤllige Begraͤnzung des Gegenſtandes. Durch die Ver- bindung werden die Theile in einen Gegenſtand zu- ſammengefaßt, und durch die voͤllige Beſchraͤnkung wird dieſer Gegenſtand Ganz. Verſchiedene neben einander geſetzte Punkte erſcheinen nicht als Ein Gegenſtand; ſo bald man aber durch alle Punkte eine Linie zieht, und ſie dadurch verbindet oder zu- ſammenhaͤngt, ſo machen ſie nun eine Linie, oder einen Weg aus; itzt ſind ſie Eines, aber darum kein Ganzes. Jſt aber nun dieſe Linie am Anfang und Ende begraͤnzt, ſo wird ſie zu einem Ganzen. Folgende lateiniſche Buchſtaben A, T, I, werden in der Runiſchen Schrift ſo bezeichnet, #, #, #. Keiner dieſer leztern Buchſtaben iſt ein Ganzes, weil die Striche keine Begraͤnzung, das iſt, weder Anfang noch End haben; man kann jeden verlaͤngern oder verkuͤrzen, ohne das geringſte in ſeiner Art zu aͤn- dern. Dieſes kann man mit keinem der lateiniſchen Buchſtaben thun, weil jeder Strich darin ſeine Be- graͤnzung hat. Darum ſieht man, daß ſie ganz ſind, welches man an den Runiſchen nicht ſieht. Ariſtoteles hat ſchon angemerkt, (*) daß das Un- beſchraͤnkte nicht angenehm, ja ſo gar nicht begreif- lich ſey. Der Grund iſt offenbar; denn der Man- gel der Begraͤnzung hindert uns, einen beſtimmten Begriff von der Sache zu haben; wir koͤnnen nicht wiſſen, was ſie ſeyn ſoll. Da wir alſo auch nicht urtheilen koͤnnen, ob ſie das iſt, was ſie ſeyn ſoll, ſo kann ſie auch nicht gefallen. Und hieraus erhellet, daß jedes Werk der Kunſt ein wahres Ganzes ſeyn muͤſſe, weil es ſonſt nicht gefallen koͤnnte. Darum gehoͤrt die Betrachtung derjenigen Eigenſchaften der Gegenſtaͤnde, wodurch ſie zum Ganzen werden, in die Theorie der Kuͤnſte. Wir wollen alſo die ſchon entwikelten allgemei- nen Begriffe nun auf die Werke der Kunſt anwen- den. Es gehoͤren zwey Eigenſchaften dazu, daß ein Werk der Kunſt ein Ganzes werde; Verbindung oder Vereinigung der Theile, und voͤllige Beſchraͤn- kung; aus jener entſteht die Einheit, die ſchon an einem andern Ort in Betrachtung gezogen wor- den (*); aus dieſer die Vollſtaͤndigkeit. Ein Gegen- ſtand bekoͤmmt ſeine eigene Beſchraͤnkung, wodurch er als etwas fuͤr ſich beſtehendes angeſehen, und nicht blos fuͤr einen Theil von etwas andern ge- halten wird, auf zweyerley Weiſe. Erſtlich da- durch, daß er auſſer aller Verbindung mit andern Dingen geſezt wird; und hernach, daß er ſeine merkliche oder ſichtbare Begraͤnzung hat. S. S. Einheit. Jm ſtrengen philoſophiſchen Sinn macht nur die Welt ein wahres Ganzes; jedes in der Welt vor- handene Einzele aber, iſt ein Theil, der fuͤr ſich nicht beſtehen, auch nicht einmal erkennt werden kann. Aber ein ſo metaphyſiſches Ganzes daͤrf ein Werk der Kunſt nicht ſeyn. Die Gegenſtaͤnde werden da nie in allen ihren metaphyſiſchen Verhaͤltniſſen und Verbindungen, ſondern allemal nur aus einem ein- zigen Geſichtspunkte betrachtet: alſo iſt es genug, daß ſie in Ruͤkſicht auf denſelben ein Ganzes ſeyen. Wenn man alſo nur fuͤr den beſondern Geſichts- punkt, aus welchem ein Gegenſtand angeſehen wird, auſſer ihm zu voͤlliger Kenntnis der Sache nichts noͤthig hat; wenn gar alles vorhanden iſt, was zur beſondern Abſicht des Kuͤnſtlers dienet, ſo iſt ſein Gegenſtand hinlaͤnglich von der Maſſe der in der Welt vorhandenen Dinge abgeriſſen, um fuͤr ſich ein Ganzes auszumachen. Man kann die Aufmerkſamkeit ſo ſtark auf einen Theil richten, daß man das Ganze, dem er zugehoͤ- ret, kaum gewahr wird. So geſchieht es, daß in einer Reyhe von Regenten ein vorzuͤglich großer Fuͤrſt ſich ſo ſehr ausnihmt, daß man ſeine Vor- gaͤnger und Nachfolger aus dem Geſichte verliert. Wenn alſo der Kuͤnſtler ſeinen Gegenſtand intreſ- ſant zu machen, und unſre Aufmerkſamkeit ganz auf ihn zu lenken weis, ſo loͤſet er ihn dadurch von dem Ganzen, dem er zugehoͤrt, ab, und kann ihn ſelbſt leicht zu einem Ganzen machen. Die Geſchichte der Aufopferung der Jphigenia iſt ein Theil der Geſchichte des trojaniſchen Krieges; dieſer iſt ein Theil der Geſchichte der alten Griechen und Aſiater, die wieder ein Theil der allgemeinen Ge- Erſter Theil. G g g

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 417. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/429>, abgerufen am 22.11.2024.